Wir haben Berliner bei ihren Sozialstunden begleitet
Alle Fotos: Josefine Lippmann

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Kriminalität

Wir haben Berliner bei ihren Sozialstunden begleitet

"Müll sammeln, Hintern abwischen, alles ist besser als Knast."

Zwei Männer stehen in einer vollgestaubten Sozialwohnung in Neukölln und putzen die Fenster. Der eine wischt die Rahmen mit Grundreiniger, der andere versprüht Glasspray. Der eine trägt eine neongelbe Hose, das Haar kurz geschoren, der andere hat ein Anarcho-A auf dem linken Oberarm tätowiert. Der eine hat zu viel Speed geschnupft, den anderen hat die Polizei mit Waffen erwischt. Sie heißen René und Till. Indem sie diese Fenster putzen, verhindern sie, dass sie ins Gefängnis müssen.

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Ein Handwerker steht hinter ihnen, raucht und sagt: "Na Jungs, habt euch das wohl hier wie Urlaub vorgestellt?" Sie schweigen und wischen weiter.

In US-Serien wie Better Call Saul sehen Sozialstunden so aus: Typen in Warnwesten sammeln Windeln und Cola-Dosen neben der Autobahn auf, während Aufseher sie anbrüllen. Aber wie läuft das in Deutschland ab?

Allein in Berlin leisteten im vergangenen Jahr etwa 5.000 Menschen sogenannte "freie Arbeit". Sie wurden zu oft beim Schwarzfahren erwischt, haben Wodka im Späti geklaut oder einen Autospiegel abgetreten. Für solche Delikte gibt es in Deutschland in der Regel eine Geldstrafe. Sind die Verurteilten pleite, sprechen Juristen von einer "uneinbringlichen Geldstrafe", und dafür sieht das Strafgesetzbuch eine "Ersatzfreiheitsstrafe" vor. Das heißt: Wer nicht zahlt, muss in den Knast. Wer aber Müll im Park sammelt, alte Leute betreut oder Schulen renoviert, kann das vermeiden. "Schwitzen statt sitzen" nennen es die Sozialarbeiter.

René, Till, Eric, zwei Straftäter und ein Betreuer, der selbst mal ein Verbrecher war. Drei Geschichten von Prügeleien auf Speed, Eltern, die nicht mehr mit einem sprechen, und Reue. Und hinter ihrer Arbeit steht die Frage: "Hilft Fensterputzen Straftätern dabei, ihre kriminellen Karrieren zu beenden?"

René, 33 Jahre alt, 100 Tagessätze

René putzt lieber Fenster, als im Knast zu schmoren – Eric und sein Kollege schauen zu

René nahm so viele Amphetamine, dass seine Freunde ihn "Speedy" nannten. Einmal sei er zwei Wochen lang dauerhigh gewesen, erzählt er. Er fuhr mit dem Mountainbike quer durch Berlin, ohne zu schlafen, hielt nur an, um mehr Pulver zu schnupfen. Bis er von der Polizei kontrolliert wurde, abgemagert und dehydriert.

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Heute ist er um 6 Uhr aufgestanden, es ist Tag 54 von insgesamt 100 Tagen gemeinnütziger Arbeit. Er hilft dabei, Sozialwohnungen zu entrümpeln und zu renovieren. Sechs Stunden pro Tag, fünf Tage die Woche. "Seit April bin ich clean", sagt er.

Mit seiner gelben Neon-Hose und Bauchtasche sieht er aus, als wäre er gerade von einem Rave gekommen. Würde er schwänzen oder zugedröhnt bei der Arbeit erscheinen, bekäme er die Ladung zum Haftantritt. Sein Urteil lautete: hundert Tagessätze à 15 Euro – wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Weil er nicht zahlen kann, bedeuten 100 Tagessätze 100 Tage Knast.

Die Höhe der Geldstrafe wird am Einkommen berechnet. René bezieht Hartz IV, selbst 15 Euro pro Tag sind für ihn zu viel. Fast jeder Dritte, der in Deutschland zu einer Geldstrafe verurteilt wird, bezieht Hartz IV oder hat ein Gehalt, das nicht viel höher ist als Sozialhilfe. Knapp sieben Prozent der Geldstrafen in Deutschland werden daher in Freiheitsstrafen umgewandelt.

