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Russische Neonazis jagen Schwule über soziale Netzwerke

Nazi: „Bist du schwul?“ Der Junge: „Ich bin mir nicht sicher. Ich will es aber ausprobieren. Ich will mich selbst und meinen Körper kennenlernen.“ Nazi: „Wir treffen uns, ich gebe dir 1.000 Dollar, und du probierst es aus.“

Karina Frangulyan

Wie wäre es, als Schwuler in Saudi-Arabien zu leben oder, sagen wir, im US-Bundesstaat Utah? Eine gruselige Vorstellung. Russland steht auf meiner persönlichen Horrorliste mittlerweile sehr weit vorne. Russische Neonazis verabreden sich mit Schwulen im Internet, vor allem auf dem Facebook-Klon Vkontakte. Sie lauern ihnen dann in Horden auf und stellen Videos ihrer Übergriffe ins Netz. Ziemlich fies. Seit Wochen machen sie das schon, und die Polizei interessiert das kaum. Die Studentin und Aktivistin Karina Frangulyan versucht, sie zu stoppen. Was sie sagt, lässt mich mit den Ohren schlackern.

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VICE: Wie nutzen russische Neonazis das Netz im Kampf gegen russische Schwule?
Karina Frangulyan: Sie verwenden Fake-Profile auf Vkontakte, aber auch auf schwulen Dating-Websites. Ihre Aktionen zielen meistens auf schwule Erwachsene ab, andere aber auch explizit auf schwule Teenager. Sie schreiben ihr potentielles Opfer an, nach dem Motto: „Ich würde dich gern treffen und dich kennenlernen und dann vielleicht mit dir Sex haben.“ Wenn sie schwule Jugendliche anschreiben, bieten sie ihnen manchmal auch Geld, um sie zusätzlich zu locken. Kommt es zu einem Treffen, tauchen die Neonazis in einer Gruppe auf.

Was passiert dann?
Dann beginnt etwas, das sie zynisch „Safari“ nennen. Sie bedrohen den schwulen Mann oder schwulen Jugendlichen, beschimpfen ihn, schlagen ihn und erniedrigen ihn. Am Ende zwingen sie ihn oft, Urin zu trinken, oder überschütten ihn damit. Das alles filmen sie. Sie verbreiten das Video auf Vkontakte, so dass die Familien der Opfer davon erfahren, und auch die Arbeitskollegen oder Klassenkameraden. Die Männer und ihre Angehörigen bekommen dann Druck von allen Seiten, in Russland ist die Stimmung zur Zeit sehr homophob.

Können Sie etwas über die Bewegung „Occupy Pedophilia“ erzählen, die hinter den meisten Übergriffen steckt?
„Occupy Pedophilia“ wurde von Maxim Martsinkevich gegründet, einem verurteilten Neonazi, der von 2007 bis 2010 im Gefängnis saß. Er ist der Anführer der Bewegung. Er behauptet, dass er Pädophile bekämpfen würde. Das ist aber nur ein Vorwand, mit dem die Themen Homosexualität und Pädophilie in der russischen Öffentlichkeit miteinander verknüpft werden sollen. Dass es ihm um den Schutz von Jugendlichen geht, hat er selbst ins Absurde geführt. Es gibt ein Telefoninterview mit Martsinkevich, in dem er sagt, dass es für ihn OK wäre, Sex mit 14-jährigen Mädchen zu haben. Sein Ziel ist es, russischen Schwulen das Leben schwer zu machen. Auf Vkontakte haben sich unzählige regionale Gruppen gegründet, die die Aktionen koordinieren.

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Wie viele Gruppen gibt es dort?
Es sind mehr als 400 Communitys, von denen etwa ein Viertel selbst aktiv ist. Sie haben mehr als 100 dieser „Safari“-Videos gemacht. In jeder Stadt, in der sich ein paar Nazis zusammentun, bilden sich solche Gruppen, auch in kleinen Städten in Sibirien oder im Süden Russlands. Die in Moskau ist mit mehr als 75.000 Fans auf Vkontakte die größte.

Wann begann das alles?
Die Gruppen existieren seit August 2012. Das war einige Monate, nachdem in St. Petersburg ein regionales Gesetz gegen die „Propaganda von Homosexualität“ in Kraft trat. Von da an war klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis es in ganz Russland ein solches Gesetz geben wird. Die Neonazis wussten, dass sie ab jetzt freie Hand haben. Es gab eine direkte Verbindung zwischen den Gesetzen und den Übergriffen gegen Schwule.

