Ein Stromausfall im Gefängnis ist wie 'The Purge', bloß in echt
Illustration: Angie Wang 

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Chaos

Ein Stromausfall im Gefängnis ist wie 'The Purge', bloß in echt

"Mit Einbruch der Dunkelheit kamen die Gerüchte, die Nervosität und die Gewalt" – ein Häftling erzählt, was passiert, wenn in einer Haftanstalt tagelang das Licht ausbleibt.

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden, einer gemeinnützigen Nachrichtenorganisation, die sich mit dem US-amerikanischen Justizsystem beschäftigt.

Ich saß nichtsahnend auf meinem Bett und hörte meinem Zellenkumpanen Speedy dabei zu, wie er wieder irgendwelche Märchen von Mordanklagen und mildernden Haftumständen erzählte. Dann gingen plötzlich die Lichter aus. Wir dachten uns nichts dabei, gleich würden ja die Notstromgeneratoren anspringen. Nur diesmal taten sie das nicht.

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Minuten vergingen, bis uns ein Aufseher sagte, dass es noch eine Weile dunkel bleiben würde. Gut eine Stunde später machten die ersten Gerüchte die Runde: Irgendjemand hatte einen Blitz gesehen und dann ein lautes Krachen gehört. Wie sich herausstellte, brannte außerhalb der Gefängnismauern eine Stromleitung. Wir hörten, dass das Energieunternehmen für die Reparatur nicht länger als ein paar Stunden brauchen sollte. Eigentlich.

Der Abend brach an. Wir versuchten, uns irgendwie mit Kartenspielen und Lesen zu beschäftigen. Schließlich wurde es auch draußen dunkel. Innerhalb der engen Räume des sogenannten Honor Dorm spitzte sich die Lage langsam zu. In diesem speziellen Gefängnisbereich saßen Insassen ein, die sich gut benommen hatten. Wenn man aber zusammen mit 50 anderen Männern ohne Licht und ohne den Luxus eines Fernsehers eingesperrt ist, kann die Stimmung schnell kippen.

Plötzlich hieß es, Wachen seien in andere Gefängnisabschnitte gerannt, und als bestimmte Häftlinge zur Pillenausgabe gebracht wurden, hätten bewaffnete Beamte sie begleitet. Die Aufseher hörten auf, Witze über den ausgefallenen Strom zu machen. Sie standen in gedrängten Gruppen zusammen und berieten sich leise. Jeglicher Informationsaustausch zwischen Insassen und Wärtern hörte abrupt auf.


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Man schläft nur schwer ein, wenn alle Gefängnisinsassen wissen, dass irgendetwas los ist, aber niemand sagen kann, was genau. Unterhaltungen zwischen Freunden wurden zu Streitereien. Die ganze Nacht hindurch war Geflüster zu hören. Im Schutz der Dunkelheit, ungesehen von den ausgefallenen Überwachungskameras, wurden Pläne geschmiedet und alte Feindschaften neu überdacht. Die Dunkelheit bot für einige Häftlinge die Gelegenheit, in den Armen anderer Insassen Schutz und Zuneigung zu suchen. Viele nutzten die außergewöhnliche Situation aber auch, um vermeintlich Schwächeren einfach so Sachen abzunehmen.

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Beim Schichtwechsel kamen die frischen Aufseher direkt in Kampfanzügen und mit Tasern, Pfefferspray und Kopflampen. Ganz leise wurden wir Häftlinge durchgezählt und auf Fragen folgte nur ein scharfes "Den Anweisungen folgen, sonst …". Alle waren total angespannt.

Blutergüsse, offene Lippen und blaue Augen

Ich schaltete mein batteriebetriebenes Radio an und betete, dass unser Gefängnis nicht in den Nachrichten auftaucht. Ich hatte schon mal einen Aufstand mitmachen müssen und wollte so etwas nie wieder erleben. Später schaffte ich es doch, die Augen zuzumachen.

Am nächsten Morgen gab es eine Ankündigung: Die Nachrichtensender wüssten über den Stromausfall Bescheid, es gebe vorerst keine Besuche und wir säßen erstmal im Dunkeln, bis es etwas Neues zu berichten gibt.

