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Gesundheit

Die Familie, die keinen Schmerz spürt

Hört sich vielleicht gut an, ist es aber nicht.
Foto mit freundlicher Genehmigung von Letizia Marsili

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Als Letizia Marsili sechs war, kletterte sie in ihrer toskanischen Heimat auf alles, was ihr in die Quere kam. Als sie eines Tages einen Mast hochkletterte, rammte sie sich einen herausstehenden Nagel in die Brust. Anstatt vor Schmerz zu schreien, zog sie ihn sich einfach aus dem Fleisch und bedeckte das blutende Loch mit ihrem Hemd. Erst als ihre Mutter Tage später die Wunde beim Baden entdeckte, erfuhr jemand, dass sich das Mädchen beim Spielen verletzt hatte.

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Die heute 52-jährige Italienerin Marsili sagt, egal, ob Fahrradstürze oder verstauchte Füße, sie habe kaum Schmerzen gespürt. "Ich schob es einfach auf meinen starken Charakter."

Marsili, seit 1992 Marine-Ökotoxikologin an der Universität von Siena, hat angeborene Hypalgesie, eine Schmerzunempfindlichkeitsstörung. Dabei handelt es sich um eine seltene genetische Mutation, durch die Menschen keine Schmerzen spüren. Oft sind Betroffene auch unempfindlich gegenüber anderen Reizen wie Hitze oder starkem Druck. Erst in ihren Dreißigern wurde sich Marsili ihrer besonderen Veranlagung dank eines Uni-Kollegen, ein Schmerzforscher, überhaupt bewusst. Da es sich um eine genetische Mutation handelt, sind auch andere Familienmitglieder davon betroffen: ihre Mutter Mary, 78; ihre Schwester Maria Elena, 50; ihre Söhne Ludovico und Bernardo, 24 und 21, und ihre Nichte Virginia, 17.

Gemeinsam stellen die Marsilis für Wissenschaftler die einzigartige Gelegenheit dar, die Gene zu lokalisieren, die für unser Schmerzempfinden verantwortlich sind. In einer Studie, die 2017 in der Fachzeitschrift Brain erschienen ist, gab eine Forschergruppe bekannt, die spezielle Mutation im ZFHX2-Gen der Marsili-Familie gefunden zu haben – und damit ein potenzielles Ziel für alternative Schmerztherapien.


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Eine solche Schmerzunempfindlichkeit ist in der Regel Familiensache, andere neurologischen Anomalien haben die Betroffenen meistens nicht. Je nach Genmutation fallen manche Fälle extremer aus als andere. James Cox, ein Molekularbiologe am University College London und leitender Autor einer aktuellen Studie zu dem Thema, sagt, dass eine betroffene Familie, mit der er in der Vergangenheit zu tun hatte, außerdem keinen Geruchssinn hatte.

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Die Marsili-Familie kann riechen und sie verfügt auch über ein Schmerzempfinden, wenn auch ein gedämpftes. Allerdings macht ihnen scharfes Essen nichts aus, genau so wenig wie besonders heiße oder kalte Temperaturen. Im Winter lassen sie eine Pulli- oder Jackenschicht auch mal weg. Auch andere Familienmitglieder hatten in der Vergangenheit Verletzungen, von denen sie nichts wussten, berichtet Molekularbiologe Cox. Letizia Marsilis Mutter fiel einmal hin und brach sich den Knöchel. Als sie zum Arzt gingen, sah man auf den Röntgenbildern, dass sie ihren Knöchel schon früher einmal gebrochen hatte. Sie hatte keine Ahnung. Ähnliches erlebte auch Letizia Marsilis Sohn: Ärzte entdeckten Kalkeinlagerungen in seinem Ellbogen – ebenfalls ein Indiz dafür, dass dieser in der Vergangenheit schon einmal gebrochen war.

Um das verantwortliche Gen ausfindig zu machen, verwendete Cox die Exom-Sequenzierung – eine Methode der Gen-Sequenzierung, bei der nur die Gene untersucht werden, die etwas tun, also kodieren. Indem er alle betroffenen Familienmitglieder untersuchte und mit einer gesunden Kontrollgruppe verglich, fand er zwei mutierte Gene, die alle schmerzbefreiten Marsilis gemein hatten.

Bislang seien nur wenige Gene bekannt, die für Schmerzunempfindlichkeit sorgen, sagt Geoff Woods, medizinischer Genetiker an der University of Cambridge. Woods ist forscht ebenfalls zu schmerzunempfindlichen Familien, an der aktuellen Studie ist er allerdings nicht beteiligt. "Es ist ein bisschen seltsam, bei angeborener Blind- oder Taubheit sind nämlich ein paar hundert Gene dafür verantwortlich", sagt er. "Bei Schmerz ist es komischerweise nur eine Handvoll."

