Menschen

Ich bin knapp zwei Terroranschlägen entgangen

Erst wäre Marit um ein Haar in der Menge gewesen, als ein Terrorist 2016 in Nizza Menschen überfuhr. Nur Wochen später überlebte sie einen Bombenanschlag in Thailand.
Arkasha Keysers
Antwerp, BE
Eine junge Frau mit dunklem Haar und grüner Jacke steht vor Herbstlaub
Marit van Renterghem hatte großes Glück im Unglück | Foto von Arkasha Geisers

Es war schreckliches Pech und großes Glück in einem. Marit van Renterghem aus Belgien, heute 22, war am französischen Nationalfeiertag 2016 in Nizza. An jenem 14. Juli fuhr ein Mann einen Lastwagen in die Menge und tötete 86 Menschen. Im folgenden Monat war Marit in einer Bar in Thailand, als Terroristen dort eine Bombe detonieren ließen – insgesamt gingen in der Region elf Sprengsätze hoch. Für VICE schreibt Marit darüber, wie es ist, dem Tod so knapp zu entkommen, und wie sie diese Erlebnisse seither verarbeitet.

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Am 14. Juli 2016 machte ich mit meiner Mutter und einer Freundin Urlaub in Nizza. Unsere Ferienwohnung war im Stadtzentrum, weniger als fünf Gehminuten von der geschäftigen Promenade des Anglais. Am Abend gab es ein großes Feuerwerk zum Nationalfeiertag. Die Straßen waren voller Menschen, die Stimmung festlich.

Nach dem Feuerwerk wollten wir eigentlich an der Promenade Livemusik hören. Da meine Freundin aber am nächsten Morgen heimfliegen musste und ins Bett wollte, gingen wir doch nach Hause. Zu dem Zeitpunkt muss der Mann schon mit dem Lastwagen auf der anderen Seite der Promenade gewesen sein. Wenige Minuten, bevor er erschossen wurde, standen wir an genau der Stelle, wo es passierte.


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Auf dem Weg zu unserer Ferienwohnung hörten wir zwar viele Polizeisirenen, aber wir hatten keine Ahnung, was los war. Wir schalteten unsere Handys aus und gingen schlafen. Früh am nächsten Morgen hatte ich eine Menge verpasster Anrufe. Als mir klar wurde, was passiert war, fing ich an zu zittern. Ich weckte meine Mutter, dann teilten wir den ganzen besorgten Anrufern mit, dass wir unversehrt waren. Wir konnten nicht anders, als uns vorzustellen, was passiert wäre, wenn wir am Vorabend in die andere Richtung, zur Livemusik, gelaufen wären.

Zurück im heimischen Gent fand an dem Tag das Festival Gentse Feesten statt. Die Stimmung war gedämpfter als sonst, weil alle Angst vor einem weiteren Terroranschlag hatten. Als mich Leute fragten, ob ich Angst hätte, sagte ich tatsächlich: "Nicht wirklich. Wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, dass in meiner Nähe gleich zwei Terroranschläge passieren?"

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Ein paar Wochen später flog ich nach Thailand. Es war der Sommer nach meinem ersten Unijahr. Ich mochte meinen Studiengang nicht, deswegen hatte ich abgebrochen. Drei Wochen ehrenamtliche Arbeit in Thailand sollten etwas mehr Sinnhaftigkeit in mein Leben bringen.

In der ersten Woche teilte man mich für ein Waisenhaus ein, in der zweiten Woche reinigte ich Tempel und Strände in Hua Hin, und in der dritten Woche sollte ich Englisch unterrichten. An jenem Donnerstag feierte eine andere Gruppe Freiwilliger ihren Abschied, also gingen wir aus.

Wir waren zu zwölft und hingen in einer Straße mit vielen Bars und Clubs ab. Ich schlug vor, in ein Café namens Blue Monkey zu gehen, aber als wir dort eintrafen, sah es zu voll und auch zu teuer aus. "Wisst ihr was? Warum wartet ihr nicht kurz hier und ich schaue, ob ich was Besseres sehe", sagte ich. Mit einem Typen aus meiner Gruppe ging ich weiter die Straße entlang. Vor dem Blue Monkey stand eine Frau, die Papayas verkaufte. Ich dachte mir noch, dass ich mir eine kaufe, wenn wir zurückkommen.

