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IS

Das Leben als Witwe eines IS-Kämpfers

Im Irak wurden zahlreiche Frauen mit Terroristen zwangsverheiratet. Vielen von ihnen werden heute ihre Rechte verwehrt und ihre Kinder dürfen nicht zur Schule.
Symbolfoto: Alessandra Siragusa | Shutterstock 

"Ich habe keine Ahnung, ob ich verheiratet bin oder nicht", sagt N., eine 22-Jährige aus Mossul im Nordirak. "Das ruiniert mir alle Zukunftsaussichten."

Der IS hielt Mossul von 2014 bis 2017 besetzt. N. ist eine von mindestens 1.600 Witwen, deren Trauschein während dieser Zeit von einem Gericht der Terrororganisation in Mossul ausgestellt wurde, so Human Rights Watch. Heute ist die Stadt befreit und wieder unter irakischer Kontrolle. Aber die Regierung weigert sich, die Ehen der Witwen anzuerkennen, die unter der IS-Herrschaft geheiratet haben – oder gegen ihren Willen verheiratet wurden.

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Die meisten dieser Frauen wurden während der Besatzung der Stadt mit IS-Kämpfern zwangsverheiratet oder heirateten schnell einen Verwandten, um dem zu entgehen. Die irakische Regierung behauptet zwar, sie erkenne Ehen an, die unter der IS-Herrschaft geschlossen wurden – aber dazu müssen Mann und Frau die Ehe persönlich bestätigen. Für Witwen wie N. ist das keine Option. Die Rechte, die Witwen und Halbweisen normalerweise zustehen, bleiben diesen Familien verwehrt. Was das im Alltag bedeutet, zeigt das Schicksal Renads*.

Die 25-Jährige wurde gegen ihren Willen mit einem IS-Kämpfer verheiratet. Sie brachte einen Jungen und ein Mädchen zur Welt. Im Januar 2017 kam ihr Ehemann um. Ohne einen Trauschein könne sie viele wichtige Dinge nicht machen, sagt Renad. "Die Regierung hat uns in eine sehr schwierige Lage gebracht. Meine Kinder können nicht zur Schule gehen, oder in ein staatliches Krankenhaus." Denn Kindern aus solchen Beziehungen werden die dafür nötigen Dokumente verwehrt. Auf Renads Ausweis steht unter ihrem Familienstand weiterhin: "ledig".

"Zu viele junge Frauen werden für etwas bestraft, auf das sie gar keinen Einfluss hatten."

Viele Witwen wie N. und Renad werden als IS-Sympathisantinnen behandelt, obwohl sie mit den Kämpfern zwangsverheiratet wurden. Sie erhalten Morddrohungen und werden von ihrem Umfeld verstoßen. Das irakische Militär hat bis zu 170 Familien mit mutmaßlichen IS-Verbindungen in "Rehabilitierungslager" außerhalb von Mossul geschickt. Laut dem Bezirksrat der Stadt werden die Menschen dort "psychologisch und ideologisch rehabilitiert und wieder in die Gesellschaft integriert, wenn das Programm bei ihnen positive Wirkung zeigt". Human Rights Watch bezeichnet die Lager als Einrichtungen für "kollektive Strafe".

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"Zu viele junge Frauen werden für etwas bestraft, auf das sie gar keinen Einfluss hatten", sagt die Parlamentsabgeordnete Rizan al-Sheikh. Sie ist Mitglied im irakischen Parlamentsausschuss für Frauen und Kinder und versucht, gemeinsam mit Kolleginnen Lösungen für die verfahrene Lage der Frauen zu finden. Eine Möglichkeit wäre es, Zeugen oder DNA-Beweise zuzulassen, um eine Ehe zu bestätigen. "Wenn wir dieses Problem nicht heute aus der Welt schaffen", sagt al-Sheikh zu VICE, "dann könnte es sich für viele Jahre negativ auf unsere Gesellschaft auswirken."

Im Irak wird von Frauen erwartet, dass sie vor der Hochzeit beweisen, dass sie entweder Jungfrauen oder Witwen sind.

Der Anwalt Ismail al-Fatlawi meint, die Regierung müsse noch weiter gehen. "Wir brauchen ein Gericht, das sich nur mit diesem Problem befasst", sagt er. "Das Gericht sollte ältere Trauscheine und andere Dokumente berücksichtigen, wie Familienfotos oder Augenzeugenberichte." Temporäre, politisch motivierte Lösungen halte er für ungeeignet. Stattdessen brauche es eine entschlossene Reaktion vom Gesetzgeber, um die negativen Folgen für zukünftige Generationen einzudämmen.

Das Gesetz betrifft nicht nur Frauen, die mit IS-Kämpfern verheiratet wurden, sondern alle Witwen, die unter der IS-Herrschaft geheiratet haben. Dazu gehören Frauen wie Roa'a*, die Verwandte geheiratet haben, um der Zwangsheirat zu entgehen. Roa'a sagt, ihre Eltern hätten ihr und ihren Freundinnen während der gesamten IS-Besatzung verboten, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen. Sie hatten Angst, IS-Kämpfer könnten sie entführen und heiraten.

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Roa'a heiratete ihren Cousin zweiten Grades in einem IS-Gericht. Zwei Jahre später wurde er in die irakische Armee einberufen, um den IS zu bekämpfen. Roa'a hat ihren Mann seit dem 13. Dezember 2016 nicht gesehen. "Wir hatten noch keine Kinder", sagt sie VICE. "Wir wollten warten, bis wir aus Mossul entkommen sind, oder bis die Stadt befreit ist."

Die 21-jährige Ola heiratete ihren Cousin 2014, kurz nach dem Beginn der IS-Besatzung Mossuls. Im Mai 2017 verlor sie ihren Mann bei einem IS-Angriff. "IS-Kämpfer sind in unser Viertel eingefallen und haben viele Familien getrennt", sagt Ola. "Wir rannten alle weg, und seither habe ich meinen Mann nicht mehr gesehen. Ich habe keine Ahnung, ob er noch lebt." Sie sagt, sie sei dankbar, dass sie mit ihrem Mann keine Kinder habe. Sie wüsste nicht, wie sie die Kinder allein großziehen würde, solange die Regierung sich weigert, den Familienstatus von Kriegswitwen und -waisen anzuerkennen.

Auch ohne Kinder bleibt Olas Zukunft verbaut. In der patriarchalen Gesellschaftsordnung, die unabhängig vom IS in der Region besteht, wird von Frauen erwartet, dass sie vor der Hochzeit beweisen, dass sie entweder Jungfrauen oder Witwen sind. Die irakische Regierung macht es Tausenden Frauen wie Ola unmöglich, diesen Nachweis zu liefern.

*Name geändert

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