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Aufwachsen in

Aufwachsen im 10. Bundesland: Meine Jugend in Osttirol

Hinter den Bergen, am Rande unseres Landes existiert ein Gefilde, das dem Eindringen zeitgenössischen Gedankengutes erfolgreich Widerstand leistet. Das hatte einige Konsequenzen für meine Jugend.
Osttirol
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Osttirol ist dieses Zipfel von Bergen, das an diesem anderen Tirol hängt und geographisch eher Kärnten ist. Seit jeher gibt es lokalpatriotische Konflikte mit dem großen Bruder Nordtirol und besonders mit den "Stadtbewohnern" der Metropole des "heiligen Landes Tirol". Die Osttiroler sind für die Innsbrucker ein barbarisches Bergvolk, das in alpinen Regionen von der Hand in den Mund lebt; und die Innsbrucker sind für die Osttiroler so etwas wie die dekadente Aristokratie Roms. Trotzdem wollen wir lieber Tirol sein, weil die Kärntner uns mit ihrem "ach so süßen Dialekt" die Mädels wegschnappen. Und weil Kärnten halt generell Kärnten ist.

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Zuerst muss ich mal ein paar Klischees aus dem Weg räumen – und ein paar andere bestätigen Nein, wir werden NICHT alle oberhalb der Baumgrenze geboren. Aber wenn man nicht in der privilegierten Position ist, in unserer (zugegeben auch immer noch sehr beschissen angebundenen) Sonnenstadt Lienz aufzuwachsen, findet man sich nach dem Verlassen des Geburtskanals meistens in einem abgeschiedenen Tal wieder. Dort findet man in der Regel mehr Kirchen als Schulen und der Schützenverein und die Musikkapelle sind die einzigen Orte sozialer Zusammenkunft.

Trotzdem sind wir nicht alle Bauern. Meine Eltern haben sich zum Beispiel bewusst dazu entschieden, aus der Stadt der Hochkultur wieder zurück in die Berge zu ziehen. Krampus im September, Pollenepidemie und Kuhscheisse sind immer noch besser als Stock-im-Arsch-Hochkultur, Wohnungsschimmel und Feinstaub. Außerdem bin ich so zwischen vier Bauernhöfen auf 1000 Metern Seehöhe ziemlich behütet aufgewachsen. Bis auf Kuhtritte und Bildungsknappheit gibt es dort eher wenige Gefahren.

Wenn da nicht die Dorffeste wären. Wenn du zwölf Jahre alt bist und eine große Klappe hast, kannst du dich dort auf jeden Fall gut betrinken. Das ist zumindest das Alter, in dem die meisten hier mit dem Alkohol beginnen; leider aus gutem Grund. So (und nur so) machen nämlich auch die guten alten "Zipfl eine, Zipfel ausa"-Hits irgendwie Spaß.


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Da es keine Waldorflehrer oder andere übermotivierte Freizeitpädagogen gibt, kann auch die aggressive anale Phase des Kindheitsalters hervorragend ausgelebt werden. Bandenkriege im Wald zwischen den Kids der unterschiedlichen Verwandschafts-Clans nehmen hier Dimensionen an, die weit über die gewöhnliche Plastikschwert-Kinderkacke hinausgehen. So wurde ich zum Beispiel einmal stundenlang an einen Baum gefesselt und erst spätnachts von verbündeten Familienmitgliedern befreit.

Der Kulturschock für uns Dorfkinder

Richtig problematisch – und auch ein bisschen traumatisierend – wird es dann, wenn du dann zum ersten Mal in die große Stadt kommst und einfach niemand deine Sprache spricht. Bewohner von Wien und anderer ferner Stadtstaaten denken, dass jeder der Dialekt spricht, auch jeden Dialekt versteht. Das ist eine Illusion. Die vereisten Bergkuppen zwischen den Tälern sind auch perfekte Sinnbilder für die Sprachbarrieren innerhalb von Osttirol. Dadurch kommt es regelmäßig zu verbalen Blutfehden zwischen den Dörfern unterschiedlicher Berghänge.

Neben der sprachlichen Barrieren führt die Bildungsmigration in die große Stadt zudem dazu, dass Bergkinder wie ich aus der vertrauten Dorfgemeinschaft herausfallen (wenn du das nicht eh schon bist, weil deine Eltern aus der Kirche ausgetreten sind und allgemein zu anarchistisch sind, wie das bei mir der Fall war).

Nun hatte ich natürlich die naive Vorstellung, dass ich nach der Volksschule zumindest im Gymnasium linkslinke Krawallmacher finde. Fehlanzeige: Nach einer Testwahl in der Klasse hätte die FPÖ damals 70 Prozent bekommen. Trotzdem wars in der Klasse des Realgymnasiums auf jeden Fall aufregender als im humanistischen Zweig, der von Lehrerkindern nur so wimmelt. Vor dem Nachmittagsunterricht wurde generell gesoffen, aus dem Fenster wurden brennende Papierflieger geworfen – und ich konnte meine politischen Ansichten ausbauen, da ich mein ideologisches Feindbild direkt vor mir hatte.

