Ein Wiener Wirtschaftsprofessor hat uns CETA erklärt
Grafik: Ben Havlicek | VICE Media

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Ein Wiener Wirtschaftsprofessor hat uns CETA erklärt

Nur 13 Prozent der Österreicher fühlen sich "ausreichend" über CETA informiert.

OK, ich geb's zu. Obwohl ich laut meinem Browser-Verlauf rund 40 Texte zum Thema gelesen habe und das Abkommen auf jedem realen und virtuellen Stammtisch diskutiert wurde, habe ich keine Ahnung von CETA.

Ich weiß schon, welcher Politiker wann wofür war und wie die meisten öffentlichen Organisationen, NGOs und Medien zu CETA stehen. Ich weiß auch, dass zwei kleine Länder – Österreich und Belgien – das Abkommen beinahe verhindert hätten. Kurz: Ich kenne die politische Bewertung des Abkommens gut. Aber über die Sache und seine wirtschaftspolitische Bedeutung weiß ich fast nichts.

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Und damit dürfte ich nicht allein sein. Laut einer Umfrage der Industriellenvereinigung fühlt sich nur ein Prozent der 1.000 Befragten "sehr gut" informiert. 12 Prozent glauben, "ausreichend" über CETA Bescheid zu wissen. Das ist eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis, wenn man daran denkt, dass in Österreich eine Volksabstimmung über CETA im Raum stand (oder vielleicht noch immer steht).

Das Informationsdefizit hat bestimmt mehrere Gründe. Einer ist sicher, dass die Sache kompliziert ist. Der CETA-Vertrag besteht aus 1.600 nicht einfach zu lesenden Seiten. Zudem gibt EU-Kommissionspräsident Juncker zu, Fehler in der Kommunikation gemacht zu haben. Und ganz allgemein muss man sagen: Sachpolitik ist medial schwerer zu vermitteln als Macht- und Strategiepolitik.

Soll heißen: Eine Betrachtung der Slim-Fit-Anzüge von Kern und Kurz liest sich wahrscheinlich besser als eine Analyse der vorgeschlagenen Maschinensteuer. Von Kollegen habe ich auch schon gehört, dass bei den Themen Wirtschaftspolitik und EU die Leser wie Fainting Goats wegschlafen.

Wir wollen es trotzdem versuchen. Weil das Thema wichtig ist und wir weder uns noch euch bevormunden und verschonen wollen. Deshalb haben wir Harald Oberhofer, WU-Professor und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, gebeten, uns CETA zu erklären. Und zwar so, dass es auch Nicht-Wirtschaftsstudierende verstehen.

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VICE: Was ist CETA?
Harald Oberhofer: CETA ist ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada. Ziel von Freihandel ist es, gegenseitig Handelshemmnisse abzubauen. Man unterscheidet zwischen tarifären und nichttarifären Beschränkungen. Mit tarifären Handelshemmnissen sind Zölle, Verbrauchersteuern – etwa auf Tabak – sowie Mindestpreise für bestimmte Produkte gemeint. Nichttarifäre Schutzmaßnahmen hemmen den Handel nicht bewusst, sondern indirekt – zum Beispiel als Folge von strengen Umweltvorschriften.

Warum ist CETA so umstritten?
Wohl auch, weil es über die Maßnahmen eines reinen Freihandelsabkommen hinausgeht. Grund dafür sind die Zuständigkeiten innerhalb der EU. Bis 2009 haben die Mitgliedsstaaten selbstständig bilaterale Investitionsschutzabkommen ausgehandelt. Unter anderem haben acht Mitgliedsstaaten ein Schutzabkommen mit Kanada abgeschlossen. Da seit dem Vertrag von Lissabon die EU für diesen Bereich zuständig ist, verhandelt die EU den Investitionsschutz gleich mit, um diese Regelung schrittweise innerhalb der Union anzupassen.

Was ist Investitionsschutz?
Wenn ein österreichisches Unternehmen in Kanada investiert, kann es passieren, dass das Eigentum der Firma von Kanada enteignet wird, um zum Beispiel eine neue Zugstrecke zu bauen. Investitionsschutz soll sicherstellen, dass in so einem Fall ein europäisches Unternehmen nicht schlechter behandelt wird wie ein kanadisches.