René hatte schon mit 15 Jahren ein paar Wochen im Jugendknast verbracht, weil er bei seiner Lehrerin eingebrochen ist. Sein Kumpel habe ihn überredet, einfach nur so zum Spaß, sagt er. "Der Jugendknast war nicht gerade ein Sommerlager." Das Rumsitzen habe ihn verrückt gemacht. Tischtennis mit anderen Insassen war die einzige Ablenkung. "Müll sammeln, Hintern abwischen, alles ist besser als Knast", sagt er.

Seit einem halben Jahr hat er eine Freundin. "Die ist echt gut für mich, aber wenn ich auch nur einen Krümel schnupfe, ist sie sofort weg." Er sagt, er habe begriffen, dass er sein Leben in den Griff bekommen muss. Ist das keine Phrase?

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"Du musst mir nicht glauben, ich muss es."

Seit 1975 ermöglicht ein Gesetz, die Strafe mit unentgeltlicher Arbeit abzuleisten. Wie diese Arbeit abläuft, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland. Der Steuerzahler und Staat sparen Geld, denn ein Tag Haft in Berlin kostet durchschnittlich 140 Euro.

Der Berliner Verein Freie Hilfe hat ihm den Platz vermittelt. Ungefähr 1.200 Fälle betreut dieser pro Jahr. René ist schon das zweite Mal da. Im vergangen Jahr musste er ebenfalls beim Renovieren helfen, weil er drei Mal beim Schwarzfahren erwischt wurde und die BVG Anzeige erstattet hatte.

"Etwa die Hälfte unserer Klienten kommt wegen Schwarzfahrens", sagt Ruth Warkentin. Sie leitet die Abteilung "Arbeit statt Strafe" bei der Freien Hilfe. "Ein typisches Armutsdelikt, genau wie Diebstahl", sagt sie. "Häufig verbunden mit anderen Schwierigkeiten im Leben wie Alkohol, Drogen, Depression."

Ein Lehrer oder Bankangestellter, der ohne Führerschein Auto fährt, zahlt zwar eine höhere Geldstrafe, kann die aber meist bezahlen. "Wer ein normales soziales Umfeld hat, landet nicht bei uns. Notfalls finden die immer jemanden in der Familie, der für die Geldstrafe aufkommt."

René hat schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. "Sie kamen nicht darauf klar, was Speed aus mir gemacht hat." Was genau passiert sei, gehe niemanden etwas an, sagt er. Nur: "Ich habe ihnen sehr weh getan."

Nach dem Urteil bekam er eine Liste zugeschickt mit rund dreißig Einsatzstellen: Altersheime, gemeinnützige Cafés, Sportvereine, Suppenküchen, Sozialkaufhäuser und die Bahnhofsmission. Straftäter, die nicht mehr körperlich schwer arbeiten können, sitzen in Sozialwerkstätten und arbeiten mit der Laubsäge. "Wir versuchen, eigentlich jeden in Arbeit zu vermitteln, der noch laufen kann", sagt Warkentin. René bewegt sich lieber, als irgendwo rumzusitzen. Auch wenn er nüchtern ist.

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Eric, 51 Jahre alt, angestellt bei der Freien Hilfe

Eric: "Es ist verdammt schwer, sich freizukämpfen, wenn man einmal auf die schiefe Bahn geraten ist."

Eric war mal mal drogenabhängig. Von LSD bis Heroin hat er alles probiert. Deswegen, sagt er, habe er gleich gewusst, was mit René los war, als er das erste Mal kam, um die Sozialstunden wegen des Schwarzfahrens abzuleisten: "Der hatte sich vor der Arbeit die Nase gepudert." Er ist als Handwerker bei einer Tochterfirma der Freien Hilfe angestellt, die sich um die vereinseigenen Sozialwohnungen kümmert. Und er betreut die Straffälligen, die dort ihre Stunden ableisten.

"Ich weiß genau, wer wiederkommt und wer nicht", sagt er. Manche Klienten kommen über Jahre hinweg immer wieder.