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Außerhalb von der Schule musste ich mich natürlich auch dem urbanen Lifestyle der 12.000-Einwohner-Metropole stellen. Almwiesen-Weed verticken, vor der Schule abhängen, Lärmbelästigung. Fortgehen am Kirchtag war nun nicht mehr cool. Dort wurde höchstens günstig vorgeglüht. Vielmehr hieß es jetzt einen der ein bis drei Clubs (Tendenz sinkend) der Stadt unsicher zu machen. Zur Zwischenstation ginges gern mal zum "Nageln" in die Bar. Bei diesem beliebten Osttiroler Partyspiel stellt sich die Clique um einen Baumstamm und schlägt Nägel ins Holz. Wer nicht trifft, muss einen Obstler trinken.

Das Ausnüchtern in Osttirol war natürlich immer ziemlich geil. Mit der Mopedgang ging es zum nächstgelegenen See in den Bergen, wo man sich um ein Lagerfeuer gerottet und eingeraucht hat. Abends ging es dann noch zum Billard spielen ins Wirtshaus oder auf Aztekensalbei ins Kino.

Langeweile macht Lust auf Ekstase

Wie ihr vielleicht merkt, dreht sich beim Aufwachsen in meinem hass-geliebten Kaff vieles um Alkohol und Drogen; eine ewige Konstante aller Nicht-Ministranten in Landei-Gemeinden Auch die Polizeidirektion meint in einer Stellungnahme, dass der Alkoholkonsum auf jeden Fall steigt und die Konsumenten dabei immer jünger werden. Mit dieser Entwicklung korreliert auch ein Anstieg der Intensität von Körperverletzungen und ein allgemeines Absinken der Hemmschwelle gegenüber strafbaren Handlungen. Besonders ärgert die Polizei in diesem Zusammenhang jedoch nicht die Perspektivenlosigkeit der Jugend, sondern – wenig überraschend – die Respektlosigkeit gegenüber der Polizei.

Die Antwort der Exekutive auf das wilde Nachtleben ist stärkere Überwachung mit Kamerabussen und Ähnlichem. Meiner bescheidenen Erfahrung nach wäre die Investition in kulturelle Angebote und interessante Alternativen wirksamer.

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Immer wieder gibt es Versuche – meistens jedoch nur die Ideen –, attraktive Treffpunkte und Angebote zu etablieren, um die Osttiroler Jugendliche anzuspornen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Das scheitert meistens am Geld oder an der vergletscherten Geisteshaltung. Die seit Jahrzehnten rabenschwarzen Gemeinden von Osttirol investieren das Geld lieber in die Restauration von Kirchen, eintönige Sommerrodelbahnen und in den Tourismus – um in der Folge noch mehr Kohle für das ewig Gleiche zu haben.

Für kulturelle Angebote abseits von Trachtenverein und Schuhplattler finden sich in diesem Umfeld anscheinend wenige Geldgeber.

Für kulturelle Angebote abseits von Trachtenverein und Schuhplattler finden sich in diesem Umfeld anscheinend wenige Geldgeber. Im besten Fall bringen Jugendliche die Motivation auf, selbst Sport zu treiben. Skilifte gibt es ja an jedem Hang – sie sind nur sauteuer. Sport gehört zu den wenigen Wegen, um in Osttirol seine Freizeit interessant zu gestalten und möglicherweise sogar auf soziale Anerkennung zu stoßen.

Meiner Erfahrung nach sehen sich viele junge Menschen, die sich dazu entscheiden, im "heiligen Land Tirol" zu bleiben, einer gewissen Perspektivenlosigkeit ausgesetzt. Frische Ideen fallen selten auf fruchtbaren Boden – höchstens tief ins Bierglas. Depression, Alkoholismus und Drogenkonsum sind keine Dinge, die die Bronx für sich gepachtet hat. Auch zwischen Pfarrcafé und Murmeltierkulisse findet man diese Auswüchse desolater Jugendverwahrlosung. Nur wird eben nicht darüber geredet. Und Selbsthilfegruppen und Psychotherapie nehmen ja sowieso nur Weicheier in Anspruch.

Trotz dieser dunklen Seiten meines vergessenen Bundeslandes war es "voll fett Olta", hier aufzuwachsen. Zwar muss man sich viel mit einem gewissen engstirnigen Menschenschlag und geistig dünner Luft rumschlagen, aber wenigstens merkt man hier, dass man sich in Gesellschaft befindet. Man wird als Mensch wahrgenommen und fällt nicht so leicht in ein soziales Vakuum wie in der Großstadt. Außerdem bietet die Natur auch noch ganz andere jugendbedingte Vorteile, an die man vielleicht weniger schnell denkt als an Ski fahren oder skaten: Am Skilift kifft es sich nämlich auch einfach besser als in der Straßenbahn.

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