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The Fashion Issue 2012

Leben in Tokio

Wer auch nur ansatzweise Ahnung von Kleidung hat, weiß, dass Japaner ein ziemliches Faible für bizarre, innovative und schockie­rende Mode haben.

Wer auch nur ansatzweise Ahnung von Kleidung hat, weiß, dass Japaner ein ziemliches Faible für bizarre, innovative und schockie­rende Mode haben.

Big in Japan—in Japan erfolgreich zu sein, ist daher nicht einfach ein uraltes Klischee über Absolventen der Central Saint Martin mit Kollektionen zu Themen wie etwa Analvergewaltigung in der Steampunk-Ära. Der Erfolg hat vielmehr eine grundlegende wirtschaftliche Ursache: Die Einwohner Tokios und Osakas kaufen tatsächlich die irrsinnigsten Klamotten, und viele junge britische Designer verkaufen regelmäßig den Großteil ihrer Kollektionen nach Japan. Ein derart kreativer und progressiver heimischer Markt erklärt, warum Japan zwangsläufig an erster Stelle steht, wenn man nach Designern sucht, die einem die Sprache verschlagen. Das Problem: Tokio ist weit weg von den anderen Modemetropolen, und die Sprachbarriere führt (noch immer) dazu, dass Japans Designer, Journalisten und Modebranche genauso wenig gewillt sind, auf Englisch zu kommunizieren wie New York und London es in Bezug auf das Japanische sind. Abgesehen von der Designer-Clique, die in jeder Saison in Paris mitmischt—tonangebend hier Comme des Garçons, Issey Miyake und Yohji Yamamoto—werden viele bemerkenswerte japanische Designer im Ausland kaum wahrgenommen; mit Ausnahme derer, die ab und zu mal in Erscheinung treten, weil sie einmal an einem Haifischhautteewärmer für Eastpak mitgearbeitet haben. Um diesem Informationsmangel entgegenzuwirken, hat Junsuke Yamasaki, Redakteur bei Vogue Hommes Japan und Gründer sowie Redakteur von Untitled—das führende Magazin für aufstrebende Modetalente—mit drei Tokioter Designern gesprochen, deren Arbeiten, wie wir finden, im Ausland stärker gewürdigt werden sollten. MIKIO SAKABE Mikio Sakabes Herbst/Winter-Kollektion 2011/12 Der Tokioter Stadtteil Akihabara ist als Geek-Zentrum und geistige Heimat des Cosplay bekannt. Die Szene hier besteht aus den Akihabara-Idolen, also Starsängern und Performern des Karaoke, sowie den Otaku, verrückten Nachahmern dieser Idole und Megafans von allem, was mit Anime zu tun hat. Es ist also kein Zufall, dass die letzte Show des Designers Mikio Sakabe auf der Akihabara Fashion Week stattfand. In Mikios Show wurden die sonst üblichen Models durch die Idole ersetzt, während die Otaku in den normalerweise der Hautvolee vorbehaltenen ersten Reihen saßen. Verschiedene andere Designer zeigten dort ebenfalls ihre Shows, wobei jeder in irgendeiner Verbindung zu dem steht, was Japaner als „2-D-Ästhetik“ bezeichnen—einem auf Comics, Mangas und Gaming basierenden Stil. VICE: Warum wolltest du mit Akihabara arbeiten?
