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Life Inside

Ich habe einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht

Zum ersten Mal saß ich in einer Jury. Ich hatte keine Ahnung, wie leicht sich Menschen täuschen können.
Illustration: Leonardo Santamaria

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit The Marshall Project entstanden.

Ich sehe Kia noch vor mir, wie er zusammengesackt am Tisch der Verteidigung sitzt. Er zeichnete irgendwas auf einen Notizblock. Seine ganze Körpersprache schien Gleichgültigkeit auszustrahlen. Ich las darin: "Ja, ich hab's getan."

Ich war 31 und zum ersten Mal als Jury-Mitglied geladen. Damals studierte ich noch und hatte gleichzeitig zwei Jobs. Es war 2009, New Orleans hatte enorme Probleme mit Kriminalität, und ich wollte auf der Seite der Gerechtigkeit stehen. Während der Jury-Auswahl fragten die Staatsanwälte, ob ich im Stande sei, anhand nur einer Zeugenaussage in einem Mordfall zu urteilen. Ich sagte Ja.

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Der Prozess war sehr kurz. Das Opfer hieß Bryant Craig, ein Freund von ihm betrat den Zeugenstand. Vier Jahre zuvor waren der Zeuge und Craig im Auto unterwegs gewesen, dabei hatten sie fast einen Fußgänger überfahren. Der Fußgänger erschoss daraufhin Craig. Sein Freund war überzeugt, dass es sich bei dem Schützen um den 17-jährigen Kia Stewart handelte. Seine Zeugenaussage änderte sich während des Prozesses kein bisschen. Er stotterte nicht, als er erzählte. Ich dachte: "Wenn ich zugesehen hätte, wie jemand meinen Freund ermordet, würde sich das Gesicht des Täters bei mir einbrennen."


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Stewarts Verteidigung half nicht gerade: Seine Anwälte waren eine wechselnde Gruppe Jurastudierende und ihr Professor. Die Studierenden taten ihr Bestes, aber sie hatten zu wenig in der Hand. Sie hatten die Aufzeichnung des Notrufs nach der Tat und betonten, der Zeuge habe Stewart darin nicht erwähnt. Das Argument war schwach.

Zwei der Jury-Mitglieder waren Anwälte. Als wir uns berieten, fragten sie uns alle nach unserer Meinung. Ich dachte, sie hätten es uns bestimmt gesagt, wenn die Verteidiger Fehler begangen hätten. Ich bin eigentlich keine Mitläuferin, aber diese beiden wirkten kompetent und hielten Stewart für schuldig.

Eine Afroamerikanerin ließ sich nicht dazu bewegen, für "schuldig" zu stimmen. Die Staatsanwaltschaft hatte sie nicht überzeugt. Sie war älter, und ich fragte mich, ob sie sich vorstellte, dass Stewart ihr Sohn sein könnte. Ihre Sturheit brachte dem Angeklagten nichts: Nur wenn es um die Todesstrafe geht, braucht es in Louisiana ein einstimmiges Jury-Urteil. Für Kia Stewart forderte die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft ohne Bewährung, also reichten zehn von zwölf Stimmen.

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Hinterher glaubte ich, wir hätten der Gerechtigkeit gedient und ich hatte meinen Teil zur Verbrechensbekämpfung beigetragen. Aber ich war auch unzufrieden: Ich hatte mir einen Prozess mit ausgezeichneten Staatsanwälten und Verteidigern gewünscht. Justiz auf höchstem Niveau. Die Realität hatte anders ausgesehen.

Angst hatte ich allerdings ein wenig. Ich musste an Stewarts Familie vorbei, als ich den Gerichtssaal verließ.

Ein paar Jahre nach dem Prozess zog ich von New Orleans nach Houston in Texas. Eines Tages 2014 klopfte es an meiner Tür: Ein Mann und eine Frau standen draußen, aber sie passten optisch nicht in mein Viertel, also versteckte ich mich. Dann rief mein Cousin an und erzählte, die zwei hätten bei ihm nach mir gefragt. Sie wollten mit mir über meinen Jury-Dienst sprechen.

