Foto eines Kindes als Schlumpf verkleidet
Die Autorin | Foto: Privat

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Der Karneval, die Nutten und der Tod
: Warum der Mensch den Ausnahmezustand braucht

Falls du deinen Eltern auf den Aschermittwoch erklären musst, warum du dich 2015 wieder albern angezogen ins Delirium gebützt hast, schick ihnen diesen Text zur Geschichte, Soziologie und Notwendigkeit totaler Entgleisung.

Ich habe einen dicken, der paßt für dein Loch
habe gevögelt und ficke dich noch;
Dein Loch, sonst so niedlich, so enge und klein,
Jetzt fährt man bequem mit einem Stiefel hinein!
—aus dem Düsseldorfer Straßenkarneval, 1891

Wenn Rheinland und Köln auch meine Heimat sind und ich das bunte Treiben durch das Leben auf dem Dorf in der Voreifel von klein auf aktiv miterlebt habe, würde mich heute als weitgehend davon geheilt bezeichnen. Nach meiner versoffenen Jugend stellte sich zunehmend Resignation über das Fest ein, die nach meinem Umzug ins Stadtzentrum von Köln in Ablehnung gipfelte. Erst durch meine neuerliche Beschäftigung mit dem Wesen und der Geschichte des Karnevals kann ich ihm wieder etwas abgewinnen. Wirklich: Man sollte den Karneval neben der Betrachtung der ganzen traditionellen Nutten-, Blut- und Sperma-Elemente (dazu kommen wir noch) mal von der melancholisch-historischen Seite sehen, will man nicht wie ein Arschloch im Kamelle-Regen stehen und einfach alles scheiße finden, was andere Menschen fröhlich zu feiern wissen—bei allem Sexismus bitte sehr. (Zu dem kommen wir auch noch.)

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Betrachtung einmal mehr, wenn ich mir vor Augen führe, was die Soziologin Yvonne Niekrenz im Gespräch deutlich gemacht hat: dass der Ausnahmezustand für eine Gesellschaft existenziell ist und unmittelbar im Leben kultureller Wesen einen Anker hat. (Und dazu kommen wir erst recht.)

Am Ende scheint gerade die Ausnahme wesentlich für die Natur des Menschen und seine Begeisterung für den Karneval zu sein—eine Zeit, in der die Narren regieren, alles Alltägliche hinter sich gelassen und das Irrationale gefeiert wird. So steht der Narr mit seiner verkrüppelten Gestalt und seiner Tölpelhaftigkeit seit dem Mittelalter für die, die nicht zur Gesellschaft gehören und auch nichts in ihr zählen. Mit diesem Außerhalb war es ihm erlaubt, Späße zu machen und Dinge zu sagen, die andere den Kopf gekostet hätten. Theologisch betrachtet steht er als Gottesleugner in direkter Verbindung zum Teufel, der Personifikation alles Sündhaften und Gottfernen, des Todes und der Vergänglichkeit. Er sollte seinen Herrn nicht nur bespaßen, sondern ihm auch stets vor Augen führen, dass auch er als Sünder geboren wurde und am Ende wie alle sterben werde. Und so soll auch der Karneval in seiner Unsinnigkeit uns Narren an die eigene Vergänglichkeit erinnern. Was für uns im Gegenzug das Hier und Jetzt betont.

Ficken, Sterben, alaaf: Warum wird Karneval eigentlich nicht überall gefeiert?

Nach dem Ende der französischen Besatzung fiel Köln 1814 dem Preußentum anheim und das tolle Karnevalstreiben kritisch beäugt. Berlin, im Gegensatz zum Rheinland weitgehend nach Luther reformiert, lehnte die sündige Narretei ab. So liegt das Überleben des Karnevals in der Rheinprovinz wohl in der Treue zum Katholizismus begründet. König Friedrich Wilhelm III. selbst hatte kein Verständnis für den Karnevalsquatsch und auch umgekehrt konnten die neuen Preußen im Rheinischen ihrem König ebenso wenig abgewinnen—die Kölner bangten derweil um die in den letzten Jahren gewonnenen Freiheiten, die sie durch die „zum Genuss unfähigen" Preußen in Gefahr gebracht sahen.

Die Forschung geht weitgehend davon aus, dass Karneval etymologisch erst mal ein christliches Fest beschreibt. Aus dem italienischen Kirchenlatein leitet sich carnelevare ab, was so viel wie Fleisch wegnehmen bedeutet und das üppige Fest bezeichnet, das vor der Fastenzeit beginnt. Schon damals war mit Fleischverzicht auch die Fleischeslust gemeint, weswegen der Bordellbesuch vor der Fastenzeit recht üblich war.