Was sagt eigentlich Vkontakte zu den Aktivitäten auf ihrer Plattform?
Wir haben gefühlt eine Million Beschwerden an Vkontakte geschickt. Einige wurden beantwortet, andere nicht. Wir konnten einige „Occupy Pedophilia“-Gruppen schließen lassen. Das wurde aber nur dann gemacht, wenn die zu offen faschistisch aufgetreten sind. Bei Gruppen, die nur „Safari-Videos erstellen, heißt es, dass die ja gar nichts Verbotenes machen würden. Es ist uns aber gelungen, alle Communitys einer weiteren Bewegung zu schließen: Occupy Gerontophilia.

Was machen die?
Eigentlich das gleiche wie Occupy Pedophilia. Sie zielen aber explizit auf Jugendliche ab, die teilweise erst 13 oder 14 Jahre alt sind, nur weil sie schwul sind oder für schwul gehalten werden.

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Ein Bild von einem der Übergriffe.

Können Sie einen konkreten Fall schildern?
Die Fälle ähneln sich alle sehr. Es gab einen 16 Jahre alten Jungen in einer schwulen Community von Vkontakte. Ein etwa 26-jähriger Mann aus den Reihen der Neonazis hat ihn angeschrieben: „Bist du schwul?“ Der Junge sagte: „Ich bin mir nicht sicher. Ich will es aber ausprobieren. Ich will mich selbst und meinen Körper kennenlernen.“ Der Nazi hat geantwortet: „Wir treffen uns, ich gebe dir 1.000 Dollar und du probierst es aus.“ Und der Junge sagte OK. Sie sind in einer Gruppe aufgetaucht und haben das ganze von Anfang an gefilmt. Sie haben ihn erst ausgefragt und nach einer Weile gesagt: „Du wirst heute leiden.“ Dann endet die Aufnahme. Als sie wieder losgeht, schaut der Junge völlig verängstigt. Es sieht aus, als ob er schon von ihnen geschlagen wurde. Sie nehmen aus einer Tasche eine Flasche mit Urin und schütten sie über ihm aus. In einem anderen Fall haben sie einen vielleicht 13-jährigen Jungen gezwungen, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich bin schwul und stolz darauf“ zu tragen und damit in der Nähe der Metro hin und herzulaufen, also an einem Ort, wo viele Leute sind. Und dann gibt es ein Video, in dem sie von einem Jungen Oralsex verlangen, dafür, dass sie das Video nicht im Internet veröffentlichen. Der Junge war geschockt.

Zur Zeit ist Occupy Gerontophilia aber inaktiv …
Ja, zur Zeit sind alle geschlossen, und sie produzieren auch keine Videos mehr. Sie verabreden sich aber immer noch über das Profil von Philip Razinsky. Wir haben Vkontakte immer wieder gebeten, sein Profil zu sperren. Sie haben es auch geschlossen, aber nur sieben Tage später war es wieder aktiv.

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Wie hängen Occupy Pedophilia und Occupy Gerontophilia zusammen?
Occupy Gerontophilia könnte man als kleinen Bruder von Occupy Pedophilia bezeichnen.  Die Gruppen wurden von einem 16-jährigen Fan von Martsinkevich gegründet, Philip „Dönitz“ Razinsky. Auch er ist ein Neonazi, er hat die gleichen Ansichten über Hitler und das Dritte Reich wie sein Vorbild und posiert mit Hitlergruß.

Es gibt also eine enge Verbindung von Faschismus und diesem militanten Schwulenhass …
Genau, wenn ich mich nicht täusche, war es bei Hitler nicht anders.

Wie kann es eigentlich sein, dass Russen mit Hitler sympathisieren?
Einige Leute haben nur ein Halbwissen über Hitler. Sie glauben, dass Hitler 1941 einmarschiert ist, um das russische Volk vor Stalin zu retten.

Ist in der russischen Öffentlichkeit der Nazi-Hintergrund von Martsinkevich bekannt?
Nein. Die russische Mehrheit würde sich nie mit einem Faschisten solidarisieren. Als Martsinkevich in einer der größten russischen Fernseh-Shows zu Gast war, hat er über seine Bewegung geredet, aber natürlich nicht über seine Ansichten zu Hitler und zum Dritten Reich. Ich bin mir sicher: Wenn wir in Russland freie Medien hätten und wir dort die Wahrheit über Martsinkevich erzählen könnten, würde es anders aussehen. Das ist in Russland aber unmöglich.

