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Vor einem Jahr fand der 74. Ferman an den Jesiden statt

Vor einem Jahr wurden die Jesiden von der Terrormiliz Islamischer Staat in Shingal verfolgt. Was damals passierte, seitdem passiert ist, und wie es heute um die Jesiden steht.

Alle Fotos: Noah Blaser

Nach ihren religiösen Erzählungen haben die Jesiden in den letzten Jahrhunderten viele Fermans erleiden müssen. Während der Begriff aus dem Nahen Osten eigentlich Verordnungen islamischer Herrscher bezeichnet, nahm das Wort in der Sprache der Jesiden die Bezeichnung für Verfolgungen und Pogrome an. Ihr letzter Ferman ereignete sich vor einem Jahr durch den Islamischen Staat (IS) in Shingal. Was damals passierte, seitdem passiert ist, und wie es heute um die Jesiden steht.

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Die Jesiden sind eine kleine, meist den Kurden zugerechnete Minderheit mit historischen Siedlungsgebieten im heutigen Nordirak, Syrien und der Türkei. Die gegenwärtig weltweit etwa 800.000 Jesiden, von denen schätzungsweise die Hälfte in der Diaspora leben, besitzen ihre eigene monotheistische Religion. Deren Ursprung und Entwicklung ist unter Forschern umstritten. Man könnte sie vielleicht einfach als eine der

vielen kleinen, alten und obskuren Glaubensgemeinschaften

betrachten, die in dieser Region von allerlei spirituellen Führern in sektiererischer Isolation gegründet wurden und bis heute bestehen blieb.

Die Jesiden wurden mitunter von islamischen Gelehrten als Teufelsanbeter betrachtet. Diese Einschätzung gründete in ähnlichen Schöpfungsmythen der beiden Religionen, die jedoch einen konträren Ausgang nehmen. Die Jesiden verehren Melek Taus, einen Engel in Gestalt eines blauen Pfaus. Islamische Interpretationen deuteten den Engel Pfau nicht ganz unplausibel im Sinne ihres eigenen Schöpfungsmythos als den Schaitan (Teufel). Diese Sache machte es den Jesiden nicht gerade leichter. Aber selbst wenn die Jesiden gerade nicht als Teufelsanbeter betrachtet wurden, mussten sie in ihrer Geschichte trotzdem oft draufzahlen. Sie haben weder was ihre Religion, noch ihre Ethnie angeht, starke Verbündete oder eine einflussreiche Lobby. Dass sie Endogamie betreiben, also nur innerhalb der eigenen Gruppe heiraten, hat die Sache für sie auch nicht gerade einfacher gemacht—aber womöglich ihr langes Bestehen gesichert.

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Der 74. Ferman in Shingal

Am 3. August 2014 erlebten die Jesiden ihren 74. Ferman. Der Islamische Staat hatte sich zum Ziel gesetzt, die jesidische Gemeinde im Nordirak auszulöschen. Wie die UN feststellte, kam dies einen versuchten Völkermord gleich.IS-Kämpfer fielen an diesem Tag in das Gebiet Sindschar (kurdisch: Shingal) mit einer gleichnamigen Stadt als Zentrum ein. Dabei handelt es sich neben Mossul um eines der beiden traditionellen Hauptsiedlungsgebiete der Jesiden im Nordirak.

Es sah Anfangs nicht gut aus für die die Anhänger dieser uralten Religion. Das Gebiet wurde in einer Nacht und Nebel Aktion von den kurdisch-irakischen Peschmerga aufgegeben, während der IS vor den Toren der Stadt stand. Dieser hatte dann leichtes Spiel. Alleine am 3. August 2014 und in den folgenden Tagen sollen bis zu 5.000 Frauen, Mädchen und Kinder in die Sklaverei verschleppt worden sein. Noch heute fehlt jede Spur von vielen der damals entführten Jesidinnen. Hunderte Männer und Burschen wurden getötet. Um die 40.000 Menschen mussten sich überstürzt ohne Wasser und Nahrung in das Shingal-Gebirge flüchten

Zuerst war nicht klar, ob überhaupt jemand—und wenn ja, dann wer—die zigtausenden Flüchtenden retten würde. Nachdem westliche und irakische Militärs humanitäre Flugeinsätze über dem Gebiet flogen,

kämpften schließlich kurdische Kräfte der nordsyrischen YPG

und der türkischen PKK die im Gebirge gefangenen Jesiden frei und errichteten einen Fluchtkorridor für sie. Insgesamt sollen bis zu 350.000 Jesiden im Nordirak durch den Vorstoß des IS im August letzten Jahres zu Flüchtlingen geworden sein. Noch heute befinden sich um die 10.000 Geflüchteten im Shingal-Gebirge.