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Gegen Verrohung, Unsittlichkeit und leichte Weiber

Die unsittliche Entwicklung des Straßenkarnevals ist seinen neueren Organisationsformen geschuldet, die seit 1820 zunehmend in milizionär geprägten Vereinen und Karnevalsgesellschaften zusammenkamen und bis heute kommen. Büttenreden und der Umgangston auf Sitzungen wurden protokolliert, um sicherzugehen, dass das karnevalistische Treiben nicht obrigkeitsfeindlich und sittenwidrig waren. Die höhere Gesellschaft konnte dabei durch Beitragszahlungen, die für arme Handwerker unerschwinglich waren, unter sich bleiben. Und auch, wenn die unteren Einkommensklassen gefallen am Vereinsleben fanden und zunehmend eigene Vereine gründeten, fanden sie sich durch Verbote, steigende Steuern und Kosten mit ihrem Karneval zwangsläufig auf der Straße wieder, worüber die Obrigkeit wiederum besonders beunruhigt war.

1896 wurde das Singen zweideutiger Lieder und überhaupt jede Verletzung des Anstandes in Köln, Düsseldorf und Bonn unter Strafe gestellt. Schuld war „die stark anwachsende Masse der Prostituierten [die sich] mit ihren Zuhältern unerkannt und ungehindert auf den Straßen und in den Wirtshäusern" herumtreiben konnte. Jahrzehntelang war es üblich, dass das Vermummen und Maskieren auf der Straße nur durch den Erwerb einer Maskenkarte möglich war, um unerkannte Pöbelei durch den Pöbel auszuschließen. Geklappt hat das schlecht. Wie wild es auf den Straßen zuging, kann man den wohlformulierten Verboten entnehmen, die immer wieder erneut gegen „erhebliche(n) Excesse(n) und Rohheiten" ausformuliert wurden. 1826 wurde maskierten Personen in Düsseldorf „gewaltsame(s) Eindringen in Häuser und Läden, Beleidigungen oder Nekkereien aus streitsüchtiger Absicht, Verletzung der Ehrbarkeit und guten Sitten durch Äußerungen oder Gebehrden" untersagt. Ein Verbot, das bis zum ersten Weltkrieg fast 100 Jahre lang immer wieder neu formuliert wurde.

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Ebenfalls ungern gesehen: das Verkleiden von Frauen in Männerkleidung und umgekehrt, weil zunehmend als unmoralisch und die öffentliche Ordnung gefährdend angesehen. Und dann war da noch das 1900 eingeführte Konfettiverbot, das zuerst in Aachen und dann auch in Düsseldorf unter großen Protesten beschlossen wurde.

Zunehmend befürchtete man, dass die verkehrte Welt, die die Narren feierten, auch die alltägliche Gesellschaftsordnung gefährden könne. Es folgten etliche Verbote und Einschränkungen, Zensur von Karnevalsliedern und Büttenreden, Einschränkungen der Vereinstätigkeiten, das Verbot von Maskenbällen. Auch die Sittlichkeitsvereine versuchten, dem moralischen Verderben Einhalt zu gebieten. 1885 verlangten Aachener Bürger von der Oberbürgermeisterei die Abschaffung des Karnevals. Als Anklagepunkte wurden neben unzüchtigem Treiben auch das Singen von zotigen und blasphemischen Liedern angeführt, von denen die Straßen auch nach Jahren nicht freizubekommen waren und die vor allem von halbwüchsigen Burschen und Frauenzimmern gesungen worden wären.

1888 wurden die nicht zu kontrollierenden Maskenbälle in Düsseldorf nur noch Hurenbälle genannt. Aus einem Polizeibericht: „[A]bgesehen davon, daß die Frauenzimmer geküßt und herumgezogen wurden, entblödeten sich viele Personen sogar nicht, den Damen die Brüste zu begreifen und selbige unter die Röcke zu fassen." 1904 erreichte den Berliner Innenminister ein Schreiben, in dem Vorschläge für das Nutten-Problem laut wurden. Demnach sollten Hausbesitzer, die Prostituierte beherbergten, dafür Sorge tragen, dass die Frauen an Karneval zu Hause bleiben, andernfalls solle man ihnen mit vier Wochen Knast drohen. Auf diese Forderung reagierte man in Aachen gelassen. Der Polizist räumte zwar ein, dass die Karnevalszeit mehr Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr biete, betonte aber gleichzeitig, dass daran weniger die Dirnen Schuld hätten.

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Wie die Nutten die Frau sexuell befreiten (Nicht.)