Mikio Sakabe: Ich wollte etwas machen, das Aktualität widerspiegelt. Offensichtlich kommen die meisten neuen Trends aus der Subkultur, nicht aus der Haute Couture, und Akihabara ist in Japan nun schon seit geraumer Zeit wichtig. Japaner betrachten die Akihabara-Kultur generell als vollkommen unmodisch. Warum also eine von dieser Szene beeinflusste Kollektion?
Ältere Generationen meinen, es gehe es nur um die Otaku. Aber in den Modeschulen werden zwischen Haut Couture, Street Fashion, dem Gyaru-Mekka—also das Tokioter Modekaufhaus Shibuya 109—Manga, Anime oder Cosplay keine Grenzen gezogen. Alles ist erlaubt. Was fasziniert dich so an den Otaku?
Die Dynamik zwischen den Otaku und ihren Idolen ist auf den Akihabara-Idol-Konzerten ziemlich unverfälscht. Während der Konzerte werden sie eins, sie kommen sich viel näher als das Publikum und die Bands auf allen anderen Punkrock-Konzerten, die ich jemals gesehen habe. Und obwohl sie einen so auffälligen Look haben, denken die Otaku eigentlich gar nicht über Mode oder Trends nach. Es ist eine ganz eigene Welt. Du versuchst also herauszufinden, warum Menschen sich auf Cosplay einlassen?
Ja, Cosplay ist total spannend. In der traditionellen westlichen Mode geht es immer darum, besser auszusehen, was auch immer das heißt. Cosplay dagegen spricht Menschen an, die sich verwandeln wollen. Was würdest du sagen: Machst du eher Mode oder Kostüme?
Ich versuche Mode zu entwerfen, die freier und offener ist und mehr Spaß macht; aber es handelt sich schon um richtige Mode. Wir verkaufen eine Menge T-Shirts und Sweater. Mikiosakabe.com Der dritte Weg: ein Look aus Yuima Nakazatos Frühjahr/Sommer-Kollektion 2012. Fotos von Yuima Nakazato YUIMA NAKAZATO Nach seinem Studium an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste, Antwerpen, gründete Yuima Nakazato ein Damenmodelabel. Er erkannte aber bald, dass sein wahres Interesse der Männermode und Androgynität gilt. Yuima sagt heute, er kreiere seine Kollektionen für ein fehlendes drittes Geschlecht, was in der Modewelt durchaus üblich sei. Unüblich hingegen ist Yuimas Vorliebe für hochgradig modefremde Materialien wie Holz, Metallfolien sowie obskure industrielle Komponenten wie etwa die Folien zur Beschichtung von Fernsehbildschirmen. Es wird noch besser: Die wild geformten, metallischen Kleidungsstücke erscheinen wie eine irrwitzige Kreuzung aus Samurai-Krieger und 1970er Diskotypen. Yuima arbeitete kürzlich auch mit dem selbst ernannten „Kunst-Schamanen“ Matthew Stone an The Body Beyond, einem auf den Inspirationen für Yuimas neueste Kollektion basierenden Buch. VICE: Warum Modedesign?
Yuima Nakazato: Schon als kleines Kind habe ich ständig Sachen ­hergestellt, und als ich auf der Highschool war, habe ich Secondhand-Damenmode nach mei­nem Geschmack verändert und sogar Modeschauen an der Schule organi­siert. Ein Freund kümmerte sich um Beleuchtung und Spezialeffekte, ein zukünftiger Stylist war für Haare und Make-up zuständig und ich für Musik.

