Gelbe Hanteln liegen neben einem Apfel und Handy mit Kopfhörern und Motivationsspruch
Alles Fotos: Viktoria Grünwald

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Fasten

Wie mich ein Jahr Intervallfasten krank gemacht hat

Es sollte eine gesunde Abnehmmethode sein, alle drei Tage verbot ich mir das Essen. Die Folge war eine Einweisung in eine psychosomatische Klinik.

Mir wurde mit meiner Essstörung geholfen, deshalb konnte ich jetzt auch diesen Text darüber schreiben. Wenn ihr Hilfe braucht, dann findet ihr sie beispielsweise hier für Deutschland, hier für Österreich und hier für die Schweiz.

Ich liege erschöpft auf meinem Bett und versuche, meinen heftig knurrenden Magen zu ignorieren. Sehnsüchtig scrolle ich durch die Gratin-Rezepte auf Chefkoch und sehe mir Bilder von in Rahm getränkten Makkaroni unter mehreren Schichten Emmentaler an. Wie gerne würde ich mir davon jetzt eine große Portion gönnen. Meine Sportklamotten habe ich schon seit zwei Stunden an, aber bisher konnte ich mich noch nicht dazu aufraffen, joggen zu gehen. Mein schlechtes Gewissen sagt mir, dass ich heute noch 400 Kalorien verbrennen muss.

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Ich bin zu dieser Zeit 20 und extrem körperfixiert: Ich habe mir in den Kopf gesetzt, endlich schlank und sportlich zu sein. Wenn es sein muss: mit radikalen Mitteln. Ich mache extrem viel Sport und starte eine strenge Diät. Bis ich in eine Essstörung rutsche – ohne es zu merken.

Das Bundesgesundheitsministerium stuft Essstörungen als Erkrankungen ein, denen oft ein geringes Selbstwertgefühl und unrealistische Vorbilder zugrunde liegen. Alleine in Deutschland wurden im Jahr 2016 7.764 Fälle von Anorexie und 1.949 Fälle von Bulimie diagnostiziert. Lange realisiere ich nicht, wie schnell man durch eine Diät ein krankes Essverhalten entwickeln kann – und dass es auch andere Erkrankungen gibt als eine "klassische" Magersucht. Fachleute sprechen dabei von "nicht näher bezeichneten Essstörungen". Auch in meinem Fall.

Als meine stretchige Lieblingshose an den Oberschenkeln reißt, will ich etwas ändern

Ich kann mich nicht daran erinnern, je positive Gefühle für meinen Körper gehabt zu haben. Doch erst als ich die Schule beende, fange ich an, meine Beine und meinen Bauch richtig zu hassen. Meine Selbstzweifel sind Teil einer allgemeinen Überforderung: Ich kann zwar den Satz des Pythagoras im Schlaf aufsagen und habe ein gutes Abizeugnis, weiß aber nicht, auf wie viel Grad ich meine Wollsocken waschen muss und was ich mit meiner neu gewonnenen Freiheit anfangen soll. Ich stelle alles, vor allem mich selbst, in Frage.

Als ich mich von meinem damaligen Freund trenne und sich auch noch die Einsamkeit dazugesellt, fange ich an, die schlechten Gefühle wegzufressen. Meine treuen Begleiter in der Zeit: die "Life Sucks"-Playlist auf Spotify und Milka-Schokolade. Ich nehme zu. Und ich beschließe, etwas zu ändern.

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Ich tausche Pizza durch Rohkost aus und gehe täglich 20 Minuten laufen. Doch die erhoffte Veränderung bleibt aus: In den engen Sportleggings fühle ich mich noch schäbiger, aus Frust darüber esse ich Chips auf der Couch. Es ist ein Teufelskreis. Doch dann treffe ich zufällig eine alte Schulfreundin in der Stadt.