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Foto: Christoph Schattleitner | VICE Media

Warum braucht es Schiedsgerichte?
Wenn es zu einer Enteignung kommt, soll sich das geschädigte Unternehmen an eine übergeordnete Stelle wenden können. Bei nationalen Gerichte wird nämlich befürchtet, dass diese eher zu "ihrem" Staat als zum "fremden" Unternehmen halten. Die Schiedsgerichte sind ein Signal an Unternehmer, dass ihre Investitionen langfristig sicher sind.

Warum werden die Schiedsgerichte so skeptisch gesehen?
Weil in der Vergangenheit die Streitparteien letztlich selbst die Richter bestimmen konnten. In der öffentlichen Wahrnehmung wirkte es dann oft so, als ob der gewinnen würde, der mehr Geld hatte. Das wurde nun bei CETA – wohl dank des öffentlichen Drucks – geändert. Mit CETA soll es ein ständiges, überstaatliches Gericht aus 15 Personen geben. Sowohl Kanada als auch die EU nominieren je 5 Richter, 5 Personen werden gemeinsam ausgesucht. Und es gibt erstmals eine Berufungsmöglichkeit für die Streitparteien.

Warum schließen sowohl EU als auch Mitgliedsstaaten Handelsabkommen ab?
Die Kompetenzverteilung ist nach wie vor sehr umstritten. Handelsabkommen auf EU-Ebene machen Sinn, weil Zölle für die ganze EU oder gar nicht abgeschafft werden sollten. Sonst kommt es zu einer EU-internen Handelsumlenkung. Die Staaten haben aber gleichzeitig Interesse, einen Wettbewerb innerhalb der EU zu führen. Das ist etwa beim Ansiedeln von Konzernen mit steuerlichen Anreizen der Fall. Dieses "Race to the bottom" kann aber dazu führen, dass riesige Unternehmen wie Apple oder Starbucks kaum oder gar keine Steuern mehr zahlen.

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Warum hat das Abkommen 1.600 Seiten?
CETA wird seit 7 Jahren verhandelt. Die Dauer lässt darauf schließen, dass das nicht von Anfang an harmonisch abgelaufen ist. Ich glaube, die Verhandler wollten einen Vertrag verfassen, der keine Interpretationsspielräume offen lässt. Und wenn man diesen Anspruch hat, dann wird das sehr detailliert.

"Durch Freihandel wird Wohlstand größer. Aber es gibt auch Verlierer. Die Politik ist gefordert, die Gewinne so umzuverteilen, dass die Verlierer kompensiert werden."

Ist die Sorge, dass regionale Produkte verdrängt werden könnten, berechtigt?
Natürlich ist ein Ziel eines Freihandelsabkommens, die Auswahl zu erhöhen. Das bedeutet nicht nur mehr Auswahl für den Konsumenten, sondern auch mehr Wettbewerb, der Preiseffekte hat. Ob es wirklich zu einer Verdrängung kommt, entscheiden die Konsumenten.

Kann es passieren, dass ganze Branchen verdrängt werden?
Wenn wir extremen Freihandel hätten – was kein Ökonom fordert –, wären einige Branchen, wie die Vorarlberger Textilindustrie oder allgemein die Landwirtschaft, in Gefahr. Deshalb ist bei europäischen Handelsabkommen meist der Agrarsektor ausgenommen. Die Politik will damit Güter der Grundversorgung vor einem Preiskampf mit Entwicklungsländern schützen. Zusätzlich fördert die EU mit ihrem zweitgrößten Budgetposten die Landwirtschaft.

Gilt alles, was in CETA steht, für beide Länder?
Das meiste, ja. Asymmetrisch sind nur die Ansichten der Länder, welche Produkte vom Freihandel ausgenommen sein sollen. Und der Schutz geographischer Angaben – Tiroler Speck und Steirisches Kürbiskernöl – war den Europäern wichtiger als den Kanadiern.

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Warum muss man "Standards" in Sachen Umwelt und Gesundheit anpassen?
Wenn ein Unternehmen ein Produkt in Österreich und Kanada verkaufen will, muss die Firma das Produkt zwei Mal zulassen. Diese umfangreichen Tests erzeugen Kosten, die vor allem für Klein- und Mittelständische Unternehmen (KMUs) problematisch sind. Vielleicht hält einige das ab, in einen fremden Markt zu gehen.

