Ein schwuler Mann wendet sich von seinem Partner ab
Nicht der Autor || Symbolbild: imago images | Westend61
LGBTQ

Wie meine Scham als Homosexueller meine Beziehungen zerstörte

Ich hasste mich und ich hasste andere Männer dafür, dass sie mich mochten.

Stell dir vor, du lebst in einem Land, in dem du nicht lieben darfst, wen du willst. Bis vor 25 Jahren ging es homosexuellen Menschen in Deutschland so. Mindestens 64.000 Personen wurden wegen des sogenannten Schwulenparagrafen, § 175 des Strafgesetzbuchs, verurteilt, unzählige diskriminiert. Erst am 11. Juni 1994 wurde das Verbot abgeschafft. VICE und i-D feiern dieses Jubiläum in einer Themenwoche. Mit Geschichten von queeren Menschen, die damals wie heute für ihr Recht kämpfen, zu lieben, wen sie wollen. Alle findest du hier.

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Ich weiß noch, wie du das letzte Mal auf meinem Bett saßt. Du fingst an zu weinen, noch bevor ich weinte. Dabei hast du in diesem Moment Schluss gemacht.

"Kennst du das, wenn du die richtige Person zum falschen Zeitpunkt getroffen hast?", hast du mich gefragt. "Nein", habe ich geantwortet. Hatte ich diese Situation nicht schon mit einem anderen Mann durchgespielt?

Du wolltest unsere Beziehung beenden, weil du dich dafür geschämt hast. Jedes Mal, wenn wir uns berührten, schrie da eine Stimme in deinem Kopf laut "NEIN!". Zumindest hast du mir das damals so erzählt. Du wolltest nicht schwul sein.

Du bist in einem islamischen Land aufgewachsen. Trotz der westlichen Prägung, die du in deiner Kindheit erlebt hast, konntest du dich nicht dazu durchringen, dich zu outen. Dein Vater hat in Deutschland studiert. Deine Eltern seien liberal, hast du gesagt. Heute lebst du in Deutschland. Einige Freunde wissen Bescheid. Familie und Kollegen hingegen haben keine Ahnung, wer du wirklich bist: ein Mann, der Männer liebt.

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Vor 25 Jahren war das auch in Deutschland noch verboten. Am 11. Juni 1994 wurde der Paragraf 175 aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen. Er stellte über 120 Jahre lang Sex zwischen Männern in Deutschland unter Strafe. Ein Grund, wieso viele schwule Männer sich noch heute für ihre Sexualität schämen. Er impliziert, dass mit Homosexualität etwas falsch sei. Auch heute werden Schwule noch diskriminiert, nicht mehr juristisch, aber gesellschaftlich.

Scham sei deshalb typisch für die schwule Welt, sagt der amerikanische Psychologe Alan Downs. Er therapierte viele schwule Männer, darunter sich selbst. In seinen Vorträgen erzählt er von seinen eigenen Erfahrungen, seinen gescheiterten Beziehungen, seiner Scham.

Als schwuler Mann in einer heterosexuellen Gesellschaft aufzuwachsen, hinterlässt Narben. Zum Beispiel fühlen schwule Männer sich oft nicht wertgeschätzt. Sie fühlen sich nicht gut genug – und versuchen, das zu kompensieren. Um dieses Gefühl nicht fühlen zu müssen, streben viele nach höheren Zielen: Reichtum, Ruhm, Status – Bestätigungen von außen, die das Gefühl der Leere, das im Inneren entsteht, aber nicht füllen können.

Auch du hast nach Bestätigung gesucht. Du wolltest damals als Sänger berühmt werden, über YouTube. Wenn ich dir nicht applaudiert habe, weil du schief gesungen hast, warst du beleidigt und hast mich mit Abweisung bestraft.

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Alan Downs unterteilt die Scham, die queere Menschen verspüren, in drei Phasen: In der ersten seien sie von der Scham überwältigt und befänden sich oft in einer schweren Identitätskrise. In der zweiten versuchten sie die Scham zu kompensieren. Viele leben ein vermeintlich perfektes Leben, mit vielen Liebhabern, Erfolg, schönen Wertgegenständen. Andere verdrängen einfach, dass sie schwul sind und leben ein heteronormatives Vorzeigeleben mit Frau, Kinder und Haus. Oft sind Depressionen und Burnout die Folge. Erst in einer dritten Phase gelänge es, sich selbst zu finden. Nicht alle queeren Personen kommen jedoch in dieser dritten Phase an. Dazu müsse man sich der eigenen Scham stellen, sagt Downs. In seinem Buch The Velvet Rage nennt er einige konkrete Beispiele, wie man die Scham überwinden kann.

