Der Autor sitzt auf einer Couch und guckt ernst, er erzählt über seine Erfahrungen mit Psychotherapie
Foto: Yasmin Nickel

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Menschen

Sechs Lektionen, die ich in zwei Jahren Psychotherapie gelernt habe

Am Anfang habe ich meinen Psychotherapeuten nur angeschwiegen, am Ende hätte ich ihn am liebsten nie wieder verlassen. Danke für alles, Herr Kaiser.

Einatmen. Ausatmen. Ich stehe bei meinem Therapeuten vor der Tür. Das war das letzte Mal. In zweieinhalb Jahren habe ich 305 Stunden in psychoanalytischer Behandlung verbracht. Dreimal die Woche lag ich auf der Ledercouch meines Therapeuten, davor ein typischer Freud-Teppich, bunt, mit orientalischen Ornamenten verziert; habe ihm erzählt, wie ich mich fühle und was in mir vorgeht. Zweieinhalb Jahre, in denen ich die dunkelsten Ecken meiner Selbst erkundet habe. Nun ist die Therapie vorbei.

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Ich begann meine Therapie im September 2016. Ich litt an Panikattacken, die ich nach einer Tumordiagnose bekommen hatte. Mal heftiger, mal weniger heftig. Eines Abends, kurz vor einer Operation, musste ich wegen einer Panikattacke ins Krankenhaus eingeliefert werden. Atemnot, erhöhter Herzschlag – ich dachte, ich müsse sterben. War aber nur die Panik. Der Arzt dort empfahl mir eine Psychotherapie. Kurze Zeit später traf ich zum ersten Mal meinen Therapeuten.

Am Anfang fiel es mir schwer. Wie öffnet man sich einem Fremden? Wie lässt man Nähe zu? Mein Therapeut war zurückhaltend, was mich irritierte. In einer Psychoanalyse spricht hauptsächlich der Patient, nicht der Therapeut. Als Patient wusste ich nichts über meinen Therapeuten. Wer ist dieser Mensch? Was denkt er? Was macht er, wenn er nach Hause geht? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Nur der Therapeut hakt nach, will wissen, was man gerade denkt oder fühlt. Wenn der Patient nicht reden mag, herrscht Stille. In meinem Fall gab es davon viele Stunden.

Aber nach zwei Jahren auf seiner Couch nehme ich diese sechs Regeln mit:

Wut, Trauer, Enttäuschungen und Nähe muss man zulassen und dann aushalten

Ich war als Kind nicht besonders glücklich. In meiner Kindheit lernte ich, Gefühle auszuschalten und sie zu unterdrücken: Wut, Trauer, Enttäuschungen. All das verbot ich mir ab einem gewissen Punkt, um zu überleben. Ich dachte, so würde ich Beziehungen nicht gefährden. Zum Beispiel die Beziehung zu meinen Eltern oder heute zu potenziellen Partnern oder meinen Freunden. So schützte ich auch mich selbst vor Enttäuschungen.


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Ich behielt dieses Verhalten auch als Erwachsener bei. Ich konnte im Grunde überhaupt keine Nähe zulassen. Weder zu mir noch zu einer anderen Person. In der Therapie musste ich all das aufarbeiten und lernen, dass mich meine Gefühle nicht umbringen, auch wenn sie manchmal weh tun. Denn die Angst vor den Gefühlen selbst wurde mit den Jahren immer größer – die Angst vor der Angst. Ich lernte, dass Nähe etwas Positives sein kann und nicht gefährlich ist. Und daraus folgte die nächste Lektion:

Beziehungen können stabil sein

Ich hatte immer das Gefühl, dass die meisten Menschen eine Anleitung für Beziehungen bekommen hätten, nur ich nicht. Irgendwie sind meine bisherigen Beziehungen immer gescheitert. Sie waren enttäuschend, für meinen Partner, und für mich. Es schien, als würde ich meine Kindheit jedes Mal aufs Neue zu wiederholen.

Ich stellte Nähe über Oberflächlichkeiten her, und nicht über Unsicherheiten und Gefühle. Zum Beispiel dachte ich: "Oh schau, der wohnt in Charlottenburg. Ich wohne auch in Charlottenburg. It’s a match!" So, dachte ich, funktionieren Beziehungen. Auch wenn ich eine Person gar nicht mochte, ignorierte ich dieses Gefühl und konzentrierte mich auf die Äußerlichkeiten. Ich war abhängig davon, jemanden zu haben. Ob er zu mir passte, war egal.

