Lara und ihre Narben
Fotos: Shirin Siebert
narben

Selbstverletzung: Hört auf, mich auf meine alten Narben anzusprechen

Jeden Sommer berühren Fremde ungeniert die Haut unserer Autorin. Ihre Tipps für einen respektvolleren Umgang.

Achtung, dieser Text enthält Details über selbstverletzendes Verhalten. Bitte beachte, dass er dich triggern könnte, wenn du selbst betroffen bist oder warst.

Du leidest an Depressionen oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Den Notfallpsychologischen Dienst erreichst du hier unter 0699 18 85 54 00.

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Ich bin 12 Jahre alt, als ich mir das erste Mal mit der Bastelschere in den Arm schneide. Es erscheint mir wie das einzig Richtige. Ich sitze an meinem Schreibtisch in meinem Kinderzimmer, tapeziert mit Familienfotos, Ausrissen aus der Bravo und Harry-Potter-Postern. Der Schnitt fühlt sich an wie der einzige Weg, um meine Verzweiflung loszuwerden.

Die Luft riecht nach Salz, Sonnencreme und Erdbeereis – es ist Sommer. Ein Sommer, in dem ich jeden Tag nach der Schule an meinen Schreibtisch zurückkehre, zu meiner Bastelschere. Ich schreibe darüber angemessen schockiert in meinem Tagebuch und verstecke meine verletzte Haut unter einer viel zu warmen Lage Jerseystoff, der sich jedes Mal, wenn ich mich bewege, an den Wunden reibt, und mir durch den brennenden Schmerz ins Gedächtnis ruft: Du hast dich selbst verletzt.

Heute, dreizehn Jahre später, ist mein Körper von einem Geflecht aus Narben überzogen, die ich mir selbst zugefügt habe.

Schreibtisch Lara

Als Lara 12 war, schnitt sie sich das erste Mal mit einer Bastelschere selbst – hier, an diesem Schreibtisch.

In diesem Sommer trage ich auch an den heißesten Tagen Armstulpen. Eines Tages fragt mich eine Mitschülerin, wir sind lose befreundet, ganz unverblümt, ob ich "mich ritzen" würde. In einem Anflug jugendlicher Gutgläubigkeit bejahe ich und erzähle ihr von der Bastelschere. Wenige Tage später sitzen wir im Kunstunterricht zu fünft an einem Gruppentisch, als die Mitschülerin mich quer über die Tischplatte hinweg erneut fragt, ob ich "mich mal geritzt" hätte. Stille. Ich laufe rot an, pule in Ermangelung einer schlagfertigen Antwort im Schoß an meinen Nägeln. Bis eine andere Mitschülerin in verschwörerischem Tonfall raunt: "Ja, hat sie." Vielsagender Blick in die Runde. Ich sage nichts. Nach diesem Tag erzähle ich für lange Zeit niemandem mehr auch nur ein Wort davon.

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Es folgen mehrere Jahre zwischen ambulanten und stationären Psychotherapien, Klausuren und Schularbeiten, die in einem geradeso bestandenen Mittleren Schulabschluss enden. Aus meinem ersten Sommer mit Selbstverletzungen ist ein ganzes Leben der Selbstverletzungen geworden. Die Idee aus dem Kinderzimmer ist zu der einzig wirksamen Strategie geworden, um mit meinen Gefühlen und meinem Lebens irgendwie umgehen zu können.

Der Sommer scheint eine Einladung für euch zu sein, mich nach meinen Narben zu fragen

Inzwischen bin ich älter und selbstbewusster geworden, meistens kümmert es mich nicht mehr, ob andere Menschen die persönliche Katastrophen-Kartografie meines Körpers zu sehen bekommen. Mein selbstverletzendes Verhalten (das ist die medizinisch korrekte Bezeichnung) hat sich von jenem Sommer auf mein ganzes Leben ausgedehnt. Ich habe gelernt, damit zu leben. Wenn die Sonne sich heute durch die selten aufbrechende Hamburger Wolkendecke schiebt und das Thermometer in die Höhe klettert, trage ich Kleider, T-Shirts und Bikinis, fühle mich frei. Meistens.

Aber nicht immer. Denn auch jetzt noch merke ich, dass die Menschen, denen ich begegne, sich im Sommer besonders dafür interessieren, dass meine Haut so aussieht, wie sie aussieht – und vor allem dafür, warum. Es ist, als wären der Sommer und meine nackte, vernarbte Haut eine stumme Einladung für sie. Das ist nach wie vor oft unangenehm für mich. Plötzlich muss ich Rede und Antwort stehen für etwas, das eigentlich viel zu intim ist, um es zwischen Tür und Angel anzureißen.