Um die Ecke fanden wir eine nette Bar, also kehrten wir um, um die anderen zu holen. In dem Moment hörten wir einen lauten Knall. Ich wusste sofort: Das ist was Ernstes. Die ersten Sekunden nach der Explosion waren ganz ruhig, aber als wir näherkamen, sahen wir viele Menschen, die panisch in unsere Richtung rannten. Die Polizei war sofort da. Wie sich herausstellte, war schon eine halbe Stunde zuvor an einem anderen Ort eine Bombe hochgegangen. Die Polizei ließ uns nicht näher ran, um nach unseren Freunden zu sehen.

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Als wir die Organisatoren des Freiwilligenprogramms anriefen, sagten sie, wir sollten zu unserer Unterkunft zurückgehen und dort auf Updates warten. Eine Nagelbombe war in einem großen Blumenkübel direkt neben der Frau mit den Papayas explodiert. Sie war sofort tot. All meine Freunde waren von Splittern getroffen worden. Alle überlebten, aber die Hälfte von ihnen musste operiert werden.

Ich schrieb meinen Eltern: "Ich glaube, es gab gerade einen Terroranschlag, aber ich bin OK." Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten, wenn die Nachricht Belgien erreichte. Später erfuhren wir, dass es im Süden Thailands einige Bomben gegeben hatte, die meisten davon in Hua Hin.

Am folgenden Tag beschloss ich, direkt nach Hause zu fliegen. Ich konnte es nicht fassen und fühlte mich schuldig. Ich dachte, die anderen seien nur wegen meines Vorschlags verletzt worden. Und ich selbst war unversehrt geblieben. Niemand bekannte sich zu den Anschlägen, man verdächtigte Separatisten aus der Provinz Pattani.

Diese beiden Vorfälle haben mich komplett verändert. Ich habe früher viel mehr auf mich selbst geachtet, aber seit den Anschlägen bin ich empathischer. Heute will ich einfach nur anderen helfen, sie unterstützen und ihnen Rat geben, selbst wenn ich sie gar nicht kenne.

Nach Thailand hatte ich Albträume, was zu einer Angststörung führte. Seit drei Jahren habe ich jeden Tag diese nervöse Anspannung im Bauch. Ich bin immer in Habachtstellung und mache mich auf das Ärgste gefasst. In meiner schlimmsten Phase konnte ich nicht mal die Straße entlanggehen, ohne auf jede kleine Bewegung in meiner Umgebung zu achten. Wenn ich ausging und gerade Spaß hatte, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf: "Was, wenn jetzt jemand ein Messer rausholt und anfängt, auf Leute einzustechen? Was, wenn jetzt eine Bombe hochgeht?"

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Ich hatte nicht nur Angst vor möglichen Terroranschlägen, sondern vor einfach allem. Meine Eltern sagten irgendwann, dass es so nicht weitergehen könne, ich bekam Beruhigungsmittel verschrieben. Dank einer Therapie und einer speziellen Opferberatung habe ich inzwischen keine Angst mehr vor Anschlägen, aber die Albträume und die Angst, geliebte Menschen zu verlieren, plagen mich bis heute.

Vor Kurzem habe ich meinen Bachelor in Japanologie abgebrochen. Ich stand kurz vor dem Abschluss und viele sagen mir, ich hätte weitermachen sollen. Aber die Angst, die mich seitdem begleitet, wurde so schlimm, dass ich es nicht mehr aushielt. Irgendwann habe ich selbst nachgeforscht, was mir helfen könnte. Ich beschäftigte mich mit alternativen Methoden der Heilung, wie Yoga, Meditation und Tagebuchschreiben.

Inzwischen habe ich meine Angst besser im Griff. Es ist immer noch ein Prozess und manchmal bekomme ich Panik, aber es bestimmt nicht mein Leben. Menschenmengen sind mir zwar unangenehm, aber ich reise weiterhin. Es gibt in dieser Welt so viel zu sehen und zu entdecken. Alle machen im Leben mal eine schwere Zeit durch, da ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Welt sich weiterdreht. Einen Pauseknopf fürs Leben gibt es nicht.

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