Sie erzählt mir, dass sie durch Intervallfasten mehrere Kilos verloren hat: "Das ist total easy. An zwei bis drei Tagen die Woche isst du nichts oder maximal 500 Kalorien. An den restlichen Tagen kannst du ohne schlechtes Gewissen futtern." Im Internet liest man über das Intervallfasten nur Positives: Indem man zweimal die Woche nur sehr wenige Kalorien zu sich nimmt, soll man nicht nur langfristig abnehmen, sondern auch Blutdruck und Blutzuckerspiegel senken können. Ich nehme mir vor, die Methode auszutesten. Ein paar Tage nach dem Treffen starte ich meinen ersten Fastentag.

Beim Postaustragen würde ich am liebsten auf die Briefe kotzen

Ich arbeite zu dieser Zeit als Briefträgerin. Morgens fühle ich mich unbesiegbar, weil ich weiß, dass ich meinem schlanken Ich endlich näher komme. Ich stelle mir vor, wie ich im Freibad liege, ohne meinen Bauch unter einem Handtuch verstecken zu müssen, und wie mich alle für meine tolle Figur bewundern. Doch schon nach wenigen Stunden wird mir übel. Ich sitze kreidebleich hinter dem Steuer und strenge mich an, um nicht auf die Briefe zu brechen.

Am Abend bin ich komplett erschöpft. Ich rufe meine Freundin an und ärgere mich darüber, dass sie mir so eine bescheuerte Diät empfohlen hat. Doch sie besänftigt mich und meint, dass der erste Tag des Fastens sich immer so schlimm anfühlt. Ein paar Tage später versuche ich es nochmal: Ich trinke viel Wasser, esse zwischendurch einen Apfel und Magerquark und bringe den Tag ohne Sorgen um mögliche Kotzattacken rum.

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Schon nach wenigen Wochen habe ich mich an die regelmäßigen Fastentage gewöhnt. Die erste Zeit faste ich an zwei Tagen in der Woche und mache ungefähr dreimal die Woche Sport – doch ich will noch schneller abnehmen. Ich erhöhe die Fastentage auf wöchentlich drei und gehe jeden Tag joggen. Zusätzlich melde ich mich im Fitnessstudio an. Wenn ich nach einem Fat-Burning-Kurs verschwitzt in der Umkleide stehe, muss ich mich oft an der Wand stützen, weil ich alles nur noch verschwommen sehe.


Aus dem VICE-Netzwerk: Im Fat Camp der Selbstliebe


Ich nehme ab. Das freut mich so sehr, dass ich über Beinahe-Ohnmachtsanfälle hinwegsehen kann. Und über die anderen Begleiterscheinungen der Diät, die sich langsam bemerkbar machen.

Ich gucke mir Bilder von Lasagne an, um den Hunger zu stillen

An den Tagen, an denen ich normal esse, habe ich ständig Fressattacken und kein Sättigungsgefühl mehr. Ich könnte an sämtlichen Hot-Dog-Wettbewerben teilnehmen und würde sie alle gewinnen. Weil ich Angst davor habe, durch den Heißhunger wieder zuzunehmen, lege ich neben den Fastentagen noch Saftkuren ein. Dann trinke ich für vier Tage jeweils nur drei Säfte. Doch während der Fastentage werde ich immer träger und kann mich nicht einmal mehr dazu aufraffen, mich mit Freundinnen zu treffen. Mein Hungergefühl wird immer größer, sodass ich mich stundenlang an Bildern von Mac'n'Cheese und Lasagne aufgeile. Meine Gedanken drehen sich nur noch um Essen. Doch ich bleibe hart. Die erhoffte Bewunderung bleibt aus.

Meine Familie macht mir zwar manchmal Komplimente für meine Disziplin, doch sie fängt auch an, Fragen zu stellen: "Meinst du nicht, dass du dich ein bisschen reinsteigerst?" Mein neuer Freund, der meinen Abnehmwahn von Anfang an mitbekommen hat, ignoriert mein verändertes Aussehen. Wenn ich ihm abends stolz berichte, wie viel Sport ich gemacht habe, starrt er abwesend auf den Fernsehbildschirm und zockt FIFA. Es nagt an mir – wieso bekomme ich nicht die Anerkennung, für die ich mich jeden Tag so quäle? Bin ich den anderen immer noch zu fett?