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Sommer 2019. Es sind 30 Grad, ich gehe mit ein paar Arbeitskollegen in die Mittagspause und ziehe meine Jeansjacke aus. Kaum dass meine Arme frei liegen, ergreift einer der Kollegen mit beiden Händen meinen rechten Arm und stößt dabei ein Geräusch aus, das halb Anerkennung und halb Bestürzung zu sein scheint. Ich winde mich aus seinem Griff und sage ihm, dass ich es nicht mag, wenn man mich einfach so anfasst. Erkläre ihm, dass das für mich grenzüberschreitend ist. Er entschuldigt sich. Die Situation ist für mich abgehakt.

Es läuft nicht immer so. Nicht jeder Mensch, der an selbstverletzendem Verhalten leidet, ist in der Lage, mit Begegnungen wie dieser auf selbstfürsorgliche Weise umzugehen. Nicht jeder Mensch schafft es in so einem Moment, für sich einzustehen.

Bei einem Fünftel der Weltbevölkerung kommt es im Jugendalter mindestens einmal zu selbstverletzendem Verhalten. In Deutschland verletzen sich mehr als 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche regelmäßig selbst (Stand: 2015), die Tendenz ist steigend. Damit ist Deutschland eins der europäischen Länder mit der am stärksten ausgeprägten Häufigkeit von selbstverletzendem Verhalten im Jugendalter. Je nach äußeren wie inneren Einflussfaktoren und nach Behandlungsmöglichkeiten bleibt dieses Verhaltensmuster bis ins Erwachsenenalter bestehen – so wie zum Beispiel bei mir.

Selbstverletzung kommt also nicht selten vor. Und es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass du irgendwann in deinem Leben jemandem begegnest, der von selbstverletzendem Verhalten betroffen ist. Wie man dann reagiert? Bitte nicht so, wie mir und meinen Freunden schon oft ergangen ist.

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Begegnet mir und meinen Narben mit Respekt!

Meine Freundin Lynn, die ich hier nicht bei ihrem richtigen Namen nennen möchte, leidet ebenfalls an selbstverletzendem Verhalten. Sie berichtet, einmal mit ihrer Arbeitskollegin, nennen wir sie Petra, allein in der Firma gewesen zu sein. Lynn bot an, die Orangenstücke zu schneiden, die immer ins Trinkwasser getan werden. Petra wollte ihr zeigen, wie man die Orange am effizientesten schneidet. "Du machst einfach ganz viele Schlitze in die Schale der Orange", hätte die Kollegin gesagt. Und dann: "Mit Schlitzen hast du ja Erfahrung, mach es einfach so wie mit deinen Armen." Lynn war so perplex, dass sie nicht reagieren konnte. "Ich fühlte mich auf einmal ganz leer und wusste nicht, wie sie das gemeint hat, oder wie ich damit umgehen sollte", erzählt sie mir später.

Im Nachgang habe sie sich gewünscht, dass Petra so etwas gar nicht erst gesagt hätte. Sie habe sich gewünscht, Petra hätte zumindest im Nachhinein gemerkt, dass ihre Aussage nicht angemessen war, und sich entschuldigt. Aber es kam nie eine Entschuldigung. Und Lynn sprach das Thema nicht mehr an.

Narben Beine

Im Sommer, wenn Arme und Beine frei sind, sprechen besonders viele Menschen unsere Autorin auf ihre Narben an

Vermutlich wollte Petra Lynn nicht absichtlich verletzen. Wahrscheinlich war ihr Spruch eben das: ein Spruch, über den sie nicht weiter nachgedacht hat. Aber das ist genau das Problem. Denn solche Aussagen sind verletzend und verunsichernd. Das ist wie, als wenn du zu einem alkoholabhängigen Menschen sagen würdest: "Trink halt einfach genug Wasser, mit Trinken hast du ja Erfahrung." So ein sensibles Thema in einen derart trivialen Zusammenhang zu setzen, kann sich für Betroffene wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen.

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Oft schämen sich Betroffene für ihre Narben und haben Angst, darauf angesprochen zu werden. Manche befürchten, verurteilt, nicht mehr ernst genommen oder als "irre" abgestempelt zu werden, vor allem im Job.

Für Menschen, die noch nie im Leben mit selbstverletzendem Verhalten zu tun gehabt haben, muss der Gedanke, dass sich jemand absichtlich in die eigene Haut schneidet, grotesk sein – das verstehe ich. Ich verstehe auch, dass man wissen will, was das soll, und begreifen will, wie es dazu kommen kann. Aber darüber aktiv mit jemandem zu sprechen, bedeutet zumindest für mich, mich an furchtbare Zeiten und Gefühle in meinem Leben erinnern zu müssen.