Ich strengte mich immer besonders an. Schau mal, wie toll ich bin, obwohl ich schwul bin, wollte ich damit sagen.

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Die erste Phase sei besonders schlimm, sagt Downs. Es sei deshalb kein Wunder, dass Suizid eine der häufigsten Todesursachen in der LGBTQ*-Community ist. Queere Teenager im Alter bis 25 begehen fünfmal wahrscheinlicher einen Selbstmord als heterosexuelle.

Zur Ergänzung: Nicht nur schwule Männer fühlen diese Scham. Auch Lesben, Transsexuelle, Bisexuelle, Intersexuelle. Allerdings schreibt Alan Downs als schwuler Mann und Therapeut über seine Erfahrungen mit Männern. Und auch ich kann in diesem Text nur von meinen eigenen Erfahrungen berichten.

Als Jugendlicher wurde ich in meiner Schule in einer Vorstadt von Münster gehänselt, weil ich schwul war. Daraus entstand auch bei mir eine tief verankerte Unsicherheit, gepaart mit Scham und Selbsthass. Um mit diesen Gefühle aus dem Weg zu gehen, strengte ich mich immer besonders an. Schau mal, wie toll ich bin, obwohl ich schwul bin, wollte ich damit sagen. Das half ein bisschen. Es milderte die Scham. Aber ich trank auch viel. Bekam Panikattacken und Depressionen, die mich daran erinnerten, dass ich in Wahrheit ein Leben lebte, das mir nicht entsprach.

Jahrelang hatte ich keine schwulen Freunde. Mit "der Szene" wollte ich nichts zu tun haben. Mir waren die Tunten auf den CSD-Wagen zu viel. So wollte ich nicht sein. Ich lehnte Schwule ab, war vielleicht sogar schwulenfeindlich. Sex konnte ich nur unter Alkoholeinfluss haben. Nüchtern hielt ich es nicht aus, einem Mann nahe zu sein.

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Bei unserem ersten Date wolltest du über deine Erfahrungen mit Männern reden. Du hattest sie nur wenige Monate zuvor gemacht, mit Mitte zwanzig. Das ist in der queeren Szene nicht ungewöhnlich. Um sich selbst auszuprobieren, muss man sich die eigene Identität erst eingestehen. Das braucht manchmal eine Menge Zeit. Sexualität war etwas Schmutziges für dich. Das habe ich schon bei unserem ersten Mal bemerkt. Meinen Penis in den Mund nehmen? Das wolltest du nicht. Danach bist du sofort in der Dusche verschwunden.

Ich konnte viele Beziehungen auch nicht halten oder eingehen, weil ich im Zwist mit mir selbst stand.

Ich glaube heute verstehe ich, was damals in dir vorging. Ich konnte viele Beziehungen auch nicht halten oder eingehen, weil ich im Zwist mit mir selbst stand. Ich hasste mich und ich hasste andere Männer dafür, dass sie mich mochten. Als mich Maurice aus Hamburg im Kaufhaus zärtlich an der Schulter berührte, zuckte ich zusammen, wurde wütend, schämte mich. In der Öffentlichkeit? Wie konnte er es wagen? In der Nacht legte ich ein Kissen zwischen uns. Ich konnte die Nähe, die körperlich und die emotional, nicht ertragen.

Ich habe mittlerweile eine Therapie gemacht. Auch ich habe lange einen Druck auf der Brust gespürt, wenn ich mich mit meiner Sexualität und meiner queeren Identität befassen sollte. Ich dachte, dass etwas falsch sei mit mir, ich nicht gut sei, so wie ich bin. Mein Therapeut, ebenfalls schwul, hat ein Tor für mich geöffnet und mir dabei geholfen, mit mir selbst in Kontakt zu treten.

Es hat mich einiges an Überwindung gekostet, aber nach meiner letzten Beziehung begann ich, offener über meine Identität zu sprechen. Was ich erlebte, war wunderschön: Meine heterosexuellen Freunde haben mich akzeptiert. Ich muss keine Angst mehr haben. Meine Mitmenschen lieben mich umso mehr, wenn ich einfach ich selbst bin. Ich muss mich nicht schämen. Mittlerweile kann ich sogar mit meinen heterosexuellen Kumpels über Sex reden genau wie mit den homosexuellen. Literatur hat mir geholfen, die Scham zu identifizieren. Schwulenzentren wie "The Village" bieten regelmäßig Workshops an. Hilfe gibt es an vielen Stellen. Man muss sie nur annehmen.

Der Name des Autors ist ein Pseudonym.

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