Warum sich die Welt ein Vorbild an der Wiener Märzstraße nehmen sollte
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Multikulturell

Warum sich die Welt ein Vorbild an der Wiener Märzstraße nehmen sollte

Mit der bunten Mischung aus Würstelständen, russischen Supermärkten und Waffengeschäften zeigt die Märzstraße, dass Multikulti doch funktionieren kann.

Alle Fotos von Christopher Glanzl

In meiner Jugend war die Märzstraße immer das eine Stück auf meiner Fahrradstrecke, bei dem ich an jeder Kreuzung ein Stoßgebet ausgeschickt habe, um nicht von den vorbeibretternden Mercedes-Benz über den Haufen gefahren zu werden. Und weil ich immer auf den möglichen Frontalzusammenstoß konzentriert war, habe ich nie wirklich auf irgendwas anderes geachtet als auf meine Hände an beiden Bremsen und meine Füße in den Pedalen.

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Erst, als mich eines Abends ein Polizist beim Heimradeln wegen meines kaputten Scheinwerfers angehalten hat (ja, das ist wirklich passiert), habe ich zum ersten Mal meinen Fahrrad-Tunnelblick abgelegt und mir die Geschäfte und Cafés rundherum genauer angeschaut. Im schummrigen Laternenlicht konnte ich unter anderem ein Waffengeschäft erkennen, gefolgt von einem russischen Supermarkt und einem Altwiener Kaffeehaus, das gleich neben dem Dönerstand bei der Schweglerstraße an der Ecke ist.


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Heute fahre ich immer noch jeden Tag die Märzstraße entlang – mittlerweile mit der Bim, man soll’s ja mit dem Sport nicht übertreiben – und kenne die ganzen Lokale, Supermärkte und Stände schon fast auswendig. Letzte Woche ist es mir dann plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Nach acht Jahren des ewigen Bezwingens der langen Straße mit Rad und 49er-Straßenbahn, bin ich hier noch in keinem einzigen Kaffeehaus oder Supermarkt gewesen. Ich kenne ihre Namen, ich kenne ihre Reihenfolge, aber ich habe noch die einen Fuß hinein gesetzt. Das sollte sich jetzt ändern.

Die Nummer 1 auf meiner Liste war das Geschäft an der Ecke Märzstraße/Zinckgasse, auf dem beide Hauswände mit dem Wort "Waffen" in riesigen Buchstaben versehen sind. Als praktizierende Pazifistin ist mir dieses Geschäft einfach immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Aber die Neugier siegt ja bekanntlich und so stand ich um 10 Uhr vormittags zwischen Gewehren, Jagdtrophäen und einer angsteinflößend großen Auswahl an Messern im Waffengeschäft Lubet.

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Auf meine Frage, warum das Geschäft ausgerechnet auf der Märzstraße angesiedelt ist, bekomme ich vom Verkäufer die relativ knappe Antwort: "Wegen der Parkplätze." Er betrachtet mich misstrauisch und ich kann es ihm nicht einmal übelnehmen. Ich bin mit meiner John-Lennon-Nickelbrille, der Stoffhose mit Papageien-Druck und meinem blonden Lockenkopf eindeutig eine visuelle Ruhestörung in seinem Geschäft, in dem alles in Camouflage-Tönen gehalten ist.

Mein Tag in der 6er-Bim

Um die Stimmung etwas aufzulockern, erkläre ich ihm, dass sein Waffenladen der einzige ist, den ich in Wien kenne. Zum ersten Mal schmunzelt er und meint: "Waffengeschäfte gibt’s halt nicht so viele wie McDonald’s." Ich erfahre daraufhin, dass es das Geschäft erst seit zwei Jahren gibt. Trotzdem erklärt mir der Verkäufer, dass er seine Nachbarn und Nachbarinnen in der Märzstraße alle kennt. "Wenn man in einem Mietshaus wohnt, weiß man auch, wer über einem und unter einem wohnt. Genau so ist das auch hier. Wenn sich nach Feierabend die Gelegenheit ergibt, dann geht man auch mal was trinken ins Beisl nebenan. Es ist eine ganz bunte Mischung."

Als ich die Jagdmesser und Revolver hinter mir lasse, merke ich, dass mir meine Vorurteile zum Waffengeschäft Lubet vorausgeeilt sind. Ich hätte nicht erwartet, dass der Wiener Waffenverkäufer so ohne Weiteres ins kroatische Beisl nebenan auf ein Bier geht.

"Natürlich geh ich auch meine Nachbarn auf der Märzstraße besuchen. Beim einen geh ich Kaffee trinken, beim anderen geh ich Haare schneiden."