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Durch das Lokalisieren dieser Gene will man besser verstehen, wie der Körper Schmerz fühlt. Mit diesem Wissen ließe sich Patienten helfen, die unter chronischen Schmerzen leiden. In Deutschland betrifft das zwischen 12 und 15 Millionen Menschen. Für diejenigen, bei denen selbst starke Schmerzmittel nicht mehr wirken oder die eine Toleranz aufgebaut haben, gibt es kaum noch Behandlungsmöglichkeiten.

Das Gen, das Cox und sein Team gefunden haben, kodiert ein sehr großes Protein, das selbst keine bestimmte Funktion hat, aber die Funktionen anderer Gene beeinflusst und wie stark sie sich äußern. Es ist ein Art Schmerzregler. Diese Erkenntnis macht die Sache zwar komplizierter, aber in Woods' Augen auch spannender. "Es legt uns in gewisser Weise einen Weg frei", sagt er. "Zur Behandlung chronischer Schmerzen kann man entweder eine Methode suchen, das Gen selbst zu blockieren oder einige seiner nachgeschalteten Ziele. "

Allerdings lassen sich genetische Erkenntnisse nicht immer perfekt in eine Behandlungsmethode übertragen. Eine besonders vielversprechende Entdeckung von Woods zeigte kaum einen Effekt, als er das entsprechende Gen bei einer Maus ausschaltete. "Das war ein großer Schock, weil wir davon ausgegangen waren, dass sich das Gen und Protein wunderbar als Schmerzblockade eignen würde", sagt er. "Es hätte ein wundervolles Schmerzmittel sein sollen, war es aber nicht."

Ein Medikament, das auf einem anderen Gen basiert, das bereits vor Jahrzehnten bei schmerzfreien Familien festgestellt wurde, unterläuft gerade klinische Tests. Bislang seien die Ergebnisse laut Woods vielversprechend. Auch diese Mutation sei sehr selten, "aber trotzdem zeigt sie uns immer noch einen Schmerz-Pfad. Wenn du diesen blockierst, blockierst du den Schmerz ohne Nebenwirkungen", so Woods.

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Bei all dem geht es nicht darum, andere Menschen so schmerzunempfindlich wie diese Familien zu machen, sondern Behandlungswege für Menschen zu finden, bei denen der Schmerz nicht aufhören will. Zu beneiden sind schmerzunempfindliche Menschen nämlich überhaupt nicht.

Vor allem Kinder mit dieser Veranlagung leben gefährlich: Sie beißen ihre Fingerkuppen ab oder kauen ihre Lippen kaputt. "Kleinkinder erkunden die Welt mit ihrem Mund und ihren Zähnen", sagt Woods. "Manche verbrennen sich, weil sie auf eine Heizung setzen oder auf eine heiße Herdplatte fassen." Woods sagt, dass ein 12-jähriger Junge, den er behandelt hatte, gerne Kämpfe auf dem Schulhof anzettelte. "So verhältst du dich nur, wenn du keine Schmerzen spürst."

Leider sei es normal für Menschen mit dieser Veranlagung, sich ernsthaft zu verletzen und in Lebensgefahr zu bringen. "Das ist eine der großen Erkenntnisse zu vererbten Schmerzunempfindlichkeit", sagt Woods. "Es sind in der Regel männliche Betroffene, die frühzeitig sterben. Das liegt daran, dass sie übertriebene Risiken eingehen. Es gibt keinen Schmerz, der ihr Verhalten einschränkt. Uns sind einige tragische Geschichten bekannt, bei denen diese Personen verrückte Dinge getan haben, weil es für sie einfach keinen Grund gab, sie nicht zu tun. Selbst wenn sie schwer gestürzt waren oder eine Verletzung hatten, haben sie einfach keinen Schmerz gespürt."

Deswegen ist es für Betroffene umso wichtiger, Schranken aufgesetzt zu bekommen. Alle Marsili-Kinder hatten bislang Glück. Und da die Familie von ihrer Veranlagung weiß, achten alle viel mehr auf ihre Körper, so leicht die Empfindungen auch sein mögen. "Positiv daran ist, dass es uns fast immer gut geht. Die Kehrseite ist aber, dass wir sehr aufmerksam auf unsere Körper hören müssen, um Schmerzen nicht zu unterschätzen", sagt Letizia Marsili.

Auch weil sie selbst Wissenschaftlerin ist, ist die 52-Jährige froh, mit ihrer Familie als "Versuchskaninchen" dienen zu können. Dadurch könnten sie ihre eigene Veranlagung besser verstehen und anderen gleichzeitig helfen. "Die Forscher können sich in unserem Fall tatsächlich nur die Rosinen rauspicken."

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