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„Schwarzer Humor ist wie ein Flüchtlingsboot: Kommt nicht immer gut an.“

Selim M. alias ,Minusmensch' über seine Facebook-Seite, das Gay-Prank-Video von seinem Buddy Mert Matan und die Definition von schwarzem Humor.

„Humor darf alles. Schwarzer Humor kennt keine Grenzen." Dazu steht Selim M. Kein Versteckspiel: auf seiner Facebook-Seite Minusmensch stellt er in der Selbstbeschreibung klar, was seine Besucher erwartet: „Das alles ist mein Humor! Ich liebe #Schwarzerhumor und #Frauenfeindliche-Sprüche. Humorbehinderte Menschen sind hier komplett falsch."

Ein Teil der Posts auf Minusmensch ist völlig harmlos: Witze über den Schulalltag, Pranks, Deutschrap-Videos. Doch immer mal wieder schlägt der etwas andere Humor durch. Zum Beispiel in „witzigen" Tutorials darüber, wie man Kinder richtig schlägt …

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Alle Screenshots sind am 29.03.2016 auf der Seite ‚Minusmensch' gemacht worden. Die dazugehörigen Posts sind mittlerweile nicht mehr online

… oder in Posts, die ein recht starres Frauenbild vermitteln:

Screenshot: ‚Minusmensch'

„Wenn sich jemand aufregt, dann entschuldige ich mich dafür. Hauptsache, sie melden mich nicht. Ich sage immer: Tut mir Leid, es ist ein ekelhafter schwarzer Humor und ich bitte dich, meine Seite einfach zu disliken", so Selim M. am Telefon gegenüber VICE. Persönliche Nachrichten, die seine Haltung gegenüber Frauen kritisieren, bekommt Selim laut eigener Aussage mittlerweile nur noch selten: „Mittlerweile sind die Leute, die ich habe, keine, die sich aufregen würden. Früher schon. (…) Im Jahr bekomme ich vielleicht nur noch fünf solcher Nachrichten."

Verglichen mit dem Gesamtumfang an Likes und Kommentaren macht der kritische Anteil tatsächlich eine geringe Menge aus. Über die Jahre scheint Selim auf seiner Seite eine recht homogene Gruppe versammelt zu haben: „Mein Konzept ist: Ich achte sowieso, dass mehr Kanaken bei mir sind und nicht Deutsche, denn mit Deutschen bringt es gar nichts. Die liken ungern. Die denken, du kriegst pro Like einen Euro. (…) Kanaken sind da anders: Die klicken, liken, ficken Mütter, alles." Selims Konzept geht auf. Posts, die weniger als 10.000 Likes zählen, sind eher die Ausnahme, 20.000 oder 30.000 Likes und Tausende Kommentare zu einem Bild oder Video sind keine Seltenheit. Und manchmal sorgt ein Post dann doch für kritische Aufreger:

Screenshot: ‚Minusmensch'

Natürlich ist ein Disput über das Frausein in den Kommentaren erwünscht—nicht nur, weil er Traffic bringt, sondern weil andere die Advokatenrolle für Selim übernehmen: „Wenn mal eine so was kommentiert, werden die Leute, die meine Seite gelikt haben, sofort Gegenkommentare geben. Das ist das Geile. Dann schreiben sie: „Nimm das mit Humor!" Oder Ähnliches." Sobald die Gegenkommentaren es selbst aber an Humor vermissen lassen, wird der Ton auch Selim gegenüber anders:

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„Ich provoziere gerne, sehr gerne sogar", sagt Selim. Darin liegt natürlich Kalkül. Vor über acht Jahren begann Selim, sich in die Social-Media-Welt einzufuchsen, und bereits 2005 hatte er einen eigenen YouTube-Channel mit 600.000 Abonnenten. Da war er noch Schüler, die Seite nur Hobby und keine Einnahmequelle wie heute, wo er laut eigenen Angaben im Monat über 10.000 Euro verdient. Von GEMA hatte er damals noch nie etwas gehört—seine Seite wurde gesperrt, die 600.000 Abonnenten waren auf einen Schlag weg. Selim fing wieder bei null an. Er arbeitete sich hoch, bis er zwischenzeitig an die 200 Facebook-Seiten erstellt hatte und noch während seiner Ausbildung als Einzelhandelskaufmann bei Saturn seine erste Minusmensch-Seite mit einem Freund gründete. Im Unterricht schlich er sich raus oder nutzte Toilettenpausen, um Videos zu posten und die Seite weiter wachsen zu lassen. Er erzählte uns, dass alles so lange gut lief, bis sein Partner ihn als Admin sperrte und es zum Zerwürfnis kam. Das ist auch der Grund, warum es heute zwei große Minusmensch-Seiten gibt. Selim fing wieder von vorne an und überflügelte schließlich seine ursprüngliche Minusmensch-Seite. 835.000 zu 463.0000 Abonnenten ist das aktuelle Verhältnis.

