10 Fragen an ein Adoptivkind, die du dich niemals trauen würdest zu stellen
Fotos: zur Verfügung gestellt von Tiago Spagolla

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10 Fragen

10 Fragen an ein Adoptivkind, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

Bist du deiner Mutter böse, weil sie dich weggab? Waren dir deine Adoptiveltern manchmal fremd? Vermisst du was?

Alle Fotos zur Verfügung gestellt von Tiago Spagolla Tiago Spagolla ist 25 Jahre alt und wurde in São Paulo geboren. Als er noch im Säuglingsalter war, adoptierte ein Ehepaar aus Liechtenstein Tiago aus einem Kinderheim. Somit ist Tiagos Fall das, was die meisten von uns mit einer Adoption verbinden, das heute aber immer seltener vorkommt: Wurden in der Schweiz 1980 523 Kinder aus dem Ausland adoptiert, waren es 2015 noch 243, gibt das Bundesamt für Statistik an. Das Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern sorgte dafür, dass Adoptionen heute mit höheren Auflagen und einem grösseren bürokratischen Aufwand verbunden sind.

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Tiago ist Kaufmann bei einer grossen Schweizer Lebensversicherung und spielt in seiner Freizeit bei der Hardcore-Band Taped als Schlagzeuger. Auch Tiagos drei Jahre jüngere Schwester ist aus Brasilien und adoptiert, ist jedoch nicht seine leibliche Schwester. Bislang hat Tiago kaum über seine Adoption gesprochen und viele Leute in seinem Umfeld wissen nichts über seine Vorgeschichte. VICE gegenüber erklärt sich Tiago bereit, bislang ungestellte Fragen zu beantworten.

VICE: Warum hat dich deine Mutter weggegeben?
Tiago: Das weiss ich nicht genau. Schon kurz nach meiner Geburt gab mich meine leibliche Mutter in einem Kinderheim in São Paulo ab. Dort erzählten sie meinen Adoptiveltern, dass meine leibliche Mutter 20 Jahre alt war, als sie mich abgab. Sie hätte kein Geld gehabt, um mich grosszuziehen und soll bereits fünf Kinder gehabt haben, als ich zur Welt kam. Vom Vater weiss ich überhaupt nichts.

Hast du mal versucht, deine Mutter zu finden?
Meine Eltern versuchten noch in Brasilien, meine leibliche Mutter ausfindig zu machen. Da sie aber einen falschen Namen angab, gestaltete sich das Ganze schwierig. Der grösste brasilianische TV-Sender strahlte dann national ein Interview mit meinen Eltern zur besten Newstime aus, doch auch dieser Suchaufruf half nicht weiter. Das Ganze führte aber dazu, dass Adoptionen in Brasilien vermehrt in der Gesellschaft diskutiert wurden, nachdem sich zwei weisse Europäer sozusagen ein Kind abgeholt hatten. Am Flughafen wurden meine Eltern von den Leuten auch erkannt – Anfeindungen gab es aber keine. Mit 18 versuchte ich es selbst über Facebook und Google nochmal, konnte aber nichts herausfinden. Andererseits habe ich auch eine gewisse Ehrfurcht davor, sie zu finden. Sie ist ja eine mir völlig fremde Frau.

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Tiago in jungen Jahren

Bist du deiner leiblichen Mutter böse, dass sie dich weggegeben hat?
Ich bin nicht böse, vielleicht ist eine Note Enttäuschung dabei, weil sie ihre Identität verschleiert hat. Wie bei so vielen Adoptivkinder bleibt einfach eine Frage offen. Ich weiss ja nicht mal wirklich, ob ich wirklich Geschwister habe. Ich denke, sie war einfach überfordert mit ihrer Situation. Ich glaube sogar – vielleicht rede ich mir das aber nur schön – dass es ein Akt der Liebe war. Sie hätte mich auch einfach irgendwo aussetzen können.

Wann hast du realisiert, dass du adoptiert bist?
Das war wohl im Kindergarten. Kinder sind immer direkt und ehrlich – sie fragten mich, warum ich anders aussehe als sie. Das fragte ich dann meine Eltern, die mir ehrlich erklärten, dass mein Vater unfruchtbar ist und sich sich darum entschlossen, ein Kind zu adoptieren. Richtig verstanden habe ich das ja erst später. Probleme hatte ich damit jedoch keine – was bei vielen anderen Adoptivkindern anders sei.

Hast du schon mal deine Adoptiveltern angezweifelt?
Nein, niemals. Ich halte "Adoptiveltern" für ein Unwort, ich habe ja keine anderen Eltern. Als ich in der Pubertät mir selbst mehr Fragen zu meiner Herkunft stellte, reiste ich mit meinen Eltern und weiteren adoptierten Kindern nach Brasilien. Dort besuchten wir all die Kinderheime, aus denen wir stammen.

Meinst du, du würdest deine Mutter erkennen, wenn du sie zufällig auf der Strasse treffen würdest?
Das glaube ich nicht. Ich spreche ja nicht ihre Sprache und habe nicht ihre Kultur und diese Dinge transportieren ja auch Gefühle. Ich kenne aber selbst Leute, bei denen es sofort Klick gemacht hat, als sie ihre leiblichen Eltern getroffen haben.

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Wurdest du oft rassistisch angegangen?
Ja, das ging aber erst im jugendlichen Alter los. Früher gab es hier auch wenig Schwarze, da wurde ich in der Schule öfters sozial ausgegrenzt oder musste mir rassistische Sprüche anhören. Ich denke auch, dass sich das Rassismusproblem heute eher noch verschlimmert hat, jetzt wo rechte Ansichten immer mehr an Popularität gewonnen haben.

Würdest du selbst ein Kind adoptieren?
Nur im äussersten Notfall. Sprich, wenn ich mit meiner Partnerin kein Kind kriegen könnte. Dann würde ich einem Kind die Chance auf ein besseres Leben geben wollen. Ich würde  auch ein Kind aus Brasilien adoptieren, damit es optisch nicht so auffällt. Habe ich eine weisse Freundin und gehe ich mit ihr und meinen Eltern essen, denken die Leute meistens, dass es die Eltern meiner Freundin seien.

Empfindest du deinen Eltern gegenüber Dankbarkeit, dass sie dich aufgenommen haben?
Als ich als Kleinkind hierherkam, verbrachte ich zuerst drei Wochen im Kinderspital. Ich war sehr krank und bin mir sicher, dass ich in Brasilien nicht überlebt hätte. Dort hätte sich wahrscheinlich kaum jemand für mich interessiert. Dafür bin ich meinen Eltern unendlich dankbar. Meine Adoption setze ich gleich mit einem Geschenk. Ich durfte in einem der reichsten Länder der Welt aufwachsen und habe alle Möglichkeiten der Welt bekommen.

Was hältst du davon, wenn Promis mehrfach Kinder adoptieren?
Ich möchte eigentlich nicht über andere urteilen. Wenn sie von ihren Eltern die Liebe bekommen, die ein Kind von seinen leiblichen Eltern auch bekommt, dann sollen sie so viele Kinder adoptieren wie sie möchten. Wenn es aber aus PR oder sonst welchen eigensinnigen Gründen geschieht und die Kinder zu einer Nanny abgeschoben werden, finde ich das sehr verwerflich. Gerade adoptierte Kinder beanspruchen viel Zeit, weil die Verbindung erst aufgebaut werden muss und die Kinder, falls sie schon älter sind, teilweise noch traumatisiert sind.

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