Ich habe mich in einer Woche auf so viele Weihnachtsfeiern wie möglich eingeschlichen
Foto: Rebecca Rütten

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Ich habe mich in einer Woche auf so viele Weihnachtsfeiern wie möglich eingeschlichen

Sie gaben mir Glühwein, stellten sich alle reihum vor und waren so freundlich zu mir, dass ich anfing, mich zu schämen.

Weihnachtsfeiern sind das Bungeejumping des Bürolebens: Zuerst hat man Angst vor ihnen, dann hat man plötzlich doch Spaß, und wenn es schiefläuft, klatscht man als zerschmetterter Fleischhaufen in einen Bergbach. Und muss dann noch unangenehme Entschuldigungs-Mails schreiben.

Dass Weihnachtsfeiern die deutschen Arbeitnehmer wirklich nervös machen, belegen die immergleichen "Weihnachtsfeier-Knigge"-Artikel, die im Dezember in jeder Zeitung auftauchen und einem augenzwinkernd erklären, dass man auf keinen Fall das Buffet plündern, Jäger-Shots mit dem CEO ballern oder ins "Fettnäpfchen Büroflirt" treten sollte.

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Andererseits haben die Leute Recht mit ihrer Angst, denn es passiert tatsächlich regelmäßig völlig verrücktes Zeug auf Weihnachtsfeiern: Franz Beckenbauer hat dort ein Kind gezeugt (Knigge nicht gelesen), und allein dieses Jahr sind zahlreiche Feiern in ganz Deutschland in Massenschlägereien unter Kollegen geendet.

Um diese eskalative Welt der Weihnachtsfeiern zu erkunden, habe ich versucht, in einer Woche auf so viele – und so verschiedene – Weihnachtsfeiern wie möglich zu gehen. Um das Ganze wissenschaftlich korrekt zu gestalten, habe ich mir eine objektive Skala überlegt, nach der ich jede Feier bewerten werde. Die Kriterien: Anzahl der Menschen, Ausgelassenheit, sexuelle Spannung im Raum.

1. Die Weihnachtsfeier des Kreisverbands der Grünen Treptow-Köpenick

Eigentlich wollte ich an dem Abend auf die Feier der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag gehen, so richtig mit Angela Merkel und Peter Tauber und Catering, aber leider wollte mich da keiner haben. Also fand ich diese Alternative auf Facebook. Offiziell richtete sich die Einladung an "alle Mitglieder, Grün-Interessierte und Grün-Bewegte", also hoffte ich, dass sich dort zumindest eine kleine Menge angesammelt haben würde, in der ich unauffällig herumstreunen könnte.

Dem war nicht so. Stattdessen saßen dort ungefähr zwölf Grüne um einen Tisch, die sich alle gegenseitig kannten und sich außerordentlich freuten, als ein echter "Anwohner" (ich hatte mir vorher schnell eine Adresse in dem Bezirk ergoogelt) auftauchte. Sie gaben mir Glühwein, stellten sich alle reihum vor und waren so freundlich zu mir, dass ich anfing, mich zu schämen.

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Zum Glück stellten sie mir nicht allzu viele Fragen und so konnte ich schnell in das Leben eines kleinen Kreisverbandes eintauchen: Es ging darum, ob man noch Plakate von der Bundestagswahl einsammeln müsse, das Scheitern von Jamaika und die Renovierung an irgendeinem großen Bahnhof in der Nähe. Nach knapp einer Stunde wurden die Gespräche unterbrochen, um eine Art Tabu zu spielen, bei dem man die Begriffe auch zeichnen durfte. Mit dabei waren so aufregende Worte wie "Glühbirne", "Sondierungsgespräche" oder "Anton Hofreiter" ("Der Toni! Der Toni!"). Nach ein paar Runden ergriff ich die Flucht.

Menschen: 12
Ausgelassenheit: 3/10
Sexuelle Spannung im Raum: 1/10 ("Toni")

2. Die Zalando-Influencer-Weihnachtsfeier

Dieser Abend war ein ziemlicher Kontrast. Über eine Kollegin hatte ich es geschafft, auf diese Party zu kommen, die Zalando anscheinend für "ihre" Instagrammer und Influencer ausrichtet. Die ganze Deko war golden, überall gab es tolle Spots zum Selfies-Machen und die Gäste sahen alle aus, als würden sie in einem Trap-Musikvideo mitspielen: schön, ein bisschen sonderbar, aber mit sehr teuren Klamotten.