Man kann vermuten, dass man zunehmend normale Frauen mit Dirnen verwechselt hat, weil doch der Karneval, gerade für Frauen, Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung bedeutete, wie man sie sonst im Alltag nicht auszuleben gewagt hätte. Und auch heute ist es noch so, dass man den Närrinnen an Karneval eine sexuelle Freiheit zugesteht, die ihr im restlichen Jahr verwehrt wird.

So muss ich meine Kritik am Karneval ein Stück weit einschränken. Für mich stand das Fest bisher für einen von Frauen mitinszenierten Sexismus—der Karneval: ein einziges Freudenhaus. Doch ist eigentlich die Gesellschaft daran Schuld, dass die Frau auch heute noch den Karneval braucht, um sexuelle Selbstbestimmung und genussvolle Freizügigkeit ausleben zu dürfen und zu tun, was ihr Spaß macht. Auch Yvonne Niekrenz, die als Soziologin über „Rauschhafte Vergemeinschaftungen" geschrieben hat, sagte mir, dass der Name der „Weiberfastnacht" den Trugschluss zuließe, dass hier wohlmöglich ein Symbol der Gleichberechtigung statuiert sei. Viel wahrscheinlicher ist wohl, dass gerade ein Ausnahmetag wie Weiberfastnacht die sonst von Männern dominierte Gesellschaft eher bestätige, als dass ihm emanzipatorischer Sinn zugesprochen werden kann. Ein Tag, an dem der Frau mal das Zepter überlassen wird, ist lediglich der Beweis dafür, dass sie sonst eben nichts zu sagen hat.

Wir leben scheinbar immer noch in einer Gesellschaft, in der erst Karneval sein muss, damit die Frau, ohne in Verruf zu geraten, in Strapse auf die Straße gehen, sich dem Vollrausch hingeben oder Sex mit ein, zwei oder 3 Männern und einzeln oder mit allen gleichzeitig haben darf. Wie im 19. Jahrhundert muss Frau dafür wohl auch weiterhin auf den alljährlichen Ausnahmezustand warten.

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Ein Stück weit beweisen das die unzähligen Punkte, in denen sich Frauen auf das Fest vorbereiten. So gibt es unter vielen Mädchen in den Klassenzimmern der weiterführenden rheinländischen Schulen schon Monate vor Weiberfastnacht nur dieses Thema: Was werde ich an Karneval? Sexy gehört hier obligatorisch zu jedem Kostümplan. Sexy Polizistin, sexy Ebola-Helferin, sexy Schulmädchen. Und selbst für die Mädchen, die noch nicht sexuell aktiv sind, freuen sich darauf, mit SM- und Fetisch-Accessoires den pubertierenden, pickligen Klassenkameraden mal richtig schön einen Halbsteifen zu bescheren.

Beine lang, Beine breit, Arsch hoch, Herpes, winkewinke

Eine weitere Abneigung hege ich gegen die Funkenmariechen. War ich doch das einzige Mädchen in meinem Dorf, das sich unüblicherweise nicht den Hupfdohlen anschließen wollte und lieber auf dem Fußballplatz tanzte. Mariechen sein lässt sich im Prinzip auf vier Elemente beschränken: Beine hoch, Beine breit, mit dem Hintern wackeln und fröhlich winken. Auch die allerjüngsten Tanzmariechen werden von Mutti mit Make-up beklatscht, herausgeputzt und im Mieder auf die Bühne geschubst. Und während Mama stolz neben der Bühne die Hände ineinander gefaltet und mit Tränen in den Augen dem entzückenden Auftritt der Tochter zuschaut, freuen sich auch die alten, besoffenen Männer in den ersten Reihen, die jedes Mal Stielaugen machen, wenn sich die jungen Schenkel heben, die durch die hautfarbene Strumpfhose wie nacktes Fleisch aussehen.

Die sexuelle Freizügigkeit, gepaart mit Vollrausch, kann zu unschönen Szenen führen. Egal wie weit die Temperaturen den Gefrierpunkt unterschreiten und sich das Spaghetti-Top in die wundgewordenen Nippel schneidet: für viele gilt in der kalten Karnevalszeit: Wer schön sein will, wird leiden.

