Bilder vom Berliner Straßenstrich

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Sex

Bilder vom Berliner Straßenstrich

Die Fotografin Kathrin Tschirner hat die Sexarbeiterinnen der deutschen Hauptstadt begleitet und deren Alltag dabei in packenden Bildern eingefangen.

Ich lernte Sabine kennen, als sie auf den Treppenstufen neben meiner Haustür saß. Ich musste damals meinen ganzen Mut zusammennehmen, um sie zu fragen, ob ich sie fotografieren dürfe. Bis zu diesem Abend hätte ich niemals daran gedacht, Prostitution zu dokumentieren. Wenn man in der Gegend rund um die Berliner Kurfürstenstraße wohnt, hat man selten direkten Blickkontakt mit den SexarbeiterInnen. Es gibt keine Vermischung; es ist fast so wie Öl und Wasser. Meine Begegnung mit Sabine riss jedoch jegliche Mauern zwischen mir und diesem Beruf ein. Dabei wollte ich von Anfang an kein Porträt von Prostitution fotografieren, sondern den ganz eigenen Charakter der Gegend aufzeigen.

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Durch mein erwachtes Interesse an den Lebensumständen von Sabine landete ich schließlich bei Olga, einer gemütlichen Beratungsstelle direkt auf der Kurfürstenstraße, die schon fast wie ein Wohnzimmer anmutet. Dieser Frauentreff bietet alle möglichen Arten der Alltagsunterstützung an—von frischen Betten über Duschen und Waschgelegenheiten bis hin zu sauberem Spritzbesteck und Beratung. Zudem sind bei Olga keine Männer erlaubt, damit die Sexarbeiterinnen sich vom Stress ihrer Arbeit erholen können.

Neben den Herausforderungen, die die tägliche Arbeit auf der Straße sowieso schon mit sich bringt, haben die Frauen zusätzlich noch mit vielen weiteren Problemen wie Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit (oftmals sogar von mehreren Substanzen), Spielsucht, fehlenden Sozialleistungen und der Pflicht, eine ganze Familie zu ernähren, zu kämpfen. Die meisten der Sexarbeiterinnen kommen aus Ungarn, Bulgarien und Deutschland, manche von ihnen haben einen Roma-Hintergrund. Trans*Frauen dürfen sich trotz ihres biologischen männlichen Geschlechts bei Olga aufhalten, müssen jedoch Frauenkleidung tragen.

Die Preise auf der Kurfürstenstraße sind niedrig und die Frauen müssen lange arbeiten, um täglich das nötige Geld zu verdienen. Früher gab es im Schöneberger Norden noch genügend Orte wie etwa den Gleisdreieck-Park oder verlassene Brachflächen, wo Sexarbeit ungestört stattfinden konnte. Heutzutage werden genau diese Orte in Luxus-Häuserblocks verwandelt, wodurch sich die Stimmung zusehends verändert. Zwar hat die Prostitution hier schon seit 130 Jahren ihren angestammten Platz, inzwischen wird das Gewerbe aber immer weiter marginalisiert. Die gesonderten Arbeitsplätze abseits der Öffentlichkeit sind zu einer Seltenheit geworden und werden extrem oft frequentiert.

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Bordelle sind für die Sexarbeiterinnen eine unbeliebte Alternative, denn dort sind sie nicht wirklich flexibel und die Kosten für die Zimmer können sehr hoch ausfallen—so können Frauen ohne ausreichend Kundschaft schnell in eine Schuldenfalle tappen. Es bleibt ihnen neben dem Auto eigentlich nur die Wahl zwischen den beiden Stundenhotels in der Gegend. Die Frauen erzählten mir, dass eines dieser Hotels extrem dreckig und unhygienisch sei. Mir wurde der Zutritt leider immer wieder verweigert. Bei dem anderen Etablissement handelt es sich um das älteste Stundenhotel Berlins. Dort läuft alles augenscheinlich geregelt ab, aber nicht viele Freier haben Lust, die 15 Euro für das Zimmer draufzulegen.

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Das Olga und ich hatten das Glück, dass wir Mittel für ein PhotoVoice-Projekt bekommen haben und es zusammen mit den Frauen in einem Zeitraum von neun Monaten umsetzen konnten.

Durch die ihnen überlassenen Kameras hatten die SexarbeiterInnen die Möglichkeit, sich auf eine völlig neue Art und Weise auszudrücken und von ihrer eigenen Realität zu berichten. Auszüge aus den Erzählungen der Frauen sind auch im hinteren Teil meines Fotobuches Kurfürstenstraße zu finden. Seit Februar 2014 arbeite ich einmal die Woche ehrenamtlich bei Olga und dieser Zeitpunkt markierte auch den Beginn meiner Dokumentation der Gegend. Durch meine Beteiligung am PhotoVoice-Projekt war es mir möglich, einen tieferen Einblick in den täglichen Kampf und die Realitäten der Sexarbeiterinnen zu bekommen. Durch die Streifzüge mit den Frauen habe ich ganz andere Bezüge im Straßenleben wahrgenommen und konnte ihren Alltag unmittelbarer verstehen.

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Dank dieser Einblicke, die sie mir gewährt haben, bekamen meine Bilder eine völlig neue Ebene. Ich konnte mich frei bewegen und meine Fotos entfernten sich von den harten und lauten Motiven. Ich möchte mit meinen Bildern ein Gefühl erzeugen, das beim Betrachter hängenbleibt, ohne dabei zu explizit zu werden. Die so entstandenen Fotos sollen wie Puzzleteile fungieren, die die Realität zwar nur bruchstückhaft porträtieren, gleichzeitig aber die Atmosphäre der Gegend, die so viele dieser Frauen jeden Tag erleben, wiedergeben.

Das Fotobuch Kurfürstenstraße ist ein zweijähriges Langzeitprojekt und entstand als Abschlussarbeit während meines Masters bei Ute Mahler an der HAW.

Für mehr von Kathrins Arbeiten besucht einfach ihre Website oder gleich ihre eigene Galerie in Berlin.