Es gab eine Bar, die die Influencer gratis mit Whisky Sours und "Skinny Bitches" versorgte, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass irgendjemand hier war, um sich wirklich gehen zu lassen. Dafür musste man aber aufpassen, nicht ständig von Mädchen angerempelt zu werden, die gerade für ihre Insta-Story mit dem Handy am ausgestreckten Arm quer durch den Raum steuerten.

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Meine Lieblingsbegegnung an dem Abend: Als ich aufs Klo gehen wollte und aus Versehen in irgendeinen VIP-Room lief, stand plötzlich Yung Hurn vor mir, rief laut "Oida, raus hier!" und knallte mir die Tür vor der Nase zu. Glamorous! Meine zweitliebste Begegnung war mit einem sehr großgewachsenen Influencer, der permanent Englisch sprach, obwohl wir beide deutsch waren, und der mir erklärte, dass das Licht in Paris besser für Selfies sei.

Menschen: rund 150
Ausgelassenheit: 4/10
Sexuelle Spannung im Raum: 0/10

3. Die Weihnachtsfeier einer Marketing-Beratung

Das war meine erste authentische Büro-Weihnachtsfeier, und sie war ziemlich so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Beim Abendessen konnte ich zwar nicht dabei sein, dafür kam ich dazu, als das ganze Team schon in einen Westberliner Club weitergezogen war. Dort hatte die Firma ein paar Tische mit Wodkaflaschen reserviert, um die die Berater herumstanden oder -saßen und sich unterhielten, wenn sie nicht gerade tanzten.

Ich redete eine Weile mit einer Frau im Hosenanzug, die sich als extra aus London eingeflogene "Partnerin" (also Chefin) herausstellte und die so gut wie alle meine Theorien zu Weihnachtsfeiern behämmert fand. Als ich ihr erklären wollte, dass Weihnachtsfeiern ja genau deshalb so lustig sind, weil sich so viele über das ganze Jahr aufgestaute Spannungen an einem alkoholgetränkten Abend entladen, schüttelte sie nur missbilligend den Kopf. "Ich habe das Gefühl, das Team hier in Berlin arbeitet sehr harmonisch zusammen. Ein sehr harmonisches Team." Dann schaute sie mich an, als würde sie angestrengt überlegen, wie jemand, der so viel Mist redet, überhaupt so lange überlebt hat. Ungefähr da versuchte einer der Männer aufzustehen, rutschte aus und wäre fast in den Tisch gekracht, wenn ihn zwei andere nicht gefangen hätten. "Das ist unser vollster Kollege, haha!", rief mir jemand zu. Vielleicht hatte die Frau ja Recht: Obwohl die Musik in dem Club grauenhaft war, waren die Berater viel enthusiastischer als die Instagrammer.

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Menschen: 25
Ausgelassenheit: 6/10
Sexuelle Spannung im Raum: 6/10 (Hosenanzüge!)

4. Die Weihnachtsfeier einer unbekannten Firma

An diesem Abend wollte ich eigentlich die Bild-Weihnachtsfeier crashen, erfuhr dann aber am selben Tag, dass die Bild sich genau auf Leute wie mich vorbereitet hatte und man jetzt nur noch mit Einladung, Hausausweis und Iris-Scan in die Party kam. Weil ich keine andere Feier organisiert hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir einen Blazer anzuziehen und auf gut Glück große Party-Locations in Berlin abzulaufen. Nachdem ich im Regen schon drei verschiedene Locations abgelatscht hatte, die alle verrammelt gewesen waren, hatte ich beim "Ballhaus Berlin" endlich Glück.

Dankbar und verfroren näherte ich mich vorsichtig dem Eingang, aus dem mir laute Musik, Wärme und der angenehme Geruch von Menschen und Alkohol entgegenschlug. Vor der Tür standen ein paar Gäste und rauchten, die ich so selbstverständlich wie möglich fragte, wie sie denn die Weihnachtsfeier bis jetzt fänden. "Richtig geil!", sagten sie, aber mir fiel leider kein Weg ein, wie ich unauffällig fragen könnte, bei welcher Firma wir eigentlich alle arbeiten. Also versuchte ich einfach mein Glück und steuerte auf den Eingang zu – wo mich prompt ein Türsteher fragte, wo ich hin will. "Zur Weihnachtsfeier" reichte ihm nicht, und da ihn keines meiner ausgeklügelten Argumente, sondern nur der Name der Firma interessierte, schmiss er mich schnell wieder raus. Traurig schlurfte ich durch den Regen nach Hause, wo ich mir dann eine eigene kleine Trost-Weihnachtsfeier ausrichtete.