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Mit frischem Mut betrete ich also das nächste Geschäft auf meiner Märzstraßen-Tour: den russischen Supermarkt, der gleich an der nächsten Straßenecke liegt. Gleich neben dem Eingang steht ein Regal mit Babushka-Puppen in allen Formen und Farben. “Eigentlich heißen die Matryoshka-Puppen”, korrigiert mich der Verkäufer Anzor, als ich frage, ob eigentlich viele Leute das Spielzeug kaufen. Wieder was dazugelernt.

Der 32-jährige Russe erklärt mir, dass im Sommer der kalte Eistee und die abgepackten Tiefkühltorten um einiges beliebter sind als die Holzspielzeuge. "Der Fisch geht dafür im Winter immer sehr gut. Die Wiener kommen immer her, um den Kaviar zu kaufen, den wollen alle unbedingt haben." Genau in dem Moment kommt ein Kunde hinein und kauft sich besagten kühlen Eistee gegen die sommerliche Stadthitze. Die beiden plaudern kurz auf Russisch und lachen.

Anzor erklärt mir: "Bei uns kommt jeder rein – Stammkunden, Spaziergänger Österreicher, Tschetschenen, alles. Es ist ein Familienbetrieb. Meine Mutter, meine Schwester und ich kümmern uns darum." Den Supermarkt hätten sie vom georgischen Vorbesitzer übernommen. Anzor und seine Familie wohnen im 14. Bezirk, aber der Russe ist trotzdem viel auf der Märzstraße unterwegs.

"Natürlich geh ich auch meine Nachbarn auf der Märzstraße besuchen. Beim einen geh ich Kaffeetrinken, beim anderen geh ich Haare schneiden. Das ist für mich auch interessant. Alles ist in der Nähe." Anzors Schwester ist dieses Jahr mit der HAK fertig geworden und kann jetzt wieder mehr im Geschäft mithelfen. Anzor möchte deshalb nächstes Jahr Architektur an der Uni Wien studieren.

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Im Reisebüro Akin, schräg gegenüber vom russischen Supermarkt, treffe ich auf Bogac, der mit seinem Studium bereits angefangen hat. "Ich studiere Politikwissenschaften an der Uni. Eigentlich studiere ich auch Betriebswissenschaften, aber das ist ein bisschen kompliziert, weil ich nicht so gut Deutsch kann."

Der 30-jährige Türke ist vor ein paar Jahren aus Istanbul nach Wien gekommen, weil ihm die politische Situation in der Türkei nicht gefallen hat. Seit zwei Jahren arbeitet er im Reisebüro auf der Märzstraße. "Es ist ein bisschen schwer für mich, Deutsch zu lernen, weil wir viele türkische Kunden haben. Da spreche ich dann während der Arbeit selten Deutsch. Aber ich will es noch lernen."

Auf den nächsten Ort bin ich mindestens so gespannt wie auf das Waffengeschäft. Meine Route führt mich als nächstes nämlich ins Café Lorenz, gleich bei der U3-Station Schweglerstraße. Mit seiner dunkelgrünen Holzfassade und den riesigen Fensterbildern von Leuten in Biedermeier-Mode wirkt das Altwiener Kaffeehaus schon fast gezwungen Wienerisch zwischen den Shisha-Bars, 1-Euro-Shops und türkischen Reisebüros (also all den Läden, die inzwischen das Prädikat "typisch Wienerisch" eigentlich viel eher verdienen).

Umso überraschender ist es, dass mir beim Betreten des Cafés Nickelback entgegen hallt. Ein älterer Herr sitzt, in typisch wienerischer Kaffeehaus-Manier, vertieft in seine Kronen Zeitung bei einem kleinen Braunen und raucht genüsslich eine Marlboro Rot am Tisch neben dem Eingang. Nachdem ich ein paar Sekunden etwas verloren auf dem alten Parkettboden in der Gegend herumstehe und die vergilbten Fotos an den Wänden betrachte, kommt eine Kellnerin aus dem anderen Raum und begrüßt mich mit einem abermals typisch wienerischen: "Bitte?"

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"Es ist lustig und bunt gemischt, man ist schnell in der Stadt und es ist für jeden was dabei."

Nachdem ich mich vorgestellt habe und mich nach der Geschichte des Kaffeehauses erkundige, zeigt sie mir die erste Seite der Speisekarte und erklärt: "Das Café Lorenz gibt es schon seit 1998. Es ist wirklich gut besucht, es kommen aber vorwiegend ältere Leute aus Österreich. Es ist ja auch das einzige Wiener Kaffeehaus in der Gegend."

Damit hat sie Recht. Wenn es eine Art von Lokal gibt, die auf der Märzstraße kaum vertreten ist, dann sind es wienerische Kaffeehäuser. Darauf ist das Café Lorenz mitsamt der Kellnerin auch sehr stolz. "Unsere Möbel sind traditionell und unsere Auslagen sind wirklich typisch wienerisch. Es ist nett, gediegen und man kann reinkommen, ohne irgendwie ein ungutes Gefühl haben zu müssen."