Ich ließ sie rein. Die beiden kamen vom Innocence Project New Orleans. Es gebe ein Problem mit Stewarts Urteil, sagten sie. Er sei vermutlich unschuldig.

Mir wurde ganz schlecht. Zwischen dem Mord und Stewarts Prozess verwüstete der Hurrikan Katrina New Orleans. Das hatte die Suche nach Zeugen erschwert – Stewart hatte außerdem von allen Wärtern verlassen im Gefängnis gesessen, als der Sturm es überflutete. Inzwischen hatten sie weitere Zeugen gefunden. Die konnten bestätigen, dass Stewart zum Tatzeitpunkt schlief, andere identifizierten einen Mann namens Antonio Barnes als mutmaßlichen Täter. Barnes kam später bei einem versuchten Raubüberfall um. Die Vertreter vom Innocence Project erklärten mir, wie falsch meine Annahmen zur Verlässlichkeit von Zeugen waren: Wer traumatisiert ist, erinnere sich schlechter, sagten sie. Wenn man sich hinterher Gerechtigkeit wünsche, halte man seine Erinnerungen wiederum für klarer, als sie sind.

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Ich ging meine Erinnerungen an den Prozess durch und alles erschien mir in einem neuen Licht. Vielleicht klang der Zeuge nur so sicher, weil er seine Aussagen vorher geübt hatte. Und Stewarts Körpersprache – das war wohl keine Gleichgültigkeit, sondern eher Hoffnungslosigkeit. Er glaubte vermutlich nicht daran, dass er überhaupt eine Chance hatte.

Ich unterschrieb eine Erklärung unter Eid, in der stand, dass ich anders gestimmt hätte, wenn ich die neuen Beweise gekannt hätte. Erst im September 2017 hörte ich wieder vom Innocence Project: Man hatte Stewart freigelassen, nach fast zehn Jahren hinter Gittern. Ich war tieftraurig, dass er das durchmachen musste. Aber ich bin auch wütend: Inzwischen habe ich viel über das Justizsystem gelesen und kann nicht fassen, dass die US-Regierung zulässt, dass Angeklagte in einem Mordfall so eine schlechte Verteidigung kriegen. So werden Leben zerstört.

Ich habe heute zwei Söhne, und aufgrund dieser Erfahrung habe ich Angst um sie. Zu dem Umzug nach Houston entschloss ich mich damals, weil ich nicht wollte, dass sie inmitten der Kriminalität von New Orleans aufwachsen. Als Mutter schwarzer Jungs sehe ich täglich, wie voreingenommen die Menschen ihnen gegenüber sind. Das kann zu Tragödien führen, wie bei Stewart.

Ich würde Kia gern sagen, dass es mir leidtut. Dass ich mich damals an den Informationen orientierte, die man mir zeigte. Es muss ihn traumatisiert haben, so viele Jahre im Gefängnis zu sitzen. Man hat ihm seine Jugend genommen. Ich hoffe, er erholt sich davon. Wenn ich Arbeitgeberin wäre, würde ich ihm sofort einen Job anbieten.

D'Shean Kennedy war eines von zehn Jury-Mitgliedern, die Kia Stewart verurteilten.

Louisiana und Oregon sind die einzigen beiden US-Bundesstaaten, die gespaltene Jury-Urteile zulassen. Diese Gesetze gehen zurück auf historische Bemühungen, Minderheiten aus dem Entscheidungsprozess auszuschließen. Aktuell wird dieses Thema in beiden Staaten diskutiert. Ob Stewart ohne diese Regelung zehn Jahre Gefängnis erspart geblieben wären, ist ungewiss. Vor seiner Entlastung hatte das Innocence Project New Orleans bereits zehn Fälle gefunden, in denen eine gespaltene Jury jemanden verurteilte, der später entlastet wurde. Stewart wurde 2015 zum 11. dieser Ex-Häftlinge.

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