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Wenn ich meinem Freund abends stolz berichte, wie viel Sport ich gemacht habe, starrt er abwesend auf den Fernsehbildschirm und zockt FIFA. Wieso bekomme ich nicht die Anerkennung, für die ich mich jeden Tag so quäle? Bin ich den anderen immer noch zu fett?

Ich mag meinen Körper immer noch nicht. Ich definiere mich nur noch über Bemerkungen und Komplimente Anderer. Aber weil sich scheinbar niemand für meine Figur interessiert, bilde ich mir ein, ich müsste noch weiter abnehmen. Dass die Menschen in meinem Umfeld meinen Abnehmwahn vielleicht deshalb nicht kommentieren, weil sie befürchten, mich dadurch nur noch mehr zu bestärken, ist mir zu dieser Zeit nicht bewusst.

Jedes Mal, wenn die Waage ein paar hundert Gramm mehr anzeigt, bekomme ich einen Heulkrampf. Ich habe das Gefühl, dass mir mein Leben entgleitet: Ich breche mein Studium ab, trenne mich von meinem FIFA-Freund und ziehe wieder bei meinen Eltern ein. Um mich zu schützen, beschließe ich, mich nicht mehr zu wiegen. Dennoch werde ich immer unglücklicher und hasse meinen Körper mehr als je zuvor. Dass die Diät der Grund dafür sein könnte, kommt mir nicht in den Sinn.

Tempopackung und benutzte Taschentücher

Wenn die Waage mal mehr anzeigt, breche ich in Tränen aus

Meine Hausärztin schickt mich in eine Klinik

Fast ein Jahr mache ich die Diät nun schon, als meine Mutter merkt, dass etwas mit mir nicht stimmt. Als ich kurzfristig ein Bewerbungsgespräch absage, weil ich mich zu schwach fühle und Angst habe, zu versagen, will sie wissen, was los ist. Ich antworte nicht, breche in Tränen aus. Während ich Dutzende Taschentücher vollrotze und mein Gesicht vom Weinen anschwillt, erkläre ich ihr, wie schlecht es mir geht. Sie wirkt geschockt, versucht mich zu trösten und bringt mich zu meiner Hausärztin. Ich bekomme homöopathischen Tabletten gegen "nervöse Unruhezustände" verschrieben – und, weil es mir so schlecht geht, eine Einweisung in eine psychosomatische Klinik. Dort muss ich mindestens sechs Wochen bleiben. Doch ich erkenne noch immer nicht, dass ich krank bin.

Die Ernährungstherapeutin Andrea Petruschke erklärt auf ihrer Homepage, dass eine Essstörung in der Regel dann beginnt, wenn sich die Gedanken nur noch um Essen, Kalorien und das Gewicht drehen. Man fühlt sich wertlos und unverstanden und hat das Gefühl, nur dann Zuwendung und Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn man dünn ist. "Wer unter einer Essstörung leidet, hat den natürlichen Bezug zum Essen verloren", schreibt Petruschke. Essen diene nicht mehr dazu, den Hunger zu stillen, sondern als "Ersatzbefriedigung für psychische Bedürfnisse", so die Ernährungsberaterin.

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In der Klinik bin ich nicht wirklich kooperativ, esse sehr wenig und stelle ich mich falsch herum auf die Waage, damit ich die Zahl nicht sehen muss. Zwei Wochen später muss ich in die Essbegleitung.

Dennoch sehe ich mich lange nicht als essgestört: Ich glaube, dass davon nur Leute betroffen sind, die entweder extrem abgemagert sind oder sich nach dem Essen übergeben. In der Klinik sehen die Ärztinnen das anders: Ich darf keine Fastentage mehr machen und muss mich regelmäßig wiegen. Ich bin nicht wirklich kooperativ, esse sehr wenig und stelle mich falsch herum auf die Waage, damit ich die Zahl nicht sehen muss. Nach zwei Wochen sagt eine Krankenpflegerin: "Sie haben innerhalb von zwei Wochen vier Kilo abgenommen. Sie müssen in die Essbegleitung."

