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Kampfsport

Mythos vs. Realität: Ein Kung-Fu-Meister im Interview

Odi trainiert seit seiner Kindheit Kung-Fu und andere Kampfkünste. Mit uns spricht er über Eier aus Stahl, "Qi", und übernatürliche Fähigkeiten.
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Kung-Fu kennen die meisten nur aus Filmen wie Tiger and Dragon , Der Mann mit der Todeskralle oder – Gott steh dir bei – Kung Fu Panda. Da gibt es dann Sprünge über Hausdächer, tödliche Energiewellen und andere übernatürlichen Skills. Dabei wär das gar nicht nötig: Die chinesische Kampfkunst ist auch in ihrer echten, bodenständigen Form wirklich beeindruckend. Dass es hier nicht um Magie, sondern um Disziplin geht, steckt schon im Namen: "Kung-Fu" bedeutet grob übersetzt "harte Arbeit".

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Diese harte Arbeit hat Odi definitiv investiert. Odi kommt aus Indonesien, ist Kampfsportmeister und hat sich auf Kung-Fu spezialisiert. In den letzten 20 Jahren hat er nicht nur gelernt, so ziemlich jede Nahkampfwaffe der Welt zu verwenden; er hat auch unzähligen Schülern und Schülerinnen zu Wettkampfsiegen verholfen – die formalisierte Wettkampf-Version von Kung-Fu heißt übrigens Wushu. Wir haben uns mit Odi getroffen und ihm einige Fragen gestellt: zu den Mythen, Gerüchten und Wahrheiten über die uralte Kampfkunst.

VICE: Wie lange machst du schon Kung-Fu?
Odi: Ich unterrichte Kung-Fu seit 1996. Ich habe zwar auch die indonesische Kampfkunst Pencak Silat und Brasilianisches Jiu-Jitsu trainiert, aber mit Kung-Fu habe ich die meiste Zeit verbracht.


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Stimmt es, dass Wushu, das moderne Kung-Fu, heute gar nicht mehr wie die traditionelle Form ist und eigentlich nur noch aus Tanzschritten besteht?
Wushu legt mehr Wert auf Schönheit als auf Funktion, würde ich sagen. Beim Wushu kommen atemberaubende Geschwindigkeiten zustande, aber die Seele dieser Kampfkunst steckt da nicht mehr drin, weil es ein Fall von Style over Substance ist. Traditionelles Kung-Fu bewahrt dagegen den kämpferischen Aspekt, die Ausübenden legen Wert auf die richtige Form und Konditionierung. Wushu besteht aus zwei Teilen: Taolu, das sind die einstudierten Formen, und Sanda, der eigentliche Kampf-Sport. Man könnte also sagen, dass es im Wushu Sanda gibt, um nicht zu sehr in dieses "Tanzen" abzudriften.

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Was ist das größte Missverständnis im Zusammenhang mit Kung-Fu?
Die meisten glauben eben wirklich, Wushu wäre nichts weiter als "Tanzen", und "Kung-Fu" wäre nur ein bestimmter Kampfstil. Dabei ist das ein Sammelbegriff. Es gibt viele Schulen und Stilrichtungen. Die Durchschnittsperson denkt bei dem Wort erst einmal an Bruce Lee, aber Kung-Fu muss nicht immer so aussehen wie das, was Lee gemacht hat.

Es gibt viele YouTube-Videos von Boxern und MMA-Kämpfern, die "Kung-Fu-Meister" herausfordern und gewinnen. Welche Art von Kung-Fu eignet sich am besten für einen MMA-Wettkampf?
Jeder Stil hat seine Stärken und Schwächen. Ich halte es für das Schlauste, einfach zu lernen, was dir nützt, und alles zu vergessen, was dich nicht weiterbringt. Beschränk dich nicht auf nur einen Stil. Gleichzeitig hängt es stark von der Person ab, wie effektiv ein Stil ist. Wenn jemand seit Jahren hart trainiert, kann der Stil tödlich sein, bei einem Anfänger richtet er dagegen kaum etwas aus.