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Menschen: 1
Ausgelassenheit: 2/10
Sexuelle Spannung im Raum: ;-)

5. Die VICE-Weihnachtsfeier

Eigentlich hatte ich nicht vor, unsere eigene Weihnachtsfeier in die Geschichte einzubeziehen, aber sie fiel leider genau in die Mitte dieser Woche. Und was soll ich sagen? Vielleicht lag es einfach daran, dass ich nicht die ganze Zeit lügen musste, nur um an meinen Alkohol zu kommen, vielleicht auch daran, dass unsere Finance-Chefin System of a Down gesungen hat, aber unsere Weihnachtsfeier war natürlich die beste. Außerdem haben sich alle exzellent benommen, waren gelöst, aber respektvoll im Umgang miteinander und vor allem IST ÜBERHAUPT NICHTS PASSIERT, WAS IRGENDJEMANDEM PEINLICH SEIN MÜSSTE!

Menschen: 200
Ausgelassenheit: 10/10
Sexuelle Spannung im Raum: 10/10 (aber respektvoll)

6. Die Weihnachtsfeier der Fachschaftsinitiative Germanistik an einer Berliner Uni

Diesen Kracher hatte ich mir für meinen letzten Abend aufgehoben. Ich hatte große Erwartungen, immerhin wurde die Party auf der Facebook-Seite mit "Ä Tännschen, please!" angekündigt. Auf der Seite versprach die Fachschaft außerdem noch ein ganz besonderes Highlight: das berühmte "Gedichtewichteln"!

Die ganze Feier fand in einem mittelgroßen Seminarraum statt, den man notdürftig mit farbigen Tischtüchern, ein paar Glitzersternen und einem kleinen Weihnachtsbaum auf dem Dozentenpult geschmückt hatte. In dem Raum hatten sich ungefähr 40 Studierende bei Keksen, Glühwein und warmem Bier versammelt. Als ich reinkam, erklärte ein äußerst gutgelaunter, wasserstoffblonder Mann im schwarzen Tank-Top gerade das Programm des Abends, und tatsächlich: Das Gedichtewichteln war der "programmatische Höhepunkt"! Aufregend. In der nächsten Stunde durften die Gäste sich einen Begriff vom Baum ziehen, zu dem sie dann einen Text ("Alles ist erlaubt, von Sonett bis Krankenschein!") schreiben mussten. Die Studierenden um mich herum waren ziemlich aufgekratzt und unterhielten sich angeregt ("Erasmus ist ja meine einzige Chance, mal in einer kleineren Stadt zu leben", "Warum kriege ich immer so einen bescheuerten Akzent, wenn ich betrunken bin?", "Du kannst nicht zu mir kommen, der Kater meiner Freundin hasst Männer"), aber ich konnte es kaum erwarten.

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Und dann ging es endlich los: Der fröhliche Germanistik-Punk rannte mit dem Mikro durch den Raum, und Leute meldeten sich freiwillig, um die anonymen Texte ihrer Kommilitonen vorzulesen. Was folgte, war ein Feuerwerk an ungebremster Germanisten-Kreativität. Meine persönlichen Favoriten waren die Highlights "Ich hör gern Schlager mit meinem Schwager", "Wurst Case Scenario" und "Deine Mutter ist ungehorsam", aber nichts reichte an die folgenden Zeilen heran, die unangefochten über allen anderen schwebten:

Tut es jucken in der Spalte,
Ist es Kacke, und zwar alte.

Edle Einfalt, stille Größe. Selbst Goethe hätte ihnen für diese Kunst das warme Bier verziehen. Ergriffen machte ich mich auf den Heimweg.

Menschen: 40
Ausgelassenheit: 9/10
Sexuelle Spannung im Raum: 5/10 (-1 für den Kater)

Fazit

Was habe ich gelernt? Schwer zu sagen. Jede Gruppe ist auf ihre ganz eigene Art und Weise eigenartig, und die Weihnachtsfeier verstärkt diese Eigenartigkeit enorm.

Und: Die Grünen Treptow-Köpenick sind sehr freundliche und engagierte Leute, die sich wirklich für die Umwelt im Allgemeinen und die Fahrradwege in Treptow-Köpenick im Besonderen einsetzen. Schaut da mal vorbei!

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