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VICE NEWS: Yazidi Refugees Escape Islamic State Fighters: The Battle for Iraq (Dispatch 6)

Auf den Angriff des IS folgte ein monatelanger Befreiungskampf kurdischer und neu gegründeter jesidischer Selbstverteidigungskräfte. Mithilfe der US-geführten Anti-IS-Koalition konnten die Islamisten großteils wieder aus der Gegend zurückgeschlagen werden. Jedoch kontrollieren die Gotteskrieger noch heute Teile des Gebiets und viele Jesiden konnten nicht in ihre alten Siedlungsgebiete zurück. Manche befürchten, sie werden nie wieder zurückkehren können. Denn nach Berichten von Flüchtenden wüteten nicht nur IS-Kämpfer aus weit entfernten Gegenden, sondern kollaborierten auch Teile der ansässigen arabischen Bevölkerung mit dem IS. Ein Problem, das sich nicht mit der Vertreibung des IS auflösen wird.

Der Kampf geht weiter

Nicht nur neue jesidische Selbstverteidigungskräfte wie die HPŞ und YBŞ haben sich seit dem Angriff des IS vor einem Jahr formiert. Damit die Jesiden ihre Zukunft und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, gründete Anfang dieses Jahres eine Delegation aus 200 Vertretern im Shingal-Gebirge einen Selbstverwaltungsrat.

Am gestrigen Jahrestag des 74. Ferman erinnerten Jesiden in Shingal, Berlin, Paris, Genf und weiteren Städten an den Angriff des IS. Der Präsident der autonomen Kurdenregion im Irak versprach die Verantwortlichen für die Verbrechen bis zum letzten Mann" zu jagen. Kurdische und jesidische Einheiten führten Vergeltungsschläge gegen den IS im Westen des Shingal-Gebirges.

Die Föderation der Jesidischen Vereine in Deutschland forderte in Zuge des Jahrestages die internationale Anerkennung der Jesiden als religiöse Glaubensgemeinschaft und die Einstufung der Taten des IS als Völkermord. Zudem wollen sie mehr Autonomie im Nordirak und größere Unterstützung im Kampf gegen den IS. Der deutsche Zentralratsvorsitzende der Jesiden, Telim Tolan, übte zudem scharfe Kritik an den türkischen Präsidenten Erdogan, der nach dem Anschlag des IS im türkischen Suruc just neben dem IS vor allem jene kurdischen Kräfte bombardiert, die vor einem Jahr die Jesiden retteten. Für Tolan ist die Katastrophe jedenfalls noch lange nicht beendet: „Von der physischen Vernichtung ist der Völkermord jetzt übergegangen in eine seelische Ermordung. Die Menschen haben im Grunde ein Dasein ohne jegliche Aktivität." Denn die meisten geflüchteten Jesiden aus Shingal harren weiterhin unter miesen Umständen in irakischen Flüchtlingslagern aus.

Ob die versuchte Auslöschung der Jesiden und ihrer Kultur durch den IS im Nordirak letztlich traurige Realität wird, oder die Jesiden wieder in ihre Heimat zurückkehren können, wird in der Zukunft entscheiden. Nachdem es ab August 2014 kurze Zeit internationale Aufmerksamkeit für ihr Schicksal gab, wurde es bald wieder ruhig um sie. Einige befürchte, dass ein letzter, endgültiger Ferman das Ende ihrer Geschichte und Kultur im Nordirak einleiten wird. Und der IS sein Ziel erreicht, die kulturelle Vielfalt der Region Stück für Stück weiter unwiederbringlich zerstört zu haben. Damit das nicht passiert, wollen die Jesiden sich nicht kampflos einen solchen Schicksal hingeben. Aber ohne Hilfe von Außen werden sie es schwer haben, jemals wieder halbwegs sicher zu ihren alten Heiligtümern pilgern zu können.