Um etwas konkreter zu werden: Wing Chun ist meiner Meinung nach das Kung-Fu, das man am einfachsten erlernt. Es ist einfach anzuwenden und man muss sich nicht zu viele Formen merken. Die Formen enthalten auch kaum nutzlose Bewegungen und sind im echten Leben anwendbar. Viele sind da anderer Meinung, aber das ist meine persönliche Erfahrung.

Was ist das Unglaublichste, das du bisher von einem Kung-Fu-Meister gesehen hast?
Die Meister können sehr harte Gegenstände zerstören, wie Eisenstangen, Zement- oder Eisblöcke. Aber das ist alles ziemlich Standard. Das Verrückteste, das ich je gesehen habe, ist die Fähigkeit, die "Eisenhemd" genannt wird. Menschen können ihr Qi in bestimmte Körperpartien lenken, um an der Stelle harte Schläge von Händen oder Waffen auszuhalten. Mein eigener Lehrer war ein Meister dieser Fähigkeit.

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Kannst du kurz erklären, was Qi ist? Wie stärkt man es?
Ich halte Qi für eine Art Energie im menschlichen Körper. Sie existiert entweder in einem passiven oder aktiven Zustand und kann mit Atem- und Meditationstechniken kultiviert werden. Aber das sollte man mit einem Lehrer oder einer Lehrerin machen, alles andere kann gefährlich sein. Ohne die richtige Anleitung könnten dir Adern platzen oder Nerven reißen.

Gibt es auch noch weniger bekannte Fähigkeiten, die ein Kung-Fu-Meister besitzen kann? Was ist mit den geradezu übermenschlichen Sachen?
Schweben oder extrem hohe Sprünge – das halte ich für nichts als Fernseh-Fiktion. Wenn wir so was könnten, dann hätten unsere Athleten doch inzwischen alle olympischen Medaillen abgeräumt.

Was ist mit den "Eiern aus Stahl"? Wie können Kung-Fu-Meister sich so oft in die Eier treten lassen und hinterher noch Kinder zeugen?
Das Qi lässt sich eben auch in die Hoden lenken – sie können so stark werden, dass man damit ein Auto ziehen kann. Aber das ist Shaolin-Zeug. Die Mönche trainieren so hart, dass sie wirklich mit ihren Genitalien Autos abschleppen können. Wir wissen zum Beispiel, dass Bruce Lees Lehrer Yip Man so etwas konnte, und er hatte auch Kinder. Ich glaube nicht, dass das die Fruchtbarkeit groß beeinträchtigt.

Und wie bekommt man Stahleier? Wie sehen die Übungen aus?
Es gibt eine Version, bei der die Hoden mithilfe von Qigong in den Leistenkanal gezogen werden. Ich habe das noch nie gemacht, aber das habe ich zumindest gehört.

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Kann man mit Qigong ein Feuer entzünden, oder so?
Das fällt für mich unter die Sparte "Übernatürliches". Ich glaube nicht, dass Menschen so was ohne die Hilfe von speziellen … Wesen könnten.

Wie sieht ein durchschnittlicher Trainingstag bei dir aus?
Meine Routine teilt sich in Technik und Aufbau. Das Aufbautraining unterstützt die Technik, dazu gehören Laufen, Liegestütze, Sit-ups und allgemeines Konditionstraining. Beim Technik-Training muss man den Fokus auf Form und Anwendung setzen – was bringt schon ein starker Körper, wenn man schlechte Technik hat? Genauso ist es natürlich umgekehrt: Ausgezeichnete Technik und ein schwacher Körper bringen nicht viel.

Wie sieht die Zukunft des traditionellen Kung-Fu aus?
Traditionelles Kung-Fu muss mit der Zeit gehen. Wir als Lehrer sollten uns nicht zu sehr auf Traditionen versteifen. Es ist wie bei Smartphones – jedes Jahr kommen bessere Modelle raus und machen die alten überflüssig. Wenn wir uns zwingen, alte Modelle und Techniken zu verwenden, dann verpassen wir etwas. Wir müssen unsere Tradition bewahren, aber gleichzeitig moderne Elemente aufnehmen – das ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft.

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