Unterwegs mit einem echten Nightcrawler

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Unterwegs mit einem echten Nightcrawler

Grausame Unfälle, lange Arbeitszeiten und kaum Schlaf—es gibt nur wenige Fotojournalisten, die sich das freiwillig antun. Victor Biro ist einer von ihnen.

Victor Biro | Alle Fotos: Jake Kivanc

Ein heftiger Regenschauer prasselt auf die Windschutzscheibe von Victor Biros altem Minivan nieder. Wir befinden uns auf einem Parkplatz im Süden Torontos. Die in der Ferne leuchtenden LED-Reklamen tauchen die herunterlaufenden Wassertropfen in verschiedene Farben, während der Notruf- und Feuerwehrfunk-Scanner unsere Unterhaltung immer wieder unterbricht.

„Bin am Unfallort angekommen. Eine Frau ist da", meint ein Sanitäter über Funk. „Keine Lebenszeichen."

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Biro schnallt sich an und dreht den Zündschlüssel um. „Könnte was sein, könnte aber auch nichts sein. Das weiß man nie."

Biro ist das, was viele Leute als „Nightcrawler" bezeichnen—ein Fotojournalist, der nach Einbruch der Dunkelheit durch die Stadt fährt und dabei dem Funkgerede der Ersthelfer lauscht. Das alles macht er, um so schnell wie möglich bei Tat- und Unfallorten zugegen zu sein und die dort geschossenen Fotos an Nachrichtenportale verkaufen zu können. Laut ihm gibt der Spitzname seines Berufs, der durch den populären Film mit Jake Gyllenhaal berühmt gemacht wurde, gar nicht das wieder, was er eigentlich macht.

„Ich bin kein Soziopath. Für mich geht es hier nicht nur um irgendeine Art des Egoismus oder der Sensationsgier", erzählt er und schnippt dabei seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster. „Das hier sind Themen, die das gesellschaftliche Zusammenleben und die öffentliche Wahrnehmung beeinflussen. Natürlich gibt es auch Typen, die das Ganze nur für den Adrenalinrausch machen, aber den Großteil von uns treibt etwas Anderes an."

Biros Aufnahmen von Autounfällen, Verbrechensschauplätzen und anderen nächtlichen Zwischenfällen finden nun schon seit fünf Jahren ihren Weg auf die Titelseiten der großen Zeitungen und Nachrichtenportale von Toronto. Einige seiner Fotos zeigen dabei die Fahrzeugwracks von tödlichen Unfällen, andere wiederum nur das vom polizeilichen Blaulicht erleuchtete Absperrband.

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Bis 2008 war Biro noch in der Telekommunikationsbranche tätig. Trotz seiner langjährigen Liebe für Kameras hat er seine fotografische Leidenschaft erstmal hinten angestellt, nachdem er in die lukrative Verkaufswelt der Telekommunikation eingetaucht war. Dort verdiente er zwar gutes Geld—laut eigener Aussage im sechsstelligen Bereich—, aber letztendlich gab ihm der Job dann doch nichts.

„Das war nicht das, was ich machen wollte", erzählt er mir. „Ich hatte nicht das Gefühl, irgendetwas zu unserer Gesellschaft beizutragen. Spaß hatte ich außerdem auch keinen. Natürlich war das Geld schon eine schöne Sache, aber ich war mir selbst einfach nicht mehr treu."

Aufgrund seines Berufs in der Telekommunikationsbranche hatte sich Biro schon jahrelang mit Funkscannern beschäftigen müssen. Als er dann das erste Mal davon hörte, dass sich Fotojournalisten für die Verfolgung von Ersthelfern genau der Technik bedienen, mit der er schon so vertraut war, verspürte er den Drang, das Ganze selbst auszuprobieren. Nachdem er ein paar Monate lang zusammen mit seiner Kamera (an die er übrigens über das Schwarze Brett in seinem Büro kam) an verschiedenen Schauplätzen aufgetaucht war, begann Biro damit, sich mit anderen Nightcrawlern zu unterhalten und dadurch die Grundlagen der Jagd nach aktuellen Geschehnissen zu erlernen. Die Heftigkeit eines Unfalls durch die Dringlichkeit in der Stimme des Funkers zu erkennen oder nicht zu lange an einem nichts abwerfenden Schauplatz zu bleiben, sind nur ein paar der Dinge, die er sich bei den Profis abgeschaut hat. 2010 erfolgte dann der Schritt in die Vollzeit.