Auf die Frage, ob sie selber auch in die umliegenden Lokale und Geschäfte geht, antwortet sie mit einem resoluten Nein. "Ich steig ins Auto und fahr nach Hause." Das erste Mal habe ich das Gefühl, dass die Vielfalt auf der Märzstraße hier nicht so willkommen ist, wie in den anderen Geschäften. Als ich nochmal genauer einhake, lockert die Stimmung der Kellnerin doch etwas auf. "Ich sag mal so: Es ist lustig und bunt gemischt. Ich würde es mir persönlich nicht als Wohnbezirk aussuchen, gebe ich ehrlich zu. Aber es ist gut angebunden, man ist schnell in der Stadt und es ist für jeden was dabei."

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"Die Leute kommen fürs Essen, egal von wo sie sind.”

Nicht weit entfernt vom Café Lorenz befindet sich der etwas bodenständigere aber immer noch traditionell wienerische "Schwegler Stadl"-Würstelstand. "Die Leute kommen her, weil sie neugierig sind auf das Essen und die Menschen. Wir haben auch viele Stammkunden", erklärt der Besitzer des Standes. Einer dieser treuen Besucher des Schwegler Stadl, Herr Kurt, ist auch gerade da, als ich mit dem Besitzer plaudere. Er hört uns aufmerksam zu und nippt an seinem Kaffee. "Ich kenn die Leute hier. Es ist draußen, an der Luft. Ich bin nicht so gerne in Gasträumen. Manchmal bin ich vorne am Europaplatz, aber hauptsächlich hier auf der Märzstraße."

Abgesehen von den treuen Stammkunden wie Herrn Kurt kommen zum Schwegler Stadl alle, die einfach Heißhunger auf eine saftige Wurscht haben. "Zu uns kommt die Arbeiterschicht, aber nicht nur Österreicher. Es kommen die Leute, die eine Käsekrainer oder Bratwürschtl wollen. Die Leute kommen fürs Essen, egal von wo sie sind."

Nach der Devise des Schwegler Stadls – Nationalität egal, Hauptsache gutes Essen – handelt auch der polnische Supermarkt "Videopoll". Gleich am Eingang treffe ich Patrycje, die Mitarbeiterin vom benachbarten Kosmetiksalon. Renata, die Besitzerin des Supermarkts, ist auch da. Ich werde auch gleich auf Polnisch begrüßt und sie sehen mich überrascht an, als ich mit "Hallo" antworte. Da beide kaum Deutsch sprechen, bietet mir Patrycje gleich an, auf Englisch zu plaudern.

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"I think it’s very international here. We like that.”

Wie sich herausstellt, gehören sowohl der Supermarkt, als auch der Beauty-Salon von nebenan zusammen. "We’re three people in the shop. We’ve had this shop for 25 years now." Als ich überrascht auf das hohe Alter des Supermarkts reagiere, erklärt mir Partycje: "Renata and her husband came here 30 years ago and had the idea to open a polish supermarket because there were a lot of polish people in Vienna."

Da es kaum ähnliche polnische Geschäfte in Wien gibt, kommen seit Jahren viele Kunden zu ihnen. "Obviously they’re mainly from Poland, but we also get some Austrian customers from time to time." Die 31-jährige Kosmetikerin arbeitet im Beauty-Salon nebenan, der auch zum Supermarkt dazugehört. Als ich ihr meine Geschichte über die Märzstraße erkläre, lacht sie und übersetzt es schnell für Renata. Auch sie lächelt und nickt. "It’s true, I think it’s very international here. We like that."

Mit einem Grinsen auf den Lippen, einem Aloe-Vera-Eistee aus Anzors russischem Supermarkt und einem Sackerl Falafel aus dem türkischen Feinkostgeschäft, verabschiede ich mich von Patrycje und Renata und steige wie gehabt in den 49er ein. Im Schneckentempo zuckelt die Bim die Märzstraße hinunter und bringt mich, wie jeden Tag, in die Stadt.

Während der Fahrt beobachte ich noch einmal, wie die Geschäfte, die ich gerade alle besucht habe, an mir vorbeiziehen und komme ein bisschen ins Nachdenken. In Zeiten wie diesen hat man oft das Gefühl, dass sich alle nur mehr misstrauisch beäugen und der Populismus den Keil immer tiefer zwischen die verschiedenen Nationalitäten und Kulturen treibt. Dabei frage ich mich oft, wo die Freundlichkeit, Buntheit und Offenheit der Menschen in Österreich geblieben ist. Nach meinem heutigen Ausflug habe ich sie in der Form der Märzstraße tatsächlich gefunden.

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