Wie reagiert die russische Justiz auf die Aktivitäten der Nazis?
Die Regierung und die Polizei denken nicht daran, sie zu stoppen. Wir sind immer wieder zur Polizei gegangen und haben erklärt, was passiert. Es hieß immer nur, dass sie unsere Anzeige aufnehmen und schauen, was sie tun können. Dabei haben die Polizisten gelacht. Wir haben immer wieder nachgefragt, aber es ist nie etwas passiert. Unter normalen Umständen würden wir sie vielleicht innerhalb einer Woche stoppen können, aber es sieht so aus, als ob die Regierung sie unterstützt. Es könnte sogar sein, dass Martsinkevich ein Projekt der Regierung ist. Wir verstehen einfach nicht, wie er so schnell so populär werden konnte und keinerlei Probleme wegen der Sachen bekommt, die er macht. Er saß als ein verurteilter Verbrecher im Gefängnis, und jetzt ist er zu einem nationalen Helden geworden.

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Haben Sie eine Erklärung, wieso die Situation für Schwule in letzter Zeit so eskaliert ist … nutzt Putin eine latente Homophobie in der russischen Gesellschaft, um das Volk hinter sich zu versammeln? Immerhin gab es letztes Jahr große Demonstrationen der Opposition, die eine ernsthafte Gefahr für ihn darstellt.
Die russische Regierung will die Mehrheit auf ihre Seite ziehen. Über den Kampf gegen Schwule können sie zumindest alle orthodoxen Russen hinter sich versammeln. Die orthodoxe Kirche ist sehr strikt. Sie sagt, Schwule sollen sich nicht öffentlich äußern und kein normales Leben führen dürfen. Dass das alles funktioniert, ist aber eigentlich paradox. Nach den Jahrzehnten der Sowjetunion sind viele Russen nicht sehr religiös. Sie bezeichnen sich zwar als orthodox, gehen aber so gut wie nicht in die Kirche. Wir haben sogar einen Witz: „Russen gehen genau zweimal in ihrem Leben in die Kirche. Wenn sie geboren werden und wenn sie sterben.“

Wie ist zur Zeit die Stimmung bei russischen Schwulen?
Viele sind eingeschüchtert und haben Angst vor der Zukunft. Einige denken darüber nach, das Land zu verlassen. Es ist viel schlimmer als noch vor zehn Jahren. Damals war die russische Gesellschaft viel liberaler. Man denke nur an das Musikvideo der extrem erfolgreichen russischen Band t.A.T.u. aus dem Jahr 2002, in dem sich zwei junge Frauen geküsst haben. Seit Putins Gesetzen gegen Schwule ist die Atmosphäre grauenhaft geworden.

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Einige „Safari-Videos“ wurden von einer US-amerikanischen Menschenrechtsgruppe publik gemacht und sind dann um die Welt gegangen. Hilft Ihnen die Öffentlichkeit?
Es ist sehr gut, dass die Sachen publik werden, wenn die russische Regierung nichts unternimmt. Es ist schon seltsam, dass Leute von außerhalb sich mehr dafür interessieren als die russische Öffentlichkeit. Wir haben viele russische Zeitungen und Fernsehsender angefragt, aber einfach keine Antwort erhalten.

Ein anderer Aktivist, Valetin Degtyarev, berichtet, dass er sehr aggressive Droh-E-Mails bekommen hat. Werden Sie auch bedroht?
Ich habe ähnliche Reaktionen bekommen. Aber solange das nur über das Internet passiert, ist es OK. Jeder kann dort sagen und schreiben, was er will. Einmal war ich aber auf dem Nachhauseweg, ganz in der Nähe meiner Wohnung, und ein Mann hat mich angesprochen: „Wir wissen, was Sie tun.“ Ich habe geantwortet: „OK, was wissen Sie denn?“ Er sagte: „Wir wollen nur, dass Sie wissen, dass wir wissen, was Sie tun.“ Und ich dachte: „Du Idiot!“, und bin nach Hause gegangen. Was das genau war? Ich weiß es nicht.

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