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Inzwischen ist Biro 50 Jahre alt und hat sich damit abgefunden, seinen gut bezahlten Bürojob mit Aussicht auf ein großes Haus und ein schönes Auto gegen die brutale Kunst des freiberuflichen Fotojournalismus mit langen Arbeitszeiten und schlechtem Gehalt eingetauscht zu haben. Im Durchschnitt verdient er pro Foto zwischen 50 und 200 Dollar, je nachdem welche und wie viele Nachrichtenagenturen das Foto in welcher Form veröffentlichen. Es gibt allerdings auch (viele) Nächte, in denen gar nichts passiert und somit auch keine Bilder verkauft werden.

„Mit dem Geld, das für das Benzin und meine ganze Ausrüstung draufgeht, komme ich jede Nacht so bei Null raus—es sei denn, ich ziehe einen richtig dicken Fisch an Land", erklärt er mir. „Das hier macht man aber auch nicht des Geldes wegen. Da wäre man ziemlich dumm."

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Biro holt mich gegen 22 Uhr ab. Normalerweise endet seine Nacht nicht vor 3 oder 4 Uhr, aber das kommt ganz darauf an, wie viel auf den Funkkanälen los ist. Während dieses Zeitraums hält er sich immer in den Teilen der Stadt auf, die er als günstig gelegen beschreibt. Dazu zählen Orte, wo entweder gefühlt immer etwas passiert oder die sich in der Nähe von städtischen Hauptverkehrsadern befinden. Dabei achtet er ständig auf seinen Funkscanner und hofft darauf, dass der etwas Interessantes ausspuckt.

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Manchmal kommt es vor, dass so stundenlang nichts zu tun ist, außer Kaffee zu trinken, Zigaretten zu rauchen und den Twitter-Account der Polizei von Toronto zu checken. Es kann jedoch auch sein, dass sich Biro in nur einer Nacht um zwei, drei oder gar vier Notrufe kümmern muss und so von einem Unfallort zum nächsten rast, um sich dort mit gut einem Dutzend anderer Journalisten und Kamerateams um die besten Aufnahmen zu streiten.

Als wir bereits ein Viertel des Weges zu dem oben erwähnten „Keine Lebenszeichen"-Fall hinter uns gebracht haben, entscheidet sich Biro dazu, das Ganze sein zu lassen. Aufgrund der wenigen Funksprüche und den fehlenden weiteren Details geht er davon aus, dass es sich wohl nur um eine Rückenverletzung oder einen Herzinfarkt handelt. Mit einem schnellen Schulterblick und dem Herumreißen des Steuers wendet Biro seinen Ford und wir machen uns wieder auf den Weg in die Innenstadt.

So etwas ist schon öfters passiert und wird sich auch in Zukunft nicht vermeiden lassen: falscher Alarm, Unfälle ohne tödlichen Ausgang und andere Dinge, die keine wirkliche Meldung wert sind, stellen für Biro keine lukrative Beute dar. Zwar würde er gerne alles fotografieren, aber letztendlich soll ja eine Geschichte erzählt werden.

„Man muss hier an den größeren Zusammenhang und eben auch an die Geschichte denken. Ich schreibe den Artikel zwar nicht, aber meine Bilder müssen ja irgendetwas begleiten. Wenn es dieses Irgendetwas nicht gibt, dann sind die Nachrichtenagenturen auch nicht interessiert."