Sein Erfolgsgeheimnis begründen auch Tricks wie das Einbauen von absichtlichen Rechtschreibfehlern. Auch darüber regen sich die Leute auf, auch das fördert den „Hype", wie Selim es sagen würde. Rechtschreibfehler und ein Humor wie auf Grund gelaufene Flüchtlingsboote. „Ich bin selber ein Flüchtlingskind. Ich lebe seit 2002 in Deutschland", erzählt Selim. Er ist ein Kurde aus Syrien und als politisch verfolgte Flüchtlinge haben sich er und seine Familienmitglieder nach Deutschland gerettet: „Hierher geflüchtet, auch so wie diese Menschen heute flüchten mit Booten und so. (…) Ich nehme vieles mit Humor. Ich nehme sogar Beleidigung gegen meine Familie oder gegen Kurden mit Humor." Die Beleidigungen gingen sogar so weit, dass Selim Morddrohungen bekam, als er auf seiner überwiegend auf Unterhaltung ausgelegten Seiten ein paar politische Beiträge über den Führungsstil von Erdoğan teilte. Aber selbst das nimmt er mit Humor—man kann Selim vieles vorwerfen, nicht aber, dass er selbst das vermissen ließe, was er anderen abverlange: ein dickes Fell.

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Dagegen muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, manchmal nicht nachzudenken. Zum Beispiel als er das Gay-Prank-Video von seinem gutem Freund Mert Matan auf Minusmensch postete und ihm nicht in den Sinn kam, auf wie vielen Ebenen das Video eigentlich traurig und diskriminierend ist. „Ich fand das auch witzig. Ich bin ehrlich, wir hätten niemals gedacht, dass eine so krasse Reaktion kommen würde. Durch meine Seite wurde alles auseinandergenommen bei ihm", sagt er über den Shitstorm, der über Mert hereinbrach.

Dabei machte Selim im Gespräch überhaupt nicht den Eindruck einer homophoben Person. Im Gegenteil: „Ich habe nichts gegen Schwule. (…) Jeder soll machen, was er will. Wir leben in einem freien Land", betont er. Und auch seine Frauenverachtung wird zumindest ein klein wenig relativiert, wenn man weiß, dass ihm auch die Facebook-Seite Der Roméo gehört, wo er dem weiblichen Geschlecht gegenüber ganz andere Töne anschlägt.

Zugegeben, auch hier besteht das antiquierte Weltbild von schwachen, zarten, anmutigen Frauennaturen und Männern, die diese heiligen Wesen anbetungswürdig umsorgen sollen. Aber immerhin ist auf Der Roméo nicht von Frauen als Huren die Rede.

Screenshot: ‚Minusmensch' (Unkenntlichmachung von uns)

Selim ist vielschichtiger als er mit Minusmensch den Eindruck erweckt, aber bei einer Facebook-Seite, die auf die 1-Million-Abonnenten-Marke zusteuert und Like-Zahlen, bei denen selbst Leitmedien vor Neid erblassen, zählt, was an Inhalten auf der Facebook-Chronik präsentiert wird. Aber Selim alleine für die Inhalte auf Minusmensch verantwortlich zu machen, griffe zu kurz. Nach fast zehn Jahren permanenter Auseinandersetzung mit dem Internet weiß er, was die User wollen, er bietet, was nachgefragt wird: „Wenn ich eins kann, dass ist das YouTube pushen, Links pushen, Bilder erstellen, bearbeiten. Ich weiß, was am besten ankommt. Ich bin langsam so etwas wie ein Facebook-Doctor geworden. Ich kenne mich mit Facebook wirklich richtig gut aus."

Selim versteht sich darauf, an welchen Hebeln im Internet zu ziehen ist—wer in verkitschter Bollywood-Romatik die Nostalgie verflossener Lieben nachspüren möchte, dem bietet er mit Der Roméo die perfekte Plattform und wem der Sexismus in Mario Barths dichotomem Weltbild nicht weit genug geht, dem wird mit Minusmensch Abhilfe verschafft. Die insgesamt knapp 1.000.000 Abonnenten suchen freiwillig Selims Seiten auf, die Frage bleibt aber, ob an den Hebeln wirklich gezogen werden muss, bloß weil sie gefunden wurden. Aber vor diesem Dilemma stehen wir Medienmenschen alle.