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Einfach nur Nein

"Babycaust" und "Abtreiben macht frei" – wie Abtreibungs-Gegner den Holocaust verhöhnen

Um ihre eigene Agenda durchzusetzen, schrecken sogenannte Lebensschützer vor kaum etwas zurück.
Fotos: imago | snapshot || Collage und Bearbeitung: VICE 

"Der Holocaust der Nazis ist der Inbegriff des Grauens im Dritten Reich. Gibt es eine Steigerungsform der grausamen Verbrechen?" Diese Worte springen einem auf der Startseite von babycaust.de entgegen. Eingerahmt vom Foto eines Konzentrationslagers auf der einen und dem einer Frau auf einem gynäkologischen Stuhl auf der anderen Seite, gibt die Homepage auch gleich die Antwort auf die abstoßende Frage: "Ja, es gibt sie." Doch was könnte eine Steigerungsform des Holocaust sein? Für babycaust.de lautet die Antwort: Abtreibungen.

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Schwangerschaftsabbrüche als schlimmere Verbrechen gegen die Menschlichkeit als der Holocaust? Was einen sprachlos macht, ist für sogenannte Lebensschützer ein üblicher Vergleich. Im September hing im Schaufenster einer Kölner Buchhandlung das gephotoshopte Bild eines Wiesbadener Kinderfriedhofs. Ein digital reinmontierter Torbogen reckt sich darauf bedrohlich im Vordergrund des Bildes. Auf ihm steht: "Abtreiben macht frei", in Anlehnung an den "Arbeit macht frei"-Schriftzug, der die Opfer der nationalsozialistischen Konzentrationslager schon am Eingang verhöhnte. Das Bild stammt von einer Homepage mit dem Namen kindermord.org.

Der Holocaust-Vergleich hat System: Beim "Marsch für das Leben", bei dem im September 2017 Tausende Abtreibungsgegner in Berlin demonstrierten, trugen sie Schilder mit der Aufschrift "'Gnadentod'? Nie wieder!". Auch das ist ein Holocaust-Vergleich, und somit eine Holocaust-Relativierung: Die Nazis ließen in der "Aktion Gnadentod" mehr als 70.000 Menschen mit Behinderungen ermorden.


Auch bei VICE: Abtreibungspillen per Drone und der Kampf um mehr Selbstbestimmung


Der Holocaust-Vergleich als Druckmittel

Immer und immer wieder werden Schwangerschaftsabbrüche mit dem systematischen Ermorden von Menschen gleichgesetzt. In den Augen der Abtreibungsgegnerinnen macht das sogar Sinn. Ihre Argumentation folgt folgendem Schema: Abtreibung ist Mord. Der Staat fördert Abtreibungen, indem diese unter bestimmten Umständen straffrei bleiben. Der Mord hat also System. Und damit kommt für die sogenannten Lebensschützer die Straffreiheit von Abtreibungen dem systematischen Ermorden von Menschen – dem Holocaust – gleich.

Doch natürlich steckt hinter dieser bizarren und geschichtsrevisionistischen Relativierung des Holocaust noch mehr. Um ihre Forderungen nach einem staatlichen Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen durchzusetzen, müssen die sogenannten Lebensschützer Aufmerksamkeit erzielen, die sie dann wiederum dazu nutzen, um entsprechende Petitionen zu verbreiten. Für diese Aufmerksamkeit überschreiten sie immer wieder die Grenzen der Geschmacklosigkeit.

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Vor Konfliktberatungen für schwangere Menschen verteilen Abtreibungsgegner Plastikföten, die häufig in Größe und Darstellung viel weiter entwickelte Föten darstellen und Schwangere beschämen und einschüchtern sollen. Auf "Märschen für das Leben" tragen die Teilnehmerinnen weiße Kreuze schweigend durch Städte, um "getötete Kinder" zu symbolisieren. Und im Sprachgebrauch wird dann eben der Holocaust heraufbeschworen, um ein Schreckensbild systematischer Vernichtung zu zeichnen.

In diesem Kontext ist es ebenfalls Absicht, dass Abtreibungsgegnerinnen von "Babys" oder "Kindern" sprechen, obwohl die Embryonen und Föten, die bis zur zwölften Schwangerschaftswoche abgetrieben werden dürfen, noch nicht einmal ein Nervensystem geschweige denn Bewusstsein oder eigenes Leben besitzen.

Das deutsche Gesetz zu Schwangerschaftsabbrüchen stammt noch aus dem Dritten Reich

All das führt vor allem zu einem: der Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Emotional aufgeladene Wörter wie "Kindermord", die man dann auch noch in den Kontext des Holocausts stellt, sollen Schwangere dazu bringen, die Schwangerschaft fortzusetzen. Und auch all jene, die irgendwie in Kontakt zu Abtreibungen stehen – zum Beispiel Krankenhäuser oder Friedhöfe (wie der in Wiesbaden) oder Ärzte – werden unter Druck gesetzt.

Der Betreiber von babycaust.de, Klaus Günter Annen, bekämpft beispielsweise seit Jahren jegliche Ärztinnen und Ärzte, die auf Ihren Homepages überhaupt nur auflisten, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Im Rahmen des Paragraphen 219a kann das als "Werbung" für Abtreibungen verstanden werden – und die ist verboten. Immer wieder zeigt Annen Gynäkologinnen wegen Verstoß gegen Paragraph 219a an. Am Rande: Der Paragraph wurde direkt nach der Machtergreifung 1933 von den Nationalsozialisten eingeführt, um Nachwuchs für den Krieg sicherzustellen. Ab 1943 stand auf Schwangerschaftsabbruch die Todesstrafe.

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So schließt sich der Kreis. Abtreibungsgegner bedienen sich munter aus der rhetorischen Argumentationskiste des Schreckens. Doch Widerstand formiert sich.

Kristina Hänel, eine der von Annen angezeigten Ärztinnen, hatte letztes Jahr die Schnauze so voll, dass sie ankündigte, gegen die ihr auferlegte Strafe notfalls bis zum Bundesgerichtshof zu klagen. Eine Debatte über die Sinnhaftigkeit des Paragraphens 219a entbrannte.

In Köln prüft die Staatsanwaltschaft währenddessen nach einem Anfangsverdacht, ob Ermittlungen gegen den Buchhändler eingeleitet werden. Und am Sonntag gibt es eine Neuauflage des "Marschs für das Leben" in Berlin. Ob dort erneut der Holocaust relativiert werden wird, bleibt abzuwarten. Doch eins ist sicher: Geschmacklos wird die Demonstration auf jeden Fall.

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