Ein anderer Look aus seiner Frühjahr/Sommer- Kollektion 2011

Woher kommt deine Faszination für Holz und Metall?
Meine Eltern waren Künstler, und mein Vater hatte immer gefährliches, schweres Gerät herumstehen, um das Metall zuzuscheiden. Man kann in meinen Arbeiten genau erkennen, wie viel Zeit ich mit dem Hobeln, Zuschneiden und Polieren verbracht habe. Ich nutze jede Gelegenheit, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Ich erinnere mich, wie ich die Samurairüstung im Museum sah und davon fasziniert war, wie härtere Materialien mit weicheren kombiniert wurden, um etwas extrem Widerstandsfähiges, aber auch Flexibles herzustellen. Du hast gesagt, du hättest deine Zeit am College damit verbracht, deine Design-Ängste loszuwerden. Was für Ängste?
Ich entwarf ständig riesige Silhouetten, weil mir nicht klar war, dass ich Angst vor dem menschlichen Körper hatte. Ich fürchtete auch Farben. Du entwirfst Herrenmode. Wieso versuchst du dich auch an Entwürfen, die für ein neues, drittes Geschlecht stehen?
Schon als Kind wollte ich nicht der typische Macho sein, nach dessen Bild sich die meisten Männer richten. Ich entwerfe aus der Perspektive heraus, mich selbst nie einer Gender-Grenze zu unterwerfen. Blickt man zurück in die japanische Kultur, so findet man viele Beispiele für ganz moderne Wege, über das soziale Geschlecht hinauszugehen. Idealerweise sollte es dir selbst überlassen sein, dein Geschlecht zu wählen oder nach deinem Ermessen zu konstruieren. Yuimanakazato.com Ein beeindruckender Look aus Writtenafterwards’ Kollektion The Fashion Show of the Gods. Foto von Daniel Sannwald WRITTENAFTERWARDS Yoshikazu Yamagata ist der Mastermind hinter Writtenafterwards, ein wirklich verrücktes Tokioter Label, das Kollektionen zu Themen wie Verbrechen und Strafe oder Gott entwirft. Als ultimativer Kreativer kreiert Yoshikazu derart unkonventionelle Mode, dass er damit kaum Geld verdient. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Art Director bei verschiedenen Werbeagenturen and als freier Illustrator. Er leitet auch eine eigene Modeschule: Coconogacco. VICE: Wolltest du schon immer Modedesigner werden?
Yoshikazu Yamagata: Definitiv. Und nicht einfach weil es Spaß macht, sondern weil mein Modetalent das Einzige ist, wofür ich je gelobt wurde. Ich hatte einfach keine andere Wahl. Wie kommst du auf Müll, Gott und Freimaurertum als Kollektionsthemen?
Weißt du, ich finde das gar nicht so verrückt. Ich finde, meine Entwürfe befassen sich mit ziemlich normalen Themen. Normal vielleicht, aber ein durchaus übertriebenes Normal oder die Extreme des Normalen. Wenn ich über Mode nachdenke, denke ich ganz selbstverständlich auch an Müll oder Gott oder was auch immer.
Oder meine Ideen kommen aus meiner persönlichen Erfahrung. Ich verarbeite in meinen Kreationen oft meine Erinnerungen und Träume. Für meine vierte Kollektion zum Beispiel habe ich eine Geschichte mit dem Titel I Am 0 Points geschrieben. Ich bekam in Prüfungen meist eine 0, als ich in Japan studierte. Also entwarf ich eine Kollektion in Anlehnung an eine Gestalt aus jener Zeit. In deinen Modeschauen scheint es um so viel mehr zu gehen, als nur das kommerzielle Muss, gut aussehende Kleidung herzustellen. Welche Absicht steht dahinter?
Ich höre immer, Mode sei ein Geschäft. Aber alles auf dieser Welt ist ein Geschäft. Kommerz ist in allen Bereichen vertreten, nicht nur in der Mode. Mode gehört ganz selbstverständlich zum Menschen, allerdings messen die Menschen der Verbindung zu Business und Geld zu viel Bedeutung bei. Mein Ziel ist es, das Kreativitätsniveau in der Mode zu heben. Ruiniert das Geld die Mode?
Ich liebe Geld und hätte wirklich gern mehr davon. Meine neue Kollektion heißt 0 Written und konzentriert sich auf Mode und Geld. In der Vergangenheit gab es immer eine enge Verbindung zwischen Kleidung und Geld. Was hast du in deiner Zeit als Assistent bei John Galliano gelernt?
Mode ist Leben und Tod. Sie besitzt unendliche Anziehungskraft und Macht, aber sie ist gefährlich. Kreativ zu sein, kann depressiv und verrückt machen. Genies wie John Galliano und McQueen sind daran zerbrochen. Ich war immer sehr angetan von dem, was sie taten. Aber bei dieser seltenen, hundertprozentigen Selbstaufopferung ist zugleich die Möglichkeit geistiger Selbstzerstörung immer gegenwärtig. Was unterrichtest du an deiner Modeschule Coconogacco?
In Japan ist die Modeausbildung wirklich konservativ und auf Herstellung von Kleidung beschränkt. Also beschloss ich, einen Ort zu schaffen, an dem man sich Mode auf verschiedenen Wegen nähern kann. Ich lehre die Studenten, sie selbst zu sein und auf ihre eigene Art etwas zu erschaffen, was von Bedeutung ist. Mode zu kreieren bedeutet, neue Perspektiven für die Menschen zu schaffen. Wir bilden sie in Mode aus, aber wir konzentrieren uns nicht nur auf Kleidung. Wäre es nicht schön, einfach nur simple, tragbare Kleidung zu entwerfen?
Das möchte ich gerne irgendwann mal, aber im Moment möchte ich noch so viel mehr damit sagen. Writtenafterwards.com