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Foto: Bibbi Abruzzini
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Die 'Junge Europäerin des Jahres' erklärt, warum Jugendliche in die Politik müssen

"Ich mag das Wort empowern nicht. Ich denke, dass junge Menschen Power in sich haben", sagt Yasmine Ouirhrane, 23

Wenn Yasmine Ouirhrane ihre Augen schließt, schimmert ihr Lidschatten perlmuttfarben. Wenn sie ihre politischen Forderungen aufzählt, hält sie entschieden den Zeigefinger in die Luft. Ouirhrane, 23, nimmt Raum ein, körperlich und politisch. Im März ernannte die deutsche Schwarzkopf-Stiftung die Italienerin zur "Jungen Europäerin des Jahres 2019". Mit dem Titel erhielt sie ein Preisgeld von 5.000 Euro, mit dem sie sich ein Praktikum im Europäischen Parlament oder ein eigenes Projekt finanzieren darf. Eine Realität, die für manche Menschen schwer zu ertragen scheint.

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In Frankreich, wo Ouirhrane Politikwissenschaften studiert, geht die Nachricht über ihren Preis viral. Nicht nur, weil die Menschen sie für ihr politisches Engagement bewundern, sondern auch, weil sie ein Kopftuch trägt. Die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen schreibt auf Twitter, Ouirhranes Wahl zur Jungen Europäerin des Jahres fördere "den radikalen Islam". Ouirhrane sagt, manche Menschen würden in ihr eine Bedrohung für die Bevölkerungsentwicklung sehen: "Eine Minderheit, die vorgibt, europäisch zu sein." VICE trifft sie in Brüssel, auf einem Diskussionspanel bei den European Development Days am 18. Juni. Gerade haben Yasmine Ouirhrane und die anderen drei Speakerinnen und Speaker noch diskutiert, wie man junge Menschen besser in politische Prozesse einbinden kann, nun drängen sie sich dicht nebeneinander. Einer von ihnen, ein junger Mann mit blauen Haaren, hält sein Handy hoch. Hinter ihnen versuchen die Besuchenden mit ihren Köpfen ein kleines Stück des Selfies einzunehmen – oder zumindest mit ihren hochgereckten Fingern, die Peace-Zeichen formen.

"Yasmine, wir müssen diesen Moment festhalten", ruft der blauhaarige Speaker, immerhin sei es das erste Panel der Konferenz, das nur von jungen Menschen organisiert und geführt worden sei. Für viele mag diese Szene der Inbegriff dessen sein, was sie mit der jungen Generation verbinden: zu oft am Handy, zu verliebt in das eigene Gesicht, zu naiv und unerfahren, um die Probleme der Welt auch nur im Ansatz zu verstehen.

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Yasmine Ouirhrane stören solche Vorurteile. "Diese Narrative machen junge Menschen unsicher", hatte sie kurz zuvor auf dem Panel gesagt. Dabei sei es wichtig, dass man ihnen nicht nur besser zuhöre, sondern sie auch in politische Entscheidungen einbinde. Ouirhrane ist ein gutes Beispiel dafür, dass das funktionieren kann. Die 23-jährige Tochter italienisch-marokkanischer Eltern setzt sich in Frankreich für die Rechte von Frauen und jungen Menschen mit Migrationsgeschichte ein. Ouirhrane war 15, als sie mit ihrer Familie aus Italien nach Grenoble zog. Dort habe sie mehr Ungerechtigkeiten erlebt als zuvor.

"Mein Engagement hat damit angefangen, dass ich mich machtlos gefühlt und etwas dagegen tun wollte", sagt Ouirhrane. Vor allem junge Frauen wolle sie dazu motivieren, sich in die Politik und in die Gesellschaft einzubringen, erklärt sie: "Sie sollen Widerstand organisieren und nach Führungspositionen greifen."

"Ich sehe meinen Titel nicht als persönliche Leistung, sondern als kollektive"

Bei den European Development Days ist Yasmine Ouirhrane deswegen so gefragt wie Shirin David bei einer YouTube-Messe. Einen Tag nach dem Diskussionspanel hat sie zwischen zwei Terminen Zeit für ein Interview, nachmittags, 20 Minuten. Wir sitzen auf einem weißen Sofa in der Ecke des abgetrennten Bereichs, neben uns auf dem Spanholz-Tisch stehen leere Nudelboxen und Wasserbecher. Ouirhrane trägt ein aquamarinfarbenes Kopftuch, Pumps und dunklen Lippenstift, er ist nach dem Mittagessen etwas abgefärbt. Während des Gesprächs fragt ein junger Mann auf Französisch, ob sie später zu einem Panel über Frauen in der Sahel-Region kommt. Aus ihrer Tasche ragen Zettel voller Notizen, auf ihrem Handy blinken ständig neue Mitteilungen auf.


