Zwischen Alkoholverbot und Saufprotest: Eine Woche "Prohibition" am Praterstern
Foto: Martin Dürr | Flickr | CC BY 2.0

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Zwischen Alkoholverbot und Saufprotest: Eine Woche "Prohibition" am Praterstern

Es geht um mehr als nur eine Substanz. Zum Beispiel um die Menschen, die durch das Verbot verdrängt werden. Wer kümmert sich um Betroffene? Und was bringt die Regelung bis jetzt?

Am 1. Mai tippte mir am Praterstern eine deutsche Touristin auf die Schulter und ermahnte mich: "Passen Sie mal lieber besser auf Ihr Smartphone auf. Das hier ist ein gefährlicher Ort, habe ich gehört!“ Vier ganze Tage hatte sie schon in Wien verbracht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass es Zeit ist, dem "Praterstern-Bashing“ ein paar differenzierter Beobachtungen entgegenzustellen.

Mit Schlagzeilen wie "Mega-Randale am Praterstern“ und "Praterstern völlig außer Kontrolle geraten“ malte die Boulevardpresse in den letzten Monaten ein dystopisch apokalyptisches Bild des hochfrequentierten Verkehrsknotenpunktes im zweiten Wiener Gemeindebezirk.

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In den Artikeln ist die Rede von wilden alkoholgetränkten Straßenkämpfen am "Krimi-Hotspot“ und von Dealerbanden, die "bei Kaufunwilligen einfach brutal zuschlagen“. Dass beispielsweise ein Fall wie der zuletzt zitierte nur ein einziges Mal registriert wurde, ist dabei unwichtig.

"Dass alle möglichen Leute dort trinken, hat was Verbindendes – man könnte den Praterstern fast schon als Kulturgut bezeichnen."

Wir haben uns den Praterstern eine Woche lang näher angesehen, beginnend mit dem Tag vor dem Verbot, und dabei viele Meinungen gehört, die einen gewissen Perspektivenwechsel auf den Praterstern und das kürzlich erlassene Alkoholverbot mit sich bringen.

Besonders die Erfahrungen der Menschen, die sich zum "Vorglühen“ oder auf dem Arbeitsweg regelmäßig am Praterstern aufhalten, sprechen eine andere Sprache als die Boulevardpresse. Zwar geben viele zu, dass es sich beim "Stern“ ihrer Meinung nach nicht um den sichersten Ort in Wien handeln würde – aber gleichzeitig äußerte auch niemand, den wir befragt haben, manifeste Angstgefühle.

Unsere ersten Eindrücke haben wir beim Facebook-Event "Letztes Mal Saufen am Praterstern“ gesammelt. So meint zum Beispiel der Demonstrant Martin im Gespräch mit VICE: "Der Praterstern war halt für uns schon seit Jahren ein Platz, wo wir gern mal eine Hüls'n trinken, bevor wir ins Fluc schauen. Ist halt einfach billiger.“ Cornelius erzählt melancholisch, dass er den Praterstern immer als sozialen Schmelztiegel wahrgenommen hat. "Dass alle möglichen Leute dort trinken, hat was Verbindendes – man könnte den Praterstern fast schon als Kulturgut bezeichnen.“ Er ist auf jeden Fall genau wie andere Gesprächspartner "froh drüber, dass das Fluc vom Alkoholverbot ausgenommen ist“.

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Andere Gesprächspartner, das sind unter anderem Maria und Valentina. Sie sind nicht gekommen, um die gemütliche Atmosphäre des Pratersterns zu verteidigen. Valentina spricht von einer "Verdrängung Suchtkranker Menschen“ und sagt: "Ein kleines Statement der Solidarität zu setzen, ist schon wichtig.“ Paul erzählt von deutschen Studenten, die ein erlassenes, allgemeines Alkoholverbot in Meppen als diskriminierend empfanden, vor Gericht gingen und dort Recht bekamen. "Das Verbot sollte nicht alle treffen. Es muss ein Unterschied zwischen Alkoholmissbrauch und Genuss gemacht werden", sagt er. "Es sind ja nur ein paar Leute, die an solchen Orten wirklich gefährlich werden – die kann man auch anders und billiger unter Kontrolle halten.“

Auch die Pressesprecherin der Wiener Polizei, Irina Steirer, erklärt im Interview mit VICE: "Der Praterstern ist per se nicht gefährlicher als andere Orte in Wien – vor allem wenn man die Straftaten vor dem Hintergrund des hohen Personenaufkommens betrachtet. Außerdem ist die Kriminalität am Praterstern in den letzten Jahren eindeutig rückläufig.“ Vor diesem Hintergrund wirkt das Alkoholverbot wie eine billige politische PR-Aktion.

Polizeipressesprecherin Steirer meint aber weiter: "Die Zahlen haben gezeigt, dass rund 50 Prozent der Straftaten am Praterstern von Personen begangen werden, die alkoholisiert sind. Jeden dritten Tag gibt es einen Einsatz am Praterstern, bei dem eine Person ins Krankenhaus gebracht wird, weil sie nicht mehr gehen oder stehen kann“. Auf die Frage, wie man denn die Sicherheit und Versorgung dieser suchtkranken Personen gewährleisten kann, wenn diese sich in alle Richtungen verteilen, antwortet sie: "Diese Maßnahme ist ja nur eine Maßnahme von vielen. Welche anderen Maßnahmen es geben wird, kann ich Ihnen nicht beantworten.“

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Es wird also gewiss auch irgendwie geholfen, selbst wenn man nicht so ganz weiß, wo. Aber wie genau? Und was denken die Helfenden eigentlich über das Vorgehen?

