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„In der Schweiz gibt es eine Nachfrage nach Brasilianern mit grossen Schwänzen“

Der Sexarbeiter und Künstler Daniel Hellmann räumt in seiner Performance „Traumboy" mit den gängigsten Klischees über seine Arbeit auf.
Titelbild zur Verfügung gestellt von Raphael Hadad

Daniel Hellmanns eindringlicher Blick durchstreift das Publikum, im Hintergrund läuft ein französisches Chanson. Als die Vorstellung beginnt, wird die Bühne erleuchtet und Daniel erzählt eine Anekdote aus seinem Beruf als Prostituierter. Folgendes Szenario: Ein Kunde kommt mit seinem Sohn im Kinderwagen in die Wohnung. Er lässt das Kind im Wohnzimmer stehen, es schläft.

Im Schlafzimmer wird Daniel vom Kunden geblasen bis er kommt. Der Kunde bezahlt und Daniel hilft ihm, den Kinderwagen ins Parterre zu tragen. Als sie unten angekommen sind, wacht das Kind auf und schaut Daniel direkt ins Gesicht. Daniel lächelt es an. „Ich finde es geil, wenn sich eine Hand mit Ehering um meinen Penis schliesst. Ich finde auch geil, mir vorzustellen, dass der Freier nach dem Sex mit mir wieder nach Hause geht." Das Publikum lacht.

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Foto zur Verfügung gestellt von Wolfgang Probst

Daniel hat seinen Freunden und der Familie jahrelang verheimlicht, dass er sich prostituiert. Auch seinen Verflossenen hat er nie etwas gesagt, aus Angst, sie könnten sich von ihm trennen. Seine Berufe, Künstler und Sexarbeiter, hat er bisher strikt voneinander getrennt. In seiner aktuellen Performance „Traumboy" hebt er diese Trennung auf und sorgt gleichzeitig dafür, dass jeder von seinem Zweitberuf erfährt. Die Reaktionen waren, wie erwartet, gespalten. Sein Vater, beispielsweise, konnte nicht glauben, dass er Spass an seinem Beruf hat. Er meinte dazu: „Wenn dir ein Junkie sagt, das Heroin sei gut für ihn, glaubst du ihm das etwa auch?"

Prostitution kann aber auch grausam sein, selbst wenn sie nicht tabuisiert wird: Prostitutes Of God

„Mein erster Kunde war 20 Jahre älter als ich und wollte mir einen blasen. Ich fand das widerlich, habe mich nachher drei Mal geduscht und mir mit dem Lohn ein neues Paar Schuhe gekauft." Er schaut ins Publikum. Es ist still. „Habt ihr mir das jetzt wirklich gerade abgekauft?" Eigentlich sei sein erstes Mal richtig gut gewesen, er könne sich auch gar nicht mehr daran erinnern, wer sein erster Kunde gewesen war. Er hätte immer Spass an der Arbeit. Achtung, Klischee!

Es ist dem Künstler wichtig, dass man ihn nicht mit der Bühnenfigur verwechselt. Auch in seinem Beruf als Sexarbeiter hat er sich nämlich ein Pseudonym zugelegt: Es nennt sich Phil.

Daniel gibt dem Publikum seine Geschäftsnummer, damit es ihm per SMS Fragen stellen kann. Vermutlich aus anfänglicher Unsicherheit gehen noch keine Nachrichten ein und Daniel erzählt munter weitere Anekdoten aus seinem Leben als Prostituierter. Im Publikum sitzen übrigens Daniels fester Freund, seine Schwester und ein paar seiner Kunden. „Ein Grund, warum ich mich prostituiere, ist, dass ich nicht nur die an mich gestellten Erwartungen erfüllen will. Das klingt vielleicht pubertär aber es ist befreiend und es macht Spass."

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Foto zur Verfügung gestellt von Wolfgang Probst

Daniel ist sehr schlicht, aber nicht langweilig gekleidet. Graue Röhrenjeans, in denen seine schlanken Beine zur Geltung kommen (auf die jede Frau neidisch sein kann), ein langes, olivfarbenes Baumwoll-Shirt, weisse Sneakers. Er sieht aus wie ein Student, ist sehr gepflegt und redegewandt. Dass man es mit einem Künstler zu tun hat, merkt man daran, dass er auf einer Bühne steht und sich nicht davor scheut, das Publikum zu schockieren. Sein letztes Projekt „ Full Service" deutete bereits an, dass er mit Prostitution kein Problem hat. Damals stellte er in verschiedenen Städten eine Box auf, in der er für Geld die Wünsche seiner Kunden erfüllte. Das Projekt sollte aufzeigen, wie verschwommen die Grenzen zwischen üblichen Berufen und Sexarbeit sind.

Es ist Daniel wichtig zu betonen, dass man sich auch freiwillig prostituieren kann. Er hat Gesang und Performance studiert und wenn er gerade Kunstprojekte am Laufen hat, nimmt er so wenig Kunden wie möglich an. Wenn er andererseits viel Zeit hat, ist die Prostitution eine Gelegenheit, um genügend Geld zu verdienen. Es komme genug Geld für ihn rein, um sich das zu leisten, was er will. Ein luxuriöses Leben sei es aber nicht: „Für Menschen, die weniger privilegiert sind als ich, kann Sexarbeit ein Weg dafür sein, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wer damit ein Problem hat, sollte sich dafür einsetzen, weltweit Armut und Diskriminierung abzuschaffen und nicht Prostitution."