Kein halbes Jahr hat es gedauert, bis René wieder vor ihm stand. Diesmal wegen Speed.
Und woher weiß er, dass René jetzt clean ist? "Er ist fett geworden", sagt er. "Speed blockt das Hungergefühl und die Leute magern ab."

Eric kennt die andere Seite: "Ich habe mehr Sozialstunden geleistet, als ich zählen kann", sagt er. Er wollte den Liebhaber seiner Frau umbringen. Die Frau ahnte, was er vorhatte, rief die Polizei. Das SEK stürmte die Wohnung. Er kam mit Bewährung und Sozialstunden davon.

Sozialstunden sind nicht für die Resozialisierung da, sondern nur dafür, dass die Leute nicht im Gefängnis landen. Allerdings bietet der geregelte Tagesablauf Struktur, manchmal führt die Arbeit sogar zu einer Festanstellung, aber auf die meisten wartet nach den Sozialstunden die Arbeitslosigkeit. Und damit der Schnaps, das Schwarzfahren und die nächste Geldstrafe. "Es ist verdammt schwer, sich freizukämpfen, wenn man einmal auf die schiefe Bahn geraten ist", sagt Eric.

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Wie er die Wende geschafft hat? "Es geht darum, in den Spiegel zu blicken und sich einzugestehen, dass nicht die Menschheit für deine Probleme verantwortlich ist, sondern du selbst." Ohne Therapie gehe das oft gar nicht. Er fand Arbeit als Handwerker und betreute Schulabbrecher bei der Weiterbildung und aggressionsgestörte Jugendliche. Er ging mit ihnen in den Wald, um Bäume zu pflanzen. Harte körperliche Arbeit, die den Leuten beibringen sollte, Regeln zu befolgen. Danach wechselte er zur Freien Hilfe. Sie suchten Leute wie ihn.

"Ich weiß, was in den Leuten vorgeht, die brauchen keine Strafe, sondern Nähe. Einer, der ihnen sagt, das wird schon wieder." So jemanden hätte er damals auch gerne gehabt.

Till, 39 Jahre alt, 40 Tagessätze

Till wollte nicht, dass sein Gesicht fotografiert wird

Während die Handwerker rauchen und sich Witze über russische Prostituierte erzählen, sitzt Till im Staub auf dem Boden und liest ein Buch. "Geschrieben von einem japanischen Weisheitslehrer", sagt er. "Systemkritisch, wie ich auch."

Till redet nur das Nötigste. Wenn jemand an ihm vorbeigeht, mustert er die Person für einige Sekunden, als würde er versuchen, sie zu röntgen. Letzten Sommer stand er vor dem Reichstag und bekam einen "Rappel", wie er es nennt. Er hatte Speed geschnupft und Bier getrunken. Er schrie in Richtung des Reichstags: "Merkel ist eine Verbrecherin", und: "Warum kümmert ihr euch nicht um uns?" Dann feuerte er seine Bierflasche gegen die Außenmauer des Gebäudes.

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Polizisten nahmen ihn fest. Sie fanden ein Klappmesser und ein Nunchaku-Würgeholz (zwei Holzstücke an einer Kette, die gleiche Waffe, die Bruce Lee benutzt hat und mit der sich Teenager auf YouTube blamieren). "Eigentlich waren die Polizisten sehr nett", meint Till. Sie sagten, dass Merkel im Urlaub sei und dass ihr Büro ohnehin gegenüber im Kanzleramt liege. Eine Anzeige bekam er trotzdem – wegen unerlaubten Waffenbesitzes.

Auch er bezieht Hartz IV und kann die Geldstrafe nicht zahlen. Er erzählt, dass sein Absturz nach dem Abi begann. Er lebte in der Nähe von Hamburg, kiffte täglich, experimentierte mit Halluzinogenen. Seine Ausbildung als Metallbauer hat er trotzdem abgeschlossen. Aber er wollte lieber Künstler sein, Wandgemälde malen und Skulpturen aus Metall formen. Aber davon konnte er nicht leben. Er schlug sich durch als Türsteher, Barkeeper, bezog Hartz IV, landete immer wieder auf der Straße.

