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Sex

Wie mich eine BDSM-Nacht in Zürich mit meinem Körper versöhnt hat

Eine Zürcher Nacht zwischen Bondage, Hypnose und Orgasmic Yoga: Der Erfahrungsbericht von einer, die sonst eher auf Tüll als auf Latex steht.

Ich habe seit zehn Jahren Sex. Wenn man das so liest, könnte man meinen, ich wisse so langsam, wie das funktioniert. Tatsächlich weiss ich, welche Menschen mich anziehen, was ich am liebsten mag, dass mir mein innerer Kontrollfreak manchmal im Weg steht und wie ich komme.

Durch eine Aneinanderreihung schräger Ereignisse, wurde ich letzte Woche an eine sogenannte Play Party eingeladen—einem neunstündigen Happening, das bis in die Morgenstunden dauert. Auf dem Programm standen Lachyoga, Strap-On, Fesselkurse, "36 Questions to Fall in Love", Hypnose-Workshop, BDSM-Einführung, Nackttanzen, Orgasmic Yoga und als Abschluss ein gemeinsamer Ausklang. Es sei erwünscht, dass man sich ausgefallen kleide. Fancy Kleidung, spannende Menschen und ein bisschen esoterische Grenzerfahrung? Klar bin ich dabei! Zwei Tage später stehe ich mit Decke, Yogamatte, Spielzeug und einem Glitzerkleidchen ausgerüstet am Eingang der Location.

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Foto von der Autorin

Schon von weitem höre ich die Lachyoga-Gruppe. Ich komme rein und sehe ein Dutzend Leute in einem Kreis, die sich gruppendynamikbedingt anbrüllen und sich auskitzeln. Wie kleine Kinder. Irgendwie schön.

Ich setze mich aufs Sofa und beginne, mir die Szenerie anzuschauen. So richtig werde ich mit dem Ganzen nicht warm. Die Leute sind um die Mitte 30, manche in Lackkleidung, andere in Netzwäsche, einige elegant, die meisten bald entkleidet. Für meinen Geschmack definitiv zu wenig Tüll und Pailletten, dafür zu viel Lack und Leder. Ich entscheide mich für eine Rückenmassage, die ein sympathischer Mann im Sommerkleid anbietet, und gehe kurz in mich.

Will ich das wirklich? Will ich in diesem Moment hier sein? Es ist ein lauer Sommerabend; ich könnte Freunde treffen und die Nacht durchfeiern. Da kommt ein Typ auf mich zu und wir machen Smalltalk, als wären wir in einer normalen Bar. Er sagt, ich schaue etwas verloren aus. No shit, Sherlock. Mein verlorener Zustand hat viel mit der Tatsache zu tun, dass die Bar geschlossen ist. Ich sage ihm, dass ich den Abend unmöglich ohne Drinks überleben würde. Ihm geht es ähnlich. Nur leider ist es nach 22:00 Uhr—wer die Räume verlässt, kommt nicht wieder rein. Irgendwie schafft er es dann doch, Alkohol aufzutreiben. Held.

Wir entscheiden uns, das Experiment "36 Questions to Fall in Love" zu machen und gesellen uns zu der entsprechenden Gruppe. Mit besagten 36 Fragen an sein Gegenüber solle man sich so gut kennenlernen, dass man sich automatisch miteinander verbunden fühlt. So das Versprechen. Die Runde macht ziemlich viel Spass, mein Gegenüber sieht ziemlich gut aus, wir knutschen ziemlich schnell herum. Schräg ist das trotzdem: Als wir über harmlose Dinge wie die Beziehung zu unseren Müttern reden sollen, hören wir schon die ersten Schreie von gefesselten Leuten. Neben uns lässt sich einer einen Dildo in den Hintern schieben.

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Als die 36 Fragen vorbei sind, ist keiner verliebt. Aber interessiert. Wir setzen uns auf ein Sofa zu einer Frau Mitte 40. Sie ist unglaublich charismatisch. Sie erzählt von schrägen Sexschuppen und reisst Witze darüber, dass ein paar ältere TeilnehmerInnen nicht schaden würden—sie hätte schon fast das Bedürfnis, uns zu sagen, dass wir uns nicht so leicht anziehen sollen.

Der Alkohol in mir erfüllt langsam seinen Job. Vor uns lässt sich eine Frau von einem Typen fesseln und auspeitschen. Ich bin völlig gebannt und fühle mich wie ein kleines Kind im Zirkus. Ihr Gesicht ist verzerrt vor Schmerz und Lust. Oft ist sie den Tränen nahe. Und doch fällt das erlösende Codewort nie. Zu erleben, wie ein fremder, nackter Mensch vor meinen Füssen gerade seine körperlichen und seelischen Grenzen auslotet, ist irre. Manchmal habe ich das instinktive Bedürfnis, sie zu befreien und zu trösten. Und merke meine eigene Befangenheit. Als der Akt vorbei ist, sieht sie wunderschön aus. So frei.