Viele Menschen scheinen das zu vergessen. Stattdessen fassen sie mich ungefragt an, dichten mir völlig aus dem Zusammenhang medizinische Diagnosen an oder reißen einen Witz.

Die Zahl derer, die in Bezug auf meine Narben ein unangenehmes oder unpassendes Verhalten an den Tag legten, übersteigt die Zahl derjenigen, die sich empathisch und respektvoll verhalten haben, um Längen. Sommer für Sommer kommt es vor, dass Menschen, die ich nicht kenne, ungefragt und ungeniert meine Haut berühren, als sei mein Körper abstrakte Kunst.

Auch meine Freundin Miriam, auch sie heißt eigentlich anders, hat Narben. An einem heißen Tag habe sie bei der Arbeit zum ersten Mal ihre Ärmel hochgekrempelt. "Der Chef zog meinen Ärmel hoch und sagte ernsthaft: 'Da hast du aber ordentlich zugelangt. Machst du das immer noch? Auf dem anderen Arm auch?' – und war schon dabei, meinen zweiten Ärmel hochzuziehen", erzählt sie.

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Sie sei geschockt gewesen. Aber sie schämte sich vor ihren Kollegen und Kolleginnen, die alles mitangehört hatten, und versuchte deshalb, auf cool zu tun und die Sache mit Humor zu sehen. "Der Chef verabschiedete sich mit einem lustigen 'Ritzi Ritz' aus der Situation", erzählt Miriam wütend. "Wenn mich jemand aufrichtig und interessiert fragt, dann antworte ich gerne. Aber das ist mir bisher eher selten passiert."

Split Rose Spiegel

"Schluss mit dem Bullshit!"

Ich habe ganz ähnliche Erfahrungen gemacht wie Miriam, vor allem im Arbeitsumfeld. Einmal griff ein Kollege mich vor versammeltem Team an und legte mir nahe, "mir mal Hilfe zu suchen". Es sei "ja offensichtlich, dass ich Probleme habe". In einem Praktikum fragte man mich, "womit" ich mich verletzen würde und gleich darauf, "ob ich denn dann auch Amok laufen" würde. Meine fachliche Kompetenz wird aufgrund meiner psychischen Verfassung immer wieder in Frage gestellt.

Es darf nicht sein, dass Menschen wie Lynn, Miriam und ich sich bedeckt halten müssen, aus Angst, komisch angesprochen oder angefasst zu werden.

Ich möchte, dass meine Mitmenschen wissen, dass selbstverletzendes Verhalten aus psychischem Leid entsteht. Für mich schien diese Verhaltensweise phasenweise als das einzig hilfreiche Werkzeug, um Schmerz und Leiden zu bekämpfen. Über die Zeit hat dieses Muster sich manifestiert. Mein Kopf lernte irgendwann: Das ist das, was ich mache, wenn nichts anderes mehr hilft.

Fünf Tipps: So können wir über meine Narben sprechen

Wenn du einer betroffenen Person begegnest und Fragen an sie hast, halte inne, bevor du sie ansprichst. Entscheidend ist das "Wie".

1. Nimm die Person in einem ruhigen Moment beiseite und erkundige dich, ob es in Ordnung für sie wäre, deine Fragen zu beantworten. Wenn dir das lieber ist, kannst du der Person auch eine Nachricht schreiben und um ein Gespräch bitten.

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2. Akzeptiere es, wenn die Person nicht mit dir über ihre Narben sprechen möchte.

3. Vermeide es, der Person "eine Diagnose zu stellen". Sollte sie eine diagnostizierte Erkrankung haben, ist es ihre Entscheidung, dir davon zu erzählen.

4. Frag die Person nicht, mit welchen Gegenständen sie sich selbst verletzt. Das ist sehr persönlich und kann schreckliche Erinnerungen auslösen. Darüber zu sprechen, kann außerdem triggernd auf die Person wirken – also in ihr den Drang hervorrufen, sich wieder verletzen zu wollen.

5. Gebe der Person keine ungefragten Ratschläge, was sie tun könnte, anstatt sich selbst zu verletzen. Das ist vielleicht gut gemeint, aber anmaßend.

Dass wir als Gesellschaft empathisch oder wenigstens neutral mit Betroffenen umgehen, ist wichtig, damit wir alle wir selber sein können. Ohne Erklärung, ohne Rechtfertigung, ohne Verurteilung.

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