Rückblickend erkenne ich, dass ich Angst hatte, jemand könnte mich verletzen. In Folge dieser Angst habe ich dicht gemacht. Ich war nicht erreichbar. Der Wunsch nach einer Beziehung wurde damit aber immer größer. Nun weiß ich es besser. Ich habe gelernt, Nähe über Emotionen und Unsicherheiten herzustellen. Und mit der emotionalen Nähe und der Verwundbarkeit kommt auch das, was ich mir immer gewünscht habe: Stabilität.

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Alleinsein ist schwer – gehört aber dazu

Alleinsein ist besser als drittklassige Gesellschaft. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich schlecht mit mir allein sein. Es gibt Teile in mir, meine Einsamkeit zum Beispiel, die ich nicht mag. Meine Diagnose lautete, ich sei co-abhängig. Das bedeutet, dass ich immer jemanden brauche, um mich wertvoll und geliebt zu fühlen. Lily Allen beschreibt Co-Abhängigkeit sehr gut in ihrem Buch My Thoughts Exactly: Co-abhängig zu sein, bedeutet, dass man süchtig danach ist, in einer Beziehung zu sein. Man kann und will um keinen Preis allein sein. Also auch, wenn man mit jemandem zusammen ist, der einem schadet. Egal ob es ein Alkoholiker ist, ein Drogenabhängiger oder eine gewalttätige Person – man wird diese nicht verlassen. Denn je verlorener die andere Person ist, desto mehr fühlt man sich geliebt und gebraucht.

Ich trug jahrelang eine Maske, um Nähe nicht zulassen zu müssen. Durch die Therapie habe ich sie abgenommen. Nun lerne ich, wer ich wirklich bin.

Dieses Problem kenne ich seit meiner Kindheit. Liebe in mir selbst, und damit zu mir selbst, zu finden, fällt mir schwer. Es gibt Zeiten, da kann ich es kaum aushalten, allein zu sein. Wenn ich jemanden date, fällt es mir wiederum leichter mit mir selbst zu sein. Weil ich weiß, dass da jemand ist, der meiner Einsamkeit bald ein Ende setzt. Als würde dieser jemand meinen Wert erhöhen. Das ist aber falsch. Die Einsamkeit geht nicht weg. Ganz im Gegenteil. Oft hat mein Verhalten es nur schlimmer gemacht. Ich hatte Freunde, die ich nicht mochte. Die ein Bild in mir triggerten, von dem ich dachte, dass ich so sein müsste, um geliebt zu werden: Ein oberflächlicher Snob. Das ist aber Bullshit. Und das bin ich nicht. Ich trug jahrelang eine Maske, um Nähe nicht zulassen zu müssen. Durch die Therapie habe ich sie abgenommen. Nun lerne ich, wer ich wirklich bin.

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Niemand kann mich retten. Sich selbst zu lieben ist schwer, aber möglich. Wird alles einfacher mit der Zeit. Und vor allem zur Selbstverständlichkeit, wenn man weiß, wer man ist.

Doch um herauszufinden, wer ich wirklich bin, musste ich noch etwas anderes beherzigen:

Alkohol, Shopping und Partys sollte man größtenteils aufgeben

Ablenkung ist eine meiner liebsten Bewältigungsstrategien. Gerade Schluss gemacht? Her mit den fünf Flaschen Champagner und einer ausgedehnten Tour durchs KaDeWe. Beides gleichzeitig natürlich. Danach in irgendwelchen Berlin-Mitte-Bars abhängen und in Clubs versacken. Das war lange mein Leben. Ich mochte es, mich selbst zu betäuben. So fühlte ich mich gut. Selbiges versuchte ich auch mit meiner Arbeit zu bewirken. Mehr Erfolg, mehr Geld, einfach mehr von allem. Geholfen hat es am Ende nicht. Und so wichtig, wie ich immer annahm, war ich auch nicht. Ich wurde wütend auf meinen Job, weil er mich nicht das geben konnte, was ich eigentlich wollte. Ich dachte, dass mit dem Status auch das Glück kommen würde. Wenn ich mich nur genug anstrengen würde, kämen auch die richtigen Menschen.

Auch dieses Muster, kannte ich aus meiner Kindheit. Auch hier hat mir die Therapie gezeigt, dass dieses Muster nicht funktioniert. Ich musste es loslassen. Neues wagen.