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Im letzten Jahr hat sich für Biro ein neues Problem ergeben, nämlich das Schweigen des Polizeiscanners. Seit 2014 sind die Polizei von Toronto und alle umliegenden Behörden von Funk auf verschlüsselte Digitalkommunikation umgestiegen. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen wollen die Beamten so verhindern, dass Kriminelle ihre Funksprüche belauschen und somit das Vorgehen antizipieren können, und zum anderen sind sie nicht der Meinung, dass Journalisten so viel wissen dürfen wie die Polizei. So sagte es zumindest Mark Pugash, der Kommunikationsleiter des Toronto Police Service, mit dem ich vor ein paar Monaten geredet habe.

„Per Funk werden Informationen—auch persönlicher Natur—zu Verhaftungen und Haftbefehlen durchgegeben. Wir sind der Meinung, dass diese Informationen vertraulich behandelt werden müssen", meinte er mir am Telefon gegenüber. „Unsere größte Sorge gilt der Sicherheit der Informationen. Wir haben schon Situationen erlebt, in denen die Journalisten vor den Polizisten am Tatort eintrafen und damit das Wohlergehen der Beamten und auch verschiedener anderer Leute gefährdeten."

Als ich im Juli das erste Mal mit Biro unterwegs war, verließ er sich noch komplett auf den Feuerwehr- und Notruffunk, um auf Unfälle und andere Tragödien aufmerksam zu werden. Das System, das die Kluft zwischen Journalisten und Polizisten eigentlich überbrücken soll, ist ein Twitter-Account der Behörden. Dieser Account wurde damals jedoch nur unregelmäßig genutzt und Updates zu Polizeieinsätzen kamen oft erst viel zu spät.

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In den knapp fünf Monaten, die seitdem vergangen sind, hat sich allerdings einiges getan. Jetzt twittert die Polizei von Toronto viel häufiger—eine klare Verbesserung im Vergleich zu den alten Gewohnheiten, durch die Journalisten manchmal sechs oder sieben Stunden lang im Dunkeln tappten. Dafür sind jetzt aber andere Probleme aufgekommen. Ein Beispiel dafür wäre die Tatsache, dass die Feuerwehr nun nicht mehr wirklich auf Funk setzt, weil inzwischen mobile Daten-Terminals eingesetzt werden, durch die die Feuerwehrmänner bestimmte Details über ein geschütztes System kommunizieren können. Das Funkgerät kommt dann nur noch zum Einsatz, wenn der Rettungsdienst kontaktiert werden muss. Das alles hat Biros Arbeit nur noch weiter erschwert.

Ohne zuverlässige Kontakte bei den Rettungsdiensten (von denen die meisten aus Angst um ihren Job jedoch auch nichts mehr sagen) muss Biro alles aus den Informationen rausholen, die er sich aus den oftmals vagen Polizei-Tweets, den Funkfetzen der Feuerwehr-Rettungsdienst-Kommunikation und den Erzählungen von anderen Journalisten im Dienst mühsam zusammenkratzt. Insgesamt betrachtet zieht er so weniger Fälle an Land und kommt erst spät am Ort des Geschehens an.

Wenn Biro genügend Informationen gesammelt hat, um einen genauen Ort auszumachen (und auch rechtzeitig dort ankommt), heißt das jedoch noch nicht zwangsläufig, dass seine Bilder dann auch von einer Nachrichtenagentur gekauft werden. Und wenn die Polizei in eine Schießerei verwickelt wird, dann hat die sogenannte Special Investigation Unit das Recht, ein Mandat einzureichen, das es den Polizisten verbietet, Details zu solchen Verbrechen rauszugeben. So kommt das Ganze also nicht nur viel zu spät auf dem Twitter-Account an, sondern führt auch noch dazu, dass Biro keine lohnenswerten Fotos schießen kann. Mir gegenüber meint der Fotojournalist, dass das Ganze ein zermürbender Prozess ist, der viel Geduld, Zeit und vor allem Glück erfordert.

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Im Sommer fuhren Biro und ich zum Schauplatz eines kleinen Autounfalls. Der Kameramann eines nationalen Fernsehsenders, von dem Biro vorher auch den genauen Ort des Geschehens erfahren hatte, war schon vor uns angekommen und filmte bereits. Mit einer massiven Kamera in der Hand und einer weiteren Spiegelreflex um die Schultern geschwungen umkreiste Biro den Schauplatz und schoss dabei ganz konzentriert Fotos—ein Bild von der Polizei, ein Bild vom Löschfahrzeug und vom Auto sowie ein Bild von der ganzen Szenerie.