Foto von John Clark | Flickr | open source

Ich hocke daneben und fühle mich wie ein Spiesser. Heute wäre die perfekte Gelegenheit, um tausend Dinge, an die ich bisher noch nicht einmal gedacht habe, auszuprobieren. Aber irgendwas fehlt. Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits bin ich stolz auf mich, dass ich mich nicht selber unter Druck setze und zu etwas dränge, andererseits habe ich doch das Gefühl, dass jetzt der richtige Moment ist, etwas zu wagen. Also rede ich mit den beiden anderen darüber. Sie lachen nur und sagen, dass ich wohl nicht hier wäre, wenn ich ein Spiesser wäre.

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"Alles geht" kann einen wirklich etwas überfordern. Gerade, wenn es wirklich "alles" ist. Ich schaue zur Organisatorin des Abends und merke, wie gut aufgehoben ich bin. Also sage ich dem Typen neben mir, der bereits ziemlich scharf auf mich ist, dass ich das mit dem Flogger ausprobieren will. Irgendwo in einer ruhigen Ecke.

Die ersten Schläge kitzeln eher. Ich bin immer noch viel zu nüchtern. Irgendwann denke ich "Was soll's?" und lasse ihn meinen Rücken auspeitschen. Wir sind beide scharf aufeinander, also kommt Penetration dazu. Er schlägt dabei weiter zu. Der totale Mindfuck. Die Nervosität vor dem Schlag, die Schmerzen während dem Schlag, die Erleichterung danach. Ich schreie, wie ich noch nie geschrien habe. Schmerz und Sex liegen ziemlich nah beieinander. Hier in einer extremen Form.

Mein ganzer Körper brennt—innerlich wie äusserlich. Irgendwann ist meine Haut voller roter Striemen und ich habe genug. Später merke ich, dass die Menschen aus der BDSM-Szene die Grenzen anderer viel eher akzeptieren als die Männer, mit denen ich sonst schlafe. Zudem ist das gegenseitige Vertrauen hier zentral. Womöglich, weil diese Art von Begegnung im Gegensatz zu 0815-Sex emotional noch einige Stufen tiefer geht.

Wir ziehen gemeinsam weiter. Ich und mein Partner-In-Crime für den Abend. Im Orgasmic Yoga liegen wir nebeneinander. Das Bild ist surreal: Ein Dutzend fremde Menschen liegen mitten in der Nacht in einer Kunstgalerie nebeneinander, meditieren, verbiegen sich, berühren sich. Es ist dunkel aber er und ich sehen uns in die Augen, während wir masturbieren. Ab und zu halte ich seine Hand. Von den anderen Räumen hören wir Schreie. Draussen sehe ich den Sternenhimmel. Ich höre den Atem und das Stöhnen der anderen. Ein Raum voller Freiheit, Verletzlichkeit und Selbstliebe. Und ich nackt mittendrin.

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Es ist 04:00 Uhr und wir versammeln uns zum gemeinsamen Ausklang auf dem grossen Teppich, den Sitzsäcken und den Sofas. Um uns herum passieren alle möglichen Formen von Liebe. Im Hintergrund läuft "Nothing's Gonna Hurt You Baby" von Cigarettes After Sex. Ich bin todmüde und schlafe in der Mitte des Raumes ein. Mein Partner nimmt mich in den Arm.


Freiheit wird auch bei den Juggalettes gross geschrieben:


Als Jugendliche dachte ich, ich wisse alles. Heute weiss ich, dass es noch so viele Aspekte zu entdecken gibt. Irgendwann kam mir Lana Del Reys "Ride" in den Sinn: "Who are you? Are you in touch with all of your darkest fantasies? Have you created a life for yourself where you can experience them? I have. I am fucking crazy. But I am free." Heute verstehe ich ihre Zeilen.

In der Morgendämmerung verabschieden sich der Fremde und ich voneinander. Ich kann kaum mehr stehen, wir tauschen Nummern aus, die Vögel zwitschern, mein Taxi kommt. Wenig später erhalte ich seine erste Nachricht. Er wäre nicht so lange geblieben, wenn ich nicht gewesen wäre. Zuhause falle ich ins Bett und schlafe fünf Stunden wie im Koma.

Am nächsten Tag wache ich wie erleuchtet auf. Ich habe auf dem Bauch geschlafen; mein Rücken hat blaue Flecken. Ich habe an einem Abend so viel über mich, meine Grenzen, meine Ängste, meine Zwänge und meinen Körper gelernt wie in zehn Jahren Sex. Ich habe gelernt, dass ich nicht an meiner Bikinifigur, sondern an meinem Körper-Image arbeiten muss. Ich war nackt in einem Raum fremder Menschen und es war OK. Mein Körper war in dieser Nacht nicht perfekt. Aber scheisse, ich sah aus wie eine griechische Göttin.

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Titelbild von Wikimedia | JIP | CC SA 3.0