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Wir müssen mehr übers Kacken reden!

Auch du guckst dir die Wurst an, die du hinterlässt. Warum die Deutschen trotzdem verklemmt sind, wenn es um Scheiße geht.

Foto: imago | Dieter Bauer

Abendessen in einem Altbau in Neubau. Fünf Mittzwanziger in Kreativberufen, dritte Flasche Wein.

Gast: Ich wusste gar nicht, dass ihr ein Kind habt.
Gastgeberin: Haben wir auch nicht. Wie kommst du drauf?
Gast: Ihr habt da so einen kleinen Hocker im Bad. Ich dachte, er ist dazu da, damit das Kind auf die Kloschüssel klettern kann …
Gastgeberin: Oh nein, das ist ein Squatty Potty.
Gast: Ein was?
Gastgeberin: Unser Kackhocker.

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Der Gast verschluckte sich an seinem Chardonnay. Aber die Gastgeberin referierte unbeirrt weiter. ("Die Hockstellung ist die natürliche Haltung für den Menschen, das entspannt den Schließmuskel. Jemand noch Wein?") Währenddessen stocherte der Rest der Gäste betreten im Risotto, zugegeben: auch ich. Ich bin zwar schon öfter in Badezimmern meiner Freunde über Kackhocker gestolpert, und im Internet über Artikel darüber, wie sinnvoll sie angeblich sind. Aber jedes Mal, wenn ich ein Exemplar im Bad sah, war ich peinlich berührt. Mir ist schon klar, was man auf Toiletten tut. Aber den Beweis dafür prominent wie ein Denkmal im Bad stehen zu lassen?

In diesem Video wird die Funktionsweise von Squatty Potty sehr gut mittels regenbogenkackenden Einhörner erklärt.

Ich kann mit meinen Freunden über die intimsten Sexvorlieben reden, die schlimmsten Krankheiten. Aber mal ehrlich: Wer spricht im Freundeskreis, oder selbst mit dem Partner, mit dem man zusammen wohnt, übers Kacken? Am häufigsten hört man das Klo-Vokabular in Fäkalwitzen oder als Schimpfwort: Scheißwetter, Arschloch.

"Themen, über die man flucht und Witze macht—das sind Sachen, die für eine Gesellschaft offenbar besonders heikel sind", sagt der Kulturwissenschafter Florian Werner. Im großen Teil von Europa schimpfe man sexuell. (Stimmt: fuck, cazzo, oder "Ik voel me klote"—"ich fühl mich hodig", das die Holländer statt "mir geht's beschissen" sagen.)

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Wir schimpfen eher anal, obwohl das im protestantischem Raum weiter verbreitet sei als im katholischem, wo man—Kruzifix!—oft religiös schimpfe, erzählt Werner. Florian Werner hat ein faszinierendes Buch geschrieben:Dunkle Materie: Die Geschichte der Scheiße. Unter anderem lernt man darin, dass ein Mensch durchschnittlich ein Jahr seines Lebens mit Kacken verbringt, Vegetarier doppelt so viel ausscheiden wie Fleischfresser und es in der Antike Koproskopie gab—ein Diagnoseverfahren, um aus den Exkrementen eines Menschen seinen Charakter abzulesen.

Von den sieben Büchern, die Werner schrieb, bekam Dunkle Materie die meiste Aufmerksamkeit. Viele Menschen interessieren sich dafür—wohl genau deswegen, weil es bei dem Thema massenweise schambedingte Wissenslücken gibt. Nach dem gleichen Erfolgsprinzip funktioniert Darm mit Charme—ein Aufklärungsbuch über das Verdauungssystem, in dem die Autorin unter anderem ganz entspannt über die Crohn-Krankheit und die Bristol-Stuhlformen-Skala erzählt (Typ-3-Stuhl ist demnach zum Beispiel wurstartig mit rissiger Oberfläche). Das Buch verkaufte sich allein im ersten Jahr über eine Million Mal und die Buchrechte wurden in 26 Länder verkauft, in denen es ebenfalls die Bestsellerlisten stürmt. Für Werner ist es nicht unbedingt ein Indiz dafür, dass Menschen endlich entspannter mit dem Thema umgehen: "Der Erfolg von Darm mit Charme zeigt, dass es immer noch ein Tabu ist. Ein Buch über Haare hätte sich nicht so gut verkauft."

Kacken bleibt ein Mysterium, auch weil wir auf hölzerne Euphemismen ausweichen müssen, wenn wir darüber reden: "Ich wurde oft zu Interviews und Vorträgen eingeladen, aber es hieß immer wieder: 'Bitte sagen Sie nicht Scheiße, sagen Sie Exkremente'", erzählt Werner. "Dabei ist Scheiße ein Wort, das die Sache ganz gut trifft. Es ist ehrlicher als Kot oder Fäkalien."

Werner hat Recht: Ich bin verklemmt. Je öfter wir über Kacke reden würden, desto wenige eklig wird sie uns vorkommen. Dinge sind anstößig, wenn man sie tabuisiert. Kacken ist vielleicht kein guter Gesprächsopener auf der Weihnachtsfeier. Aber wenn man einen Menschen mag, sollte man anerkennen, dass auch er oder sie ein Verdauungssystem besitzt—ohne Fäkalhumor oder Schamesröte. Warum auch nicht bei Weißwein? Warum nicht mit einem Menschen, mit dem man Bett und Alltag teilt? "Jeder kackt. Jeder verdient es, glücklich zu sein. Logisch gesehen verdient also jeder, mit dem Menschen, der ihm am glücklichsten macht, über Kacke zu reden", heißt es in einem Plädoyer des Journalisten Jeremy Glass. Auch wenn das im Sinne der Logik nicht ganz einwandfrei ist, finde nicht nur ich die Aussage gut.

"Wer offen über Verdauung redet, sucht schneller Hilfe, wenn etwas nicht stimmt", sagt Rupert Roschmann, der Sprecher der Fachgruppe "Klinische Psychologie im Allgemeinkrankenhaus". Roschmann arbeitet seit über 30 Jahren als Psychotherapeut. "Solange es ein Tabuthema bleibt, versucht jeder, seine Probleme selbst zu lösen", sagt er. Bei Hämorrhoiden und Verstopfung sind die Folgen davon schmerzhaft, bei Darmkrebs können sie tödlich sein. Sprich: Weniger Verklemmtheit beim Thema Kacken kann dir das Leben retten.