Da ich jemand bin, der zu Suchtverhalten neigt, habe ich den Alkohol vor über einem Jahr komplett aufgegeben. Ich trinke selten Kaffee, kaufe aber noch viel zu oft ein. Essen ist auch ein Problem. Und das war es schon immer. Meine erste Sucht war das Essen. Mein Verhalten schwankt zwischen Extremen: Viel zu viel oder viel zu wenig. Jedoch habe ich mir andere Routinen angewöhnt, die mir gut tun. Ich meditiere und gehe regelmäßig zum Sport. Wieso ich das tue? Um im Gefühl zu bleiben. Um wirklich zu spüren, was ich möchte und wie es mir geht.

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Ich bin liebenswert, so wie ich bin

Ja, ich habe meine Probleme. Aber die machen mich auch zu dem, der ich bin. Sie sagen mir, was ich brauche, was ich will, was mich ausmacht. Meine Angst vor dem Alleinsein zum Beispiel. Diese Angst haben viele Menschen. Letztens habe ich mich bei einem Dinner mit einer neuen Bekanntschaft über Einsamkeit und Essstörungen unterhalten. Das waren unsere ersten Themen. Wir hatten direkt einen Draht zueinander. Viel besser als Smalltalk.

Mein persönlicher Wert ist nicht an Äußerlichkeiten oder andere Menschen geknüpft. Ich bin wertvoll, weil ich existiere. Ich bin. Das reicht.

Ich habe in meiner Therapie gelernt, endlich zu akzeptieren, wer ich bin. Oder besser gesagt: Ich habe damit angefangen. Mein persönlicher Wert ist nicht an Äußerlichkeiten oder andere Menschen geknüpft. Ich bin wertvoll, weil ich existiere. Ich bin. Das reicht.

Zur Selbstakzeptanz gehört eine ordentliche Portion Ehrlichkeit. Ich bin laut meines Therapeuten ein "codependent people-pleaser". Ich versuche es anderen recht zu machen, um nicht verlassen zu werden. Ich habe schlechte aber auch gute Seiten. Ein Problem war vor allem meine Sexualität. Ich bin schwul. Ich schäme mich manchmal noch, das laut auszusprechen. Ich zucke innerlich zusammen. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, wurde als Kind gemobbt und habe wenig bis keine Unterstützung bekommen, damit klarzukommen. Auch heute habe ich noch Angst, dass mich jemand auf Grund meiner Sexualität verurteilt.

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Also hier einmal laut und deutlich: ICH BIN SCHWUL!

Und jetzt? Rausgehen, um zu lernen

Die Therapie ist wie ein kleines Trainingscamp. Mit dem Therapeuten lernt man, sich auf Beziehungen einzulassen, seine Wunden zu zeigen, seine Ängste. Nähe über Unsicherheiten herzustellen. Scham auszuhalten (ICH BIN SCHWUL!). Gefühle zu fühlen. In der letzten Stunde sagte mein Therapeut zu mir: "Achten Sie gut auf Ihre innere Pflanze. Die müssen Sie pflegen und sich gut um sie kümmern, damit sie wachsen kann." Klingt kitschig, er hat aber Recht.

Ich lerne mich und meine Bedürfnisse gerade erst so richtig kennen. Weil ich mich selbst fühle.

Zurück vor der Tür meines Therapeuten. Nach der letzten Stunde. Einatmen. Ausatmen. Wir haben viel gelacht. War schön. Er wird mir fehlen.

Und obwohl ich weiß, dass das hier kein schlimmer Abschied war, sondern ein notwendiger, obwohl ich weiß, dass alles okay sein wird, fällt mir der Abschied schwer. Alte Kindheitstraumata wurden geweckt. Ich bin eine co-abhängige Person. Ich brauche andere Menschen, um mich geliebt zu fühlen. Ich brauche andere Menschen, um mich gebraucht zu fühlen. Die Angst, verlassen zu werden, ist riesengroß. Darum sitze ich Beziehungen, die eigentlich nicht funktionieren, lieber aus, statt den Stecker zu ziehen.

Mittlerweile weiß ich, dass Abschiede zu Beziehungen dazugehören. "Das hier ist ja kein schlechter Abschied. Und genau genommen verlassen Sie mich. Sie brauchen die Therapie nicht mehr. Ich bleibe hier, sie gehen", erklärte mein Therapeut zum Schluss. Ich sei nur noch "normal neurotisch".

Danke für alles, Herr Kaiser.

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