Die Honor-Dorm-Insassen, die zur Pillenausgabe geschleppt wurden, erzählten, was in den anderen Teilen des Gefängnisses abging. Angeblich redeten die Wachen schon von einer "Purge" – eine Anspielung auf die dystopische Filmreihe, in der eine Nacht lang alle Verbrechen legal sind. Über Nacht sollen mehr als 20 Häftlinge mit Blutergüssen, aufgeschlagenen Lippen und blauen Augen auf der Krankenstation gelandet sein. Den Gerüchten zufolge musste das Personal manche sogar direkt ins Krankenhaus bringen. Ein paar Insassen erwischte es noch schlimmer: Ihre Mithäftlinge hatten sie angeblich vergewaltigt.

"Ich lehnte mich zurück und wartete darauf, dass die Situation außer Kontrolle geriet."

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Normalerweise glaube ich innerhalb der Gefängnismauern nichts, was ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, aber in dieser außergewöhnlichen Situation war alles möglich – zumindest gefühlt. Die Angestellten verhielten sich anders als sonst, die Insassen auch. Die Atmosphäre war von einer Unruhe geprägt, die in allen Augen zu sehen und in allen Stimmen zu hören war.

In den anderen Gefängnistrakten wurden ältere Häftlingen, die als Verräter oder – noch schlimmer – als Kindesmissbraucher galten, wohl selbst Opfer von Gewalt und Missbrauch. Auf die immer neuen Geschichten reagierten die Insassen im Honor Dorm sehr unterschiedlich: Manche rissen in Hörweite der Aufseher die Klappe auf und drohten allen mit körperlicher Gewalt. Andere sprachen sich dagegen aus, jetzt die schwächeren Häftlinge zum Ziel zu machen. Ich lehnte mich zurück und wartete darauf, dass die Situation außer Kontrolle geriet.

Die Nachwirkungen des Stromausfalls

Es dauerte einen weiteren Tag, bis der Strom wieder da war. Der Gefängnisalltag ließ allerdings noch auf sich warten. Einige Aufseher bezeichneten den Zwischenfall weiterhin als "Purge" und erzählten von einem Insassen, der nicht nur mit Fäusten malträtiert worden sein soll, sondern auch mit einem Wäschesack voller Konservendosen und einem Gürtel mit Vorhängeschloss. Danach hätten andere Insassen ihm angeblich noch einen Fernseher über den Kopf gezogen und auf ihn uriniert. Diese schreckliche Tat sollte eine Warnung für all diejenigen darstellen, die den Drang verspüren, Kinder zu missbrauchen.

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Ich kenne den Mann, der diesem Angriff zum Opfer gefallen sein soll. Er ist fast 70 und schlurfte immer durch die Gänge des Gefängnisses. Ob er das wirklich verdient hatte, will ich nicht beurteilen müssen. Als ich die Wärter fragte, ob er das Ganze überlebt habe, antworteten sie mit einer Mischung aus Gelächter, Gejohle und widersprüchlichen Aussagen.

Doch nicht alle Menschen im Gefängnis hatten das Gefühl, sich während der Zeit im Dunklen komplett ausgelebt zu haben. Manche Wachen beschwerten sich, dass sie nicht mal ihr Pfefferspray einsetzen hätten können. Und manche Insassen hatten immer noch die alten Feinde.

Ich selbst hatte früher kein Problem, wenn es im Gefängnis dunkel war. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, wozu die Menschen fähig sind, mit denen ich mir mein derzeitiges Zuhause teile. Und das ist kein gutes Gefühl.

Derek R. Trumbo Sr., 40, ist Insasse des Northpoint Training Centers im US-Bundesstaat Kentucky. Er wurde wegen Kindesmissbrauchs verurteilt und sitzt eine 25-jährige Haftstrafe ab. Er selbst beteuert seine Unschuld. Von ihm geschriebene Theaterstücke wurden schon is Australien und New York aufgeführt.

Zwar passt ein Insasse auf die von Trumbo gegebene Beschreibung, aber die Gefängnisbehörde von Kentucky hat noch nicht auf unsere Anfrage bezüglich der in diesem Artikel beschriebenen Übergriffe reagiert.

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