In der Körpertherapie muss ich ein Bild von meinem Körper zeichnen und alles rot anmalen, was mir nicht gefällt

Ich soll meine Mahlzeiten ab sofort getrennt von den anderen Patienten und zusammen mit einer Krankenpflegerin einnehmen, damit sie einen Überblick darüber hat, wie viel ich esse. Das macht mich nervös: Werde ich jetzt beim Essen genau beobachtet und gezwungen, eine bestimmte Menge zu essen? Ich hole mein Tablett vom Essenswagen und gehe statt in den Speisesaal in die kleine Stationsküche. Die anderen Patienten schauen mir fragend hinterher, aber ich versuche, die Blicke zu ignorieren. Kurz darauf kommt eine Pflegerin und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Auf ihrem Teller schwimmt eine verkochte Dampfnudel in Vanillesoße. Sie wünscht mir einen guten Appetit.

Die Pflegerin und ich reden über belanglose Dinge. Als ich merke, dass sie mich nicht zum Essen zwingt, bin ich erleichtert. Ich traue mich zum ersten Mal, jemandem von dem dauerhaften Hunger und den Fressattacken zu erzählen. Während ich darüber spreche, wird mir immer mehr bewusst, dass ich ein krankes Essverhalten und eine verschobene Körperwahrnehmung entwickelt habe. Ein paar Tage später wird mir Sportverbot und Körpertherapie erteilt.

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Dort muss ich unter anderem ein Bild von meinem Körper zeichnen und alles rot anmalen, was mir nicht gefällt. Was ich gut finde, soll grün sein. Zu Beginn besteht meine Zeichnung aus einem roten runden Fleck. Mit der Zeit weicht das Rot jedoch immer mehr dem Grün – ich beginne, das Schöne an meinem Körper zu entdecken.

Strichmännchen mit grünen und roten Farben

Für das Bild in der Körpertherapie benutze ich immer häufiger den grünen Stift

Nach zehn Wochen in der Klinik kann ich meinen Körper akzeptieren

Nach zehn Wochen stationärem Aufenthalt werde ich aus der Klinik entlassen. Und ich bin mir jetzt sicher, dass ich nie wieder eine Diät oder exzessiven Sport machen werde. Ich habe dadurch nicht nur eine Essstörung entwickelt, sondern auch jegliches Körpergefühl verloren: Ich sah meinen Körper als "Ding", das nach meinen Vorstellungen funktionieren sollte.

Es fiel mir lange schwer, verschiedene Körperbilder zu akzeptieren. Und das liegt auch an den Figuren, die mir im Fernsehen, bei Instagram oder in Zeitschriften als "schön" präsentiert wurden – auch, wenn Heidi Klum mittlerweile so großzügig ist, zwei "Curvy Models" bei Germany's Next Topmodel aufzunehmen. Nach meiner Therapie boykottiere ich Modelshows und deaktiviere meine Social Media Accounts. Noch nie habe ich mich so befreit gefühlt. Doch ich weiß, dass viele junge Frauen und Männer noch immer mit Unsicherheiten kämpfen.

Mittlerweile wiege ich wieder genauso viel wie vor meiner Diät und bin sehr glücklich darüber. Seit ich mein Essverhalten nicht mehr krankhaft kontrolliere und mich jeden Tag ins Fitnessstudio schleppe, bin ich ausgeglichener und fröhlicher. Ich habe wieder Spaß am Essen. Und wenn ich Lust auf eine geile Lasagne mit Tonnen von Käse habe, koche ich sie mir einfach und begutachte sie nicht mehr nur sehnsüchtig auf Bildern. Denn Essen ist einfach viel zu schön, als dass man sich damit quälen sollte.

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