Für die Leiterin der Mobilen Sozialen Arbeit der Suchthilfe Wien, Elisabeth Odelga-Öcker, ist die derzeitige politische Vorgangsweise aus sozialarbeiterischer Perspektive nicht sonderlich sinnvoll. Sie arbeitet seit 10 Jahren vor Ort mit den betroffenen Alkoholkranken und weiß: "Suchtkranke sind nicht plötzlich weniger süchtig, wenn Alkohol schwieriger verfügbar ist.“ Sie reagiert damit auf eine Stellungnahme des sogenannten Suchtexperten Michael Musalek im Ö1-Mittagsjournal, nach dessen Aussage der Konsum abnehmen soll, wenn der Alkohol nicht unmittelbar in Reichweite ist.

Odelga-Öcker von der Suchthilfe meint hingegen: "Die Menschen werden eben mehr Aufwand betreiben, um an die Substanz zu kommen.“ Der hohe Zeitaufwand, der für das Beschaffen der Substanz aufgewandt wird, listet das psychiatrische Klassifikationsschema DSM-5 übrigens als Definitionsmerkmal von Sucht. Jedoch seien nach Odelga-Öcker genau jene Suchtkranken die Zielgruppe des Verbots. "Es ist ja gerade der schlimme gesundheitliche Zustand solcher Menschen, der von den Passanten nicht gesehen werden soll.“

Nach Meinung der Expertin sollte die Politik die hohen Geldsummen, die für die Alkoholkontrollen aufgebracht werden, eher in sozialmedizinische Dienste investieren, statt eine Verdrängung und Aufsplitterung der kranken Menschen zu erwirken. "Ärzte und Psychotherapeuten sollten sich vor Ort akut um die schwierigen Gesundheitslagen der Menschen kümmern,“ meinte sie im Interview mit VICE. Wenn der gesundheitliche Zustand der Betroffenen stabilisiert und den Betroffenen eine klarere Sicht auf ihr Leben ermöglicht wird, können auch einfacher potentielle Zukunftsperspektiven erarbeitet werden.

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Auch eine Zusammenarbeit mit sozialen Diensten aus den Herkunftsländern sollte mehr vorangetrieben werden. "Dann kann man den Obdachlosen und Suchtkranken auch die Möglichkeit eröffnen, in ihrem Herkunftsland einen Neustart zu machen. Das ist oft realistischer.“ Vor dem Beschluss hat die Stadt Wien mit der ÖBB und den Wiener Linien über den Sinn und die Umsetzung des Alkoholverbotes diskutiert. "Mit der Sozialen Arbeit, also mit den Professionellen vor Ort, die die Lage wohl am Besten einschätzen können, hat es keine Absprache gegeben.“

Die Leiterin der Sozialen Arbeit meint weiter: "Beim Alkoholkonsum am Praterstern geht es um viel mehr als um eine Substanz, und ihr Verbot. Es sind viele Faktoren die da zusammenwirken. Erst anzusetzen, wenn die Menschen schon abhängig sind, ist der falsche Zugang.“

Für den Universitätsprofessor und Politikwissenschaftler Peter Filzmaier ist die politische Vorgangsweise am Praterstern kein großes Rätsel. Im Interview mit VICE erzählt er: “Die Stadt, und speziell die SPÖ, will nicht immer nur reagieren müssen, wenn grade was passiert. Jetzt ist es gerade eher ruhig – da macht es Sinn, proaktiv eine Handlung zu setzen. Das ist in der politischen Kommunikation ein geradezu übliches Schema. In der aktuellen Politik profitiert tendenziell der, der überraschende Handlungen setzt.“ Er könne nur eine Analyse dieser politischen Logik vornehmen. Darüber urteilen, ob diese sinnvoll ist oder nicht, könne er aber nicht. "Gesundheitspolitische Maßnahmen sind auf jeden Fall komplexer umzusetzen, auch wenn sie gleich oder besser wirken könnten“, sagt Filzmaier.

In den letzten Tagen hält sich die Szene, laut Beobachtungen der lokal agierenden Sozialarbeiter, weniger im zentralen Bereich des Pratersterns auf. Stattdessen zerstreut sie sich an den Rändern des Pratersterns. Um Alkohol zu kaufen, werden die Leute wohl weiterhin den Billa am Praterstern aufsuchen. Manche, wie die obdachlose Anja, für die der Praterstern seit mehreren Jahren ihr Zuhause ist, lassen sich auch vom Konsumverbot nicht abhalten. Im Gespräch mit VICE sagt sie: "Mir ist wurscht, was die da oben auskopfen. Ich trink einfach weiter mein Bier hier am Stern.“

Jäger, die Leiterin des Bereichs Öffentlicher Raum und Sicherheit, stellte auch fest, dass Wien ein vergleichsweise harmloses Pflaster ist, was den Konsum von Drogen und die Kriminalität unter Alkoholeinfluss angeht. "Aber der Praterstern war eben immer ein Treffpunkt für Menschen am Rand der Gesellschaft. Das ist schon mindestens so, seit ich in Wien bin – und das sind jetzt über 35 Jahre“, meint Frau Jäger. Langfristig zeigen Statistiken, dass die Kriminalität in Wien – wie in allen westlichen Großstädten – rückläufig ist. Auch wenn Menschen, durch die aufgeheizte Berichterstattung und die Konfrontation mit Kleinkriminalität an Orten wie dem Praterstern, ein anderes Gefühl ereilt.

Ob dieses viel diskutierte subjektive Sicherheitsgefühl, das im Wesentlichen mit der Abwesenheit von Kriminalitätsfurcht gleichgesetzt werden kann, durch ein Alkoholverbot am Praterstern aufgebessert wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist aber jetzt schon: Vom Erdboden verschwinden wird die mit dem Alkoholkonsum verbundene Kriminalität dadurch wohl nicht.

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