Als wir wieder in Biros Minivan saßen, zog er die Fotos auf seinen Laptop und öffnete sie in einem Bildbearbeitungsprogramm. Er schraubte etwas an der Belichtung herum, um Details besser hervorzuheben, aber ansonsten ließ er die Bilder so, wie sie waren. Dann löschte er sie alle. Als ich ihn fragte, warum er das jetzt gemacht hat, meinte er nur, dass sie es sowieso nicht in den Druck geschafft hätten. Er war jedoch optimistisch, dass wir in dieser Nacht noch etwas Anderes hören würden.

Manchmal lohnt sich dieser Optimismus. Als Biro im August über seinen Funkscanner immer mehr Anrufe mitbekam, in denen von einem Geisterfahrer auf dem Highway 427 die Rede war, wusste er noch nicht sicher, ob sich daraus etwas Ernsthaftes ergeben würde. Es kommt nämlich ziemlich häufig vor, dass Leute nachts die falsche Auffahrt nehmen und ihnen erst dann klar wird, dass sie auf der falschen Seite unterwegs sind. Dieses Mal war das jedoch nicht der Fall. Die Anrufe hörten nicht auf.

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„Damals gab es mehrere Anrufer, die sich alle an verschiedenen Kreuzungen befanden", erzählt mir Biro. „Da wurde mir klar, dass es sich um einen richtigen Geisterfahrer handelte und wirklich was passieren würde."

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Letztendlich stieß der Geisterfahrer frontal mit einem anderen Fahrzeug zusammen, in dem sich ein Vater, eine Mutter und die dazugehörige 16-jährige Tochter befanden. Nach dem Unfall war das Auto ein Totalschaden und während die Mutter und der Geisterfahrer mit schweren Verletzungen davonkamen, verloren der Vater und die Tochter beim Zusammenprall ihr Leben.

Biro und einige andere Journalisten kamen bei der Unfallstelle an, als die Leichen des Vaters und der Tochter gerade aus den Überresten des Autos gezogen wurden. Davon machte er gleich Fotos und lichtete später auch noch die restliche Unfallstelle sowie die ermittelnden Beamten ab. Ihm zufolge erlebt er solche traurigen Ereignisse zwar öfters, aber ganz daran gewöhnen wird er sich wohl nie.

„Ich war richtig traurig", erinnert er sich. „Man wusste beim Anblick der Wracks direkt, dass diese Sache nicht gut geendet haben konnte. Das war echt nicht schön. Ich habe dort auch geweint."

Biro hat potenzielles Fotomaterial aber auch schon öfters einfach verpasst. Einen Tag vor dem eben geschilderten Autounfall kam es in einem Nachtclub von Toronto zu einer Schießerei. Nachdem Biro stundenlang erfolglos vor seinem Funkscanner gehockt hatte, machte er Feierabend. Als sich die Tragödie dann ereignete, war er schon viel zu weit weg—dieser Umstand wurmte ihn auch noch Tage später.

Als ich ihn frage, wie lange er das Ganze trotz des Schlafmangels, der schlechten Bezahlung und der grausamen Unfälle noch machen will, meint der Fotojournalist, dass er gerne noch länger als Nightcrawler unterwegs sein würde, er diese Vorstellung aber nicht wirklich mit sich selbst vereinbaren kann.

„Ich glaube nicht, dass man diesen Job ewig durchziehen kann—weder ich noch irgendjemand anderes. Es gibt einfach zu viele Einschränkungen und zu wenige Informationen. Außerdem ist der Markt zu klein. Trotzdem ist das Ganze eine wichtige Arbeit und ich wünschte, dass die Dinge anders aussehen würden", meint Biro zu mir.

„So lange ich über Funk noch genügend Fälle reinhole, werde ich meinen Job so gut es geht erledigen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, wie lange das noch so bleibt."