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"Ich sehe meinen Titel nicht als persönliche Leistung, sondern als kollektive", sagt Ouirhrane. Sie könne nun besser zeigen, welche Probleme die Gesellschaft mit Menschen wir ihr habe. Aber sie könne mit ihren Worten auch diejenigen einbinden, die von diesen Angriffen betroffen sind: junge Menschen, vor allem Frauen, die ausländische Vorfahren haben und in finanziell benachteiligten Strukturen aufgewachsen sind. "Ich kann jetzt zeigen: Wir haben auch unseren Platz in Europa."

Junge Menschen werden zu oft als Täter oder Opfer dargestellt

Genau wie Greta Thunberg Menschen weltweit fürs Klima auf die Straße brachte, kann auch Yasmine Ouirhrane ein Vorbild für andere Menschen sein. Ihre Entschiedenheit und Stärke sind vor allem für junge Frauen beeindruckend. Ouirhrane fragt nicht um Erlaubnis, sondern nimmt, was ihr zusteht. Wie muss es erst für Mädchen und auch Jungen sein, die ähnliche Geschichten haben wie Ouirhrane und sich mit ihr identifizieren können?

Ouirhrane sagt, sie spreche für die Jugend, für Frauen und für Minderheiten. "Wenn du jung bist, denken die Leute oft, dass du zu wenig Erfahrung, Wissen oder Reife besitzt, um Teil wichtiger Entscheidungen zu sein", erklärt sie. Frauen werden dagegen oft als Opfer porträtiert. Und Menschen, die zu Minderheiten gehören, könnten in Europa wegen ihrer Herkunft oder ihres sozialen Status nicht an politischen oder gesellschaftlichen Entscheidungen teilnehmen. "Wie sieht die Zukunft für eine Person aus, in der sich all diese Faktoren überschneiden?", fragt Ouirhrane. "Eine Person wie mich?"

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Ouirhrane weiß, wie Regierungen junge Menschen besser einbinden könnten

Yasmine Ouirhrane beantwortet sich die Frage, indem sie ihre eigenen Forderungen stellt. Denn sich nur auf das Negative zu konzentrieren und das zu analysieren, sagt sie nach dem Interview, davon halte sie nichts. Aber wie können Regierungen junge Menschen konkret besser einbinden?

"Ich kann dir drei Forderungen nennen", sagt Ouirhrane, der Zeigefinger schnellt wieder in die Luft. Dann erklärt sie, dass Regierungen mehr Geld in junge Menschen investieren sollen – vor allem, wenn sie aus Communities mit weniger Privilegien kommen. Ouirhrane möchte, dass junge Menschen mit politischen Visionen sichtbarer gemacht werden. Dass über die Jugend nicht nur als Opfer oder Täter geredet wird, sondern auch als ernstzunehmende Teilnehmende der Gesellschaft. Und drittens: Dass Institutionen junge Menschen besser ansprechen und einbinden.

Für Yasmine Ouirhrane ist es selbstverständlich, dass junge Menschen die nötige Kompetenz haben, um an politischen Prozessen teilzuhaben.

Wenn das nicht passiere, das erklärte Ouirhrane schon beim Panel, werde die Jugend vergessen und wende sich anderen Dingen zu, die ihnen vermeintliche Perspektiven bieten. Für manche sei das die Kriminalität. Erst vor kurzem seien in ihrer Heimatstadt Grenoble zwei junge Männer gestorben, die Ouirhranes Familie nahe gestanden hätten, erzählt sie. "Verschiedene Formen von Diskriminierung führen oft zu Gewalt." Auch deshalb müssten Autoritäten den Dialog mit Jugendlichen suchen und sie einbinden.

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Für Yasmine Ouirhrane ist es selbstverständlich, dass junge Menschen die nötige Kompetenz haben, um an politischen Prozessen teilzuhaben. Und vielleicht ist es genau diese Überzeugung, die Jugendliche brauchen, die wie Unmündige behandelt werden, nur weil sie ein paar leere Colaflaschen und benutzte Taschentücher unter ihrem Bett horten.

In der Fragerunde am Ende des Diskussionspanels steht eine blonde Frau in der letzten Reihe auf. Sie erzählt, dass viele junge Menschen das Hochstapler-Syndrom hätten, ein psychologisches Phänomen, bei dem Betroffene vor lauter internalisierter Selbstzweifel ihre eigenen Leistungen und Talente nicht erkennen. "Wie kann man junge Menschen empowern?", fragt die Frau. Yasmine Ouirhrane stützt sich auf dem Pult ab, dreht das Schwanenhalsmikrofon zu sich und drückt auf den Anschalt-Knopf.

"Ich mag das Wort empowern nicht", sagt sie. "Ich denke, dass junge Menschen Power in sich haben. Wir müssen das nur stärker herausbringen."

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