Zuletzt für ein halbes Jahr in Berlin. Er trank mehr Bier, nahm noch mehr Speed, fühlte sich immer einsamer. Einmal schlug ihm ein Drogendealer im Görlitzer Park ins Gesicht, weil er sein Bier wollte und Till sich weigerte, es abzugeben. Dann irrte er eines Tages high durch die Straßen und warf die Flasche gegen den Bundestag.

"Ich verabscheue das System", sagt Till. "Aber mit den Sozialstunden und Arbeitslosengeld bist du doch Teil des Systems?" "Ich habe verstanden, dass man nicht immer gegen den Strom schwimmen kann."

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Wände streichen, Boden schrubben, Sessel schleppen: die Arbeit als Renovierungshelfer

Ein Handwerker tritt auf ihn zu und kommandiert ihn zum Fensterputzen. Er schweigt. "Dich tauen wir auch noch auf", sagt der Handwerker. "In ein paar Wochen bist du ein neuer Mensch." Till starrt ihn an und sagt: "Ich bin jeden Tag ein neuer Mensch; wenn ich still bin, heißt das nur, dass in mir etwas arbeitet."

Der Handwerker erzählt von seinem Leben, von dem "Hartz-IV-Sumpf", dem er entkommen sei, weil er nicht aufgegeben hat. Wie ein amerikanischer Motivationstrainer mit Berliner Schnauze redet er übers Scheitern und Wiederaufstehen, während Till schweigend auf einem Farbeimer sitzt. Er sagt: "Du musst es wollen, wat aus dir machen, nie aufgeben, immer vorwärts, du alleine kannst dit' schaffen."

Till schweigt.

"Jetzt hast du was zum Denken", sagt der Handwerker. "Ich denke schon mehr, als es mir gut tut", meint Till. Nach der Arbeit erzählt er, dass er eine vierjährige Tochter hat. Auch deswegen wolle er nicht in den Knast. Ihren Namen hat er sich auf die Hand tätowieren lassen.

Mit der Mutter seines Kindes spricht er kaum noch. Zu seinen eigenen Eltern hat
er gar keinen Kontakt. Er sagt, er habe seine Wut immer an den Leuten ausgelassen, die ihm am nächsten standen.

Als nach dem Flaschenwurf vorm Bundestag die Anzeige bei ihm ankam, ist er abgehauen. Pilgerte den Jakobsweg von der Schweiz bis nach Santiago de Compostela. Dort gab es kein Speed. Till entschloss sich, dass er nicht mehr weglaufen wollte. Er ging zurück nach Berlin und meldete sich bei der Freien Hilfe, um seine Strafe abzuleisten.

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René kommt hinzu setzt sich auf den Boden, raucht und sagt: "Du musst dir eingestehen, dass es deine eigene Schuld ist, wie dein Leben bisher verlaufen ist."

"Das macht einsam", sagt Till. "Das Gefühl, ganz alleine kämpfen zu müssen."

Wollt ihr den Kontakt zu euren Eltern wieder herstellen?

"Ja, irgendwann", sagt René, "wenn ich zeigen kann, dass ich es geschafft habe."

"Ich muss denen Zeit geben", sagt Till. "Die Wunden sind tief."

René geht und schleppt die Putzmittel zurück zum Transporter. Till bleibt. Er wolle noch etwas loswerden, ihm sei da gerade etwas klar geworden.

"Damals", sagt er, "als ich die Flasche gegen den Bundestag warf, da habe ich geschrien: 'Warum kümmert ihr euch nicht um uns?' Aber ich meinte eigentlich: 'Warum kümmert ihr euch nicht um MICH?'"

Ob er schafft, clean zu bleiben?

"Wie kann man das schon wissen?", antwortet er. Er wolle nach den Sozialstunden wieder als freier Künstler arbeiten und auch ab und zu kiffen. Er zeigt ein Foto auf dem Handy, ein Wandgemälde, das er gemalt hat. Ein schreiender Mann mit roten Augen. "Auch er schreit nach Hilfe", sagt Till. Aber aus der Stirn schält sich ein kleinerer Kopf mit stahlblauen Augen. "Das könnte meine Verwandlung sein", sagt er.

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