Wie passt man Standards an?
Das ist eine ziemliche Herausforderungen. Auf Zustimmung stößt etwa der Vorschlag, immer den höheren Standard heranzuziehen. Aber welcher Standard erfüllt das Schutzziel mehr? Das ist oft nicht leicht zu sagen. Deshalb ist dieses Thema bei CETA bisher weitgehend ausgespart: Ein österreichisches Unternehmen muss die kanadischen Standards einhalten – und umgekehrt. CETA macht allerdings die Zulassung einfacher. Ein Unternemen muss nicht in beiden Ländern eine Zulassung beantragen, sondern nur in einem, das dann für beide Länder die Standards prüft.

"Die Preise auf gehandelte Güter sollten nicht steigen. Sonst haben wir ordentlich etwas falsch gemacht."

Was spricht volkswirtschaftlich gegen CETA?
Allgemein wird durch Freihandel der Kuchen an Wohlstand größer. Aber es gibt dabei auch Verlierer. Wenn man gar keine Verlierer haben will, dann wäre das ein Argument gegen CETA. Der Ökonom wird aber sagen, dass im Normalfall die Gewinne die Verluste überwiegen. Die Politik ist gefordert, die Gewinne so umzuverteilen, dass die Verlierer kompensiert werden.

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Die meisten Österreicher lehnen CETA und TTIP ab. Was würde eine Ablehnung bedeuten?
Freihandel bedeutet teilweises Abtreten von wirtschaftlicher Souveränität. Aber die Alternative wäre ein massiver Wohlstandsverlust: Österreich hat nur acht Millionen Einwohner und eine Exportquote von 60 Prozent.

Profitieren eher Konzerne von CETA?
Das ist sehr schwer zu sagen. Die Branchen, in denen Österreich am Weltmarkt stark ist, sind jene, in denen Unternehmen tendenziell größer sind. Die Frage ist, wie viele Handelshemmnisse mit CETA abgebaut werden und wie viele KMUs dies als Chance begreifen, den kanadischen Markt zu erobern.

Wird Österreich mit CETA von Kanada abhängig?
Selbst wenn wir mit CETA unsere Exporte nach Kanada verdoppeln würden, wären es immer noch nicht mehr als 1,2 Prozent unserer Exporte. Österreich ist derzeit eher von der Wirtschaftssituation in Europa abhängig. Zwei Drittel unserer Exporte gehen in die EU.

Ist CETA ein Wegweiser für die Zukunft?
Ökonomisch gesehen ist es derzeit nicht wahnsinnig wichtig. Auch eine Abhängigkeit betrifft uns, 500 Millionen Europäer, nicht. Die 36 Millionen Kanadier schon eher. CETA ist aber wohl deshalb medial so präsent, weil es eine maßgebliche Rolle für das wichtigere Abkommen mit den USA spielen wird. Da geht es dann um andere Größen, nämlich um zwei gleich große Handelspartner und die zwei größten Wirtschaftsräume der Welt. Ich glaube, der Widerstand bei CETA ist so groß, damit die Kritiker bei TTIP sagen können: "Es muss mindestens so gut wie CETA sein."

Wann kommt CETA?
Das Europäische Parlament wird CETA wahrscheinlich Anfang Februar zustimmen. Damit würde der Großteil von CETA, die Zollreduktion, bereits 2017 in Kraft treten. Für die anderen Regelungen, die nach Ansicht der EU-Kommission und des deutschen Bundesverfassungsgerichts die Zustimmung der 28 Mitgliedsstaaten benötigen, gilt das nicht. Es kann also sein, dass Dinge wie der Investitionsschutz und die Schiedsgerichte, auch die nächsten 10 Jahre nicht kommen.

Warum müssen sowohl EU-Institutionen als auch die Mitgliedsstaaten CETA unterzeichnen?
Einige Regelungen müssen von nationalen Organen entschieden werden. Mit CETA soll etwa ein kanadischer Architekt auch in Österreich anerkannt werden. Da die Ausbildung zum Architekten innerhalb der EU unterschiedlich geregelt ist, muss jedes Land eigene Bestimmungen treffen. Und das kann lange dauern oder gar nicht kommen.

Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hat CETA?
Österreich importiert relativ viele Maschinen aus Kanada. Wenn man darauf keine Zölle mehr zahlen muss und dieser Vorteil preislich weitergegeben wird, werden Investitionen für österreichische Unternehmen günstiger und dadurch vielleicht mehr. Konsumenten merken anfangs wahrscheinlich nicht viel – von dem einen oder anderen neuen Produkt im Supermarkt mal abgesehen. Und die Preise auf gehandelte Güter sollten nicht steigen. Sonst haben wir ordentlich etwas falsch gemacht.

Christoph auf Twitter: @Schattleitner