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Während man sie morgens noch tipptopp gestylt vor den Kneipen herumalbern sieht, findet man viele der Engel, Teufel und Kätzchen nachmittags schon auf dem Boden wieder: Dutzende Prosecco intus, auf High-Heels stöckelnd, im halsbrecherischen Manöver, den Alkohol immer wieder hochwürgend und sich durch die aufkeimende Herpes-Infektion auf der Lippe an die 27 Bützchen erinnernd, die sich in 10 Fällen doch irgendwie und aus Versehen zum Zungenkuss entwickelt haben und derer man sich schämt, während man sich, mit dem blanken Arsch, der sich zum großen Teil aus der hochgerutschten Hotpants presst, auf den nass-kalten Bürgersteig bugsiert, wo man sich dann ganz in Ruhe eine Blasenentzündung holen kann. Und ob man das Karnevalsfest und die dazugehörigen Züge, Sitzungen, Partys und Gelage gutgelaunt übersteht, hängt nicht nur vom Rauschzustand ab. Für viele ist die Erwartung an Karneval maßgeblich mit dem aktuellen Beziehungsstatus verknüpft.

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Zugegeben, Mann und Frau haben es beide an Karneval schwer, denn mit dem Austritt auf die Straße ist man dem Meer der Sünde, der süßen Verlockungen, unmoralischen Angebote, nackter Titten und blanker Ärsche weitgehend ausgeliefert. Bist du Single oder hast es geschafft, eine über Karneval geltende Auszeit zu verhandeln und oder zu provozieren, hast du Glück und kannst genießen. Bist du in einer Beziehung, kann man sich meist auf Herz-Schmerz-Dramen einstellen, die von blutenden Kopfverletzungen und „Guck noch ein mal meine Freundin an" bis hin zu hysterischen Frauen, die auf den eigenen Freund losgehen und ihn beschuldigen, der Indianerin in der letzten Kneipe an den Arsch gelangt zu haben, ein breites Dramenspektrum abdecken. Am Ende die Frage: Wofür und warum das Ganze?

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Weil der ersehnte Ausnahmezustand, an dem die Welt, wie sie ist, aufgehoben wird und in dem man sich im Rausch dem völligen Irrsinn hingeben kann, in der Natur des Menschen begründet liegt. Schlussendlich entpuppt sich als wesentlicher Bestandteil des Narrenfestes der Rausch und der Exzess an sich.

Wir sind alle arme Idioten, und das in jedem Zustand ohne Ausnahme

Anthropologisch sagt der den Karneval prägende Ausnahmezustand viel über das Wesen des Menschen aus. Das natürliche Streben nach Kontrollverlust, Rausch und Ekstase, die sich durch Wein, Sex, Musik erreichen lässt, ist wohl als das ursprünglich Menschliche der Seele zu erkennen und direkt mit dem Wissen um die eigene Endlichkeit verbunden. Wir sind alle die Narrenfigur, arme Idioten, die sich über die eigene jämmerliche, dem Tode geweihte Existenz lächerlich machen.

Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Exzess und Tod. Im Exzess schärft sich der Blick für die eigene Sterblichkeit. Karneval ist eine Persiflage auf das Leben, das sich um den Endpunkt organisiert. Er zeichnet in seinen Gesetzmäßigkeiten das Leben im Kleinen nach. Der Mensch zwischen Geburt und Tod, der Narr zwischen Weiberfastnacht und Aschermittwoch.

Die zeitliche Begrenzung sei hier prägend wie notwendig, weil sie mit Sicht auf das baldige Ende, den Exzess verstärken würde. Mit Aussicht auf den Aschermittwoch und dem einhergehenden Verausgaben sehnen wir gleichzeitig das Ende des Ausnahmezustands herbei. Der Karneval mahnt die Menschen, den Moment zu leben, weil es morgen vielleicht vorbei sein kann und wenn nicht morgen, dann zumindest irgendwann. Das Kostüm vereinfacht die Kommunikation und gibt uns Narrenfreiheit, fern ab von bestehenden Standesschranken und Sittlichkeit.

Für Soziologin Niekrenz ist sicher, dass sich zeitlich begrenzte Ausnahmezustände positiv auf die bestehende Ordnung auswirken, weil an einen regellosen Alltag, im Rausch und Exzess, gar nicht zu denken sei. Die zeitweise Negierung alles Herrschenden, mache den Alltag erst wieder lebbar und notwendig.

Im Karneval wie im Tod sind alle Menschen gleich. Im Tod gibt es keine Rationalität, keine sinnstiftende Ordnung und der Karneval karikiert mit seiner verkehrten Welt die Nachtseite des Lebens. Das Saufen und Ficken, der Rausch und der Exzess als Entgrenzung und Entmenschlichung, die den Tod nachzuahmen scheinen. Ficken. Sterben. Alaaf.


Mit Material aus Dr. Christina Frohns: „Karneval in Köln, Düsseldorf und Aachen 1823—1914" und aus dem Gespräch mit Dr. Yvonne Niekrenz über „Rauschhafte Vergemeinschaftungen: Eine Studie zum rheinischen Straßenkarneval".
Titelfoto: Tim Bartel | Flickr | CC BY 2.0