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Dann legt Daniel eine wilde Tanzeinlage ein. Er zieht seine Klamotten aus, zum Vorschein kommt ein Latex-Body. Er wirft sich in die Hüften, streicht sich mit den Händen über den Körper, massiert seinen Penis, alles mit einem ekstatischen Ausdruck im Gesicht. Er spitzt die Lippen, simuliert Sex—rammt die Luft—und das Publikum ist wie festgefroren. Als die Musik zu Ende ist, redet er weiter, als sei nichts passiert. Er bringt es fertig, dass sich die Zuschauer kollektiv schämen, während er sein Ding durchzieht.

Foto zur Verfügung gestellt von Wolfgang Probst

Es kommt eine Frage aus dem Publikum: „Hast du ein Problem damit, Sexarbeiter zu sein und gleichzeitig einen festen Freund zu haben?" Daniel zieht eine Augenbraue hoch. „Nein, genauso wenig wie es mich stört, Künstler und in einer festen Beziehung zu sein." Die einzige Schwierigkeit sei, dass er seine Sexualität so einteilen müsse, um abends noch Lust auf Sex mit seinem Freund zu haben. Das könne man aber ein bisschen steuern. „Ich denke, es gibt noch viele andere Berufe, die mindestens einen so grossen Einfluss auf das Beziehungsleben haben."

„Es gibt eine Nachfrage nach Brasilianern mit grossen Schwänzen. Warum sollten die dann nicht hier arbeiten dürfen?" Den Prostituierten, die nicht aus dem EU-Raum kommen, wird die Arbeit in der Schweiz erschwert. Sie haben lediglich ein Touristenvisum und somit keine Arbeitserlaubnis. Davon profitieren, laut Hellmann, Drittpersonen, die zum Beispiel völlig überteuerte Zimmer vermieten. Aber auch für Schweizer Prostituierte ist die Arbeit nicht einfach. Unzählige Verordnungen und Reglemente sorgen dafür, dass sie in ihrem Beruf eingeschränkt werden. „In Deutschland wird bald ein Gesetz eingeführt, das Prostituierten gewisse Sexpraktiken verbietet. Ich darf in Deutschland immer noch Gang-Bangs mit meinen Freunden machen, nicht aber mit meinen Kunden."

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Dann stellt Daniel umgekehrt dem Publikum Fragen. „Angenommen niemand würde es jemals erfahren, würdest du dann einmal Sexarbeit ausprobieren?" „Wurdest du schon einmal von jemandem Nutte genannt? Wie hat sich das angefühlt?" Bei dieser Frage gibt eine Zuschauerin zu, dass sie zwischen den Schimpfwörtern „Hurensohn" und „Arschloch" keinen Unterschied macht. Sie scheint aber schnell zu merken, dass ihre Aussage in diesem Kontext nicht gerade passend ist, denn Daniel weist sie sanft darauf hin, dass sie diesen Gedanken vielleicht revidieren sollte. Die Zuschauerin entschuldigt sich dann mit den Worten: „Darüber habe ich noch gar nie nachgedacht, du hast Recht."

Foto zur Verfügung gestellt von Wolfgang Probst

„Hattest du schon einmal das Gefühl, du könntest alles mit dem Friseur machen, weil du ihn bezahlst?" „Hattest du beim Sex schon einmal das Gefühl, deinen Partner beeindrucken zu müssen?" „Wen könntest du dir am ehesten als Sexarbeiter vorstellen? Deine Mutter, deinen Vater, deine Schwester …?" Die Antworten kommen zögerlich.

„Wenn du einen Sexarbeiter auswählen würdest, wären dir Bewertungen wichtig?" Mit dieser Frage wechselt die Performance zu den besten Statements, die Hellmanns Freier zu seinen Diensten abgegeben haben, ein Mikro geht durch die Runde, die Zuschauer müssen die Aussagen laut von einer Leinwand Vorlesen.

Die Zuschauer schüttelt es vor Lachen, sie laufen rot an und können die Sätze teilweise nicht zu Ende lesen. Ich muss während der kompletten Performance kein einziges Mal lachen.

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Zum Schluss gibt Daniel noch „My Heart will go on" zum besten, in schwindelerregend hohen Plateaustiefeln und einer Gasmaske. Man merkt, dass Daniel lange Opernsänger war, seine tiefe Barriton-Stimme gibt jedem eine Gänsehaut. Nach dem Auftritt will er jemandem ein „Geschenk" geben.

„Er bläst mich sehr lange bis in den siebten Himmel, fickt mit viel Gefühl. Ich habe es noch nie so erlebt, aber denkt daran, er ist ein Mensch und kein Nutztier. Er ist ein Mensch wie du und ich und verdient den nötigen Respekt."

Ein junger Mann meldet sich und die beiden verschwinden für ein paar Minuten hinter der Leinwand. Als sie zurückkommen (der Mann ist ein bisschen rot im Gesicht) verkündet Hellmann: „Ich bin jetzt noch zehn Minuten hinter diesem Vorhang, es gibt da einen kurzen Sexfilm von mir, Kondome und Sex Toys. Jeder kann vorbeikommen, es kostet aber."

Foto zur Verfügung gestellt von Wolfgang Probst

Die Performance ist laut Daniel eine Mischung aus Inszenierung und Dokumentation. Der Zuschauer kann sich nicht sicher sein, ob das, was er gerade erzählt, so wirklich vorgefallen ist. Ich hatte Mühe, zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Ehrlich gesagt kam ich nicht einmal auf die Idee, dass irgendetwas erfunden sein könnte. Wenn dir jemand eine Diashow von Kindheitsfotos zeigt und dir erzählt, was er der Zeit so gedacht und gefühlt hat, glaubst du ihm, auch wenn es auf einer Bühne geschieht und er nicht direkt mit dir, sondern mit einem anonymen Publikum spricht.

Nora auf Twitter: @nora_nova_

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland

Traumboy läuft noch bis zum 18. Juni in der Gessnerallee. Mehr von Daniel findest du hier