Massenmörderinnen, Bordellbesitzerinnen und Terroristen

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Fotos

Massenmörderinnen, Bordellbesitzerinnen und Terroristen

Der Fotograf Stefan Ruiz hat sich an den verstreuten Polizeiarchiven von Mexico City bedient und so einen ganzen Haufen an interessanten Bildern zutage gefördert.

Alle Fotos und Zeichnungen sind dem Archiv von Stefan Ruiz entnommen. Die Fotografen und Illustratoren sind dabei nicht bekannt.

Anfang der 90er Jahre ist Stefan Ruiz zum ersten Mal mit der Fotografie in Berührung gekommen. Damals war er als Kunstlehrer im kalifornischen San Quentin-Staatsgefängnis angestellt und fing damit an, Bilder von den Häftlingen zu machen, die seine Kurse besuchten. Das Verbrechen hat dabei schon immer eine gewisse Faszination auf ihn ausgeübt. Als Sohn eines mexikanischen Anwalts ist er ja auch quasi mit Abendessen-Gesprächsthemen aufgewachsen, die sich immer um Verhandlungen und Verhaftungen gedreht haben.

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Es waren jedoch die Charaktere hinter dem Ganzen, die ihn wirklich packten, und durch seine Arbeit als Porträtfotograf hat er inzwischen schon die ganze Welt bereist. Dabei hatte er schon alle möglichen Menschen vor der Linse—von den Patienten einer kubanischen Psychiatrie über die mexikanischen „Cholombiano"-Straßenkinder bis hin zu großen Namen wie Bill Clinton oder James Brown.

Für sein aktuelles Projekt hat Ruiz seine Kamera jedoch beiseite gelegt und stattdessen einen ganzen Stapel an verlorenen Fotos aus den verstreuten Polizeiarchiven von Mexico City zutage gefördert. Seinen Anfang hatte dieses Projekt im Jahr 2010, als der Fotograf auf einem Flohmarkt in Las Lagunillas auf eine staubige Kiste voller Verbrecherfotos stieß.

Später fand er heraus, dass der Besitzer zwischen den 50er und 70er Jahren eine ganze Reihe an Polizeifotos hat schießen lassen—Standbilder von bewaffneten Raubüberfällen, künstlerische Darstellungen von gestohlenen Gegenständen und Porträts der berüchtigsten Verbrecher dieser Zeit. Mit ihrer vergilbten und zerfransten Ästhetik boten diese Fotos dabei einen alternativen Einblick in das Leben und in die Verbrecherwelt Mexikos während des 20. Jahrhunderts. Also machte sich Ruiz daran, das Ganze in ein Buch zu verwandeln.

Die Verbrecherfotos in besagtem Buch zeigen vorrangig Diebe, die von der armen Bevölkerung des Landes verehrt wurden. Daneben sind aber auch berühmte Verbrecher wie etwa der junge Serienkiller Gregorio Cárdenas Hérnandez oder die Bordellbesitzerinnen und Massenmörderinnen Delfina und María de Jesús González abgebildet. Des Weiteren lassen sich darin Aufzeichnungen von politischen Radikalen finden, die als Terroristen eingestuft wurden—ein Beispiel hierfür wäre der Lehrer und bürgerliche Anführer Genaro Vázquez Rojas.

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Zwar wurden die Partisanen und Straßenbanditen des 20. Jahrhunderts inzwischen zum Großteil durch Drogenkartelle und organisierte Gang-Kriminalität ersetzt, aber die fest verwurzelte und gewalttätige Verbrechenskultur, mit der Mexiko von Außenstehenden so oft in Verbindung gebracht wird, ist dort trotzdem noch sehr präsent. So zeigen Statistiken, dass zwischen Januar und Mai über 7.400 vorsätzliche Tötungen verübt wurden, während einige Analytiker schätzen, dass in Mexiko zwischen 2006 und 2015 80.000 Morde stattgefunden haben.

Wir haben uns mit Stefan getroffen, um mit ihm darüber zu reden, was ihn zu seinem neuen Buch motiviert hat und was die Fotos seiner Meinung nach über das heutige Mexiko aussagen.

VICE: Hey Stefan. Erzähl uns doch zuerst mal, wie du an all diese Bilder gekommen bist.
Stefan Ruiz: Ich bin oft auf Flohmärkten unterwegs und kaufe dabei auch gerne Fotos. Ich war mal in einem Gefängnis als Lehrer angestellt und irgendwie habe ich schon immer einen Faible für Bilder von Kriminellen gehabt—besonders für Verbrecherfotos, weil die als Porträts doch immer recht gut sind. Und wenn das Foto geschossen wird, ist die darauf abgebildete Person offensichtlich schon am Arsch. Was ich an diesen Bildern jedoch so interessant gefunden habe, war diese vermeintliche Zufälligkeit. Außerdem waren es einfach so viele. Ich habe den Verkäufer dann gefragt, ob er noch mehr solche Fotos hätte. Als wir uns dann das nächste Mal trafen, hatte er zwei prall gefüllte Tüten dabei.

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Warum hast du dich jetzt dazu entschieden, die Fotos zu veröffentlichen?
Ich zeigte die Bilder einem Freund, der bei einem Verlag arbeitet. Weißt du, das Verbrechen ist in Mexiko omnipräsent und deshalb erschien mir das alles ziemlich relevant. Außerdem wollte ich die Fotos teilen, weil ich sie echt gut finde und verschiedene Ideen und Vorstellungen dazu hören wollte. Wir haben dann einen Professor für lateinamerikanische Geschichte namens Benjamin Smith ausfindig gemacht und mit ihm zusammen verschiedene Fotos untersucht und Verbindungen zu meinen Bildern hergestellt. Ich wusste aber zum Beispiel auch bereits, dass ein Mann, der von der Regierung als Terrorist eingestuft wurde, ein Dozent der University of Mexico und dazu noch ein Experte für die linke Bewegung im Land war. Und dann kamen wir noch auf andere Leute wie etwa den Amerikaner Joel Kaplan, der per Helikopter aus einem mexikanischen Gefängnis floh. So bekam unser Projekt noch mal eine ganz neue Ebene. Dazu erzählen die Fotos noch, wie sich das Verbrechen in Mexiko über die Jahre hinweg verändert hat—deswegen hielten wir es für wichtig, das Ganze zu veröffentlichen.

Was sagen diese Bilder deiner Meinung nach über das heutige Mexiko aus?
Ich glaube, ich wollte mich einfach mit der Vorstellung auseinandersetzen, dass alles anders, aber auch irgendwie gleichgeblieben ist—die Dinge haben sich verändert, gleichzeitig aber auch nicht. Ich meine, heute haben wir in Mexiko den Narco-Terrorismus, der sich vom linksgerichteten Terrorismus der 60er Jahre und von Dingen wie dem IS zwar unterscheidet, die Problemstellung sich aber trotzdem immer noch unglaublich aufdrängt. Der wohl größte Unterschied besteht darin, dass Kriminalität damals noch etwas harmloser war. In den 50er Jahren waren Raubüberfälle das häufigste Verbrechen in Mexiko—deshalb besitze ich auch so viele Verbrecherfotos von Räubern. Heutzutage befindet sich das Ganze durch die vielen Enthauptungen und von Brücken hängenden Leichen allerdings auf einem ganz anderen Level.

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Munchies: Unterwegs in Mexiko mit einem Fernsehkoch

Letztes Jahr sind 43 Studenten verschwunden und nichts ist passiert. Die Regierung sagt einfach, dass alles gut ist und sich die Dinge bessern, aber manchmal hat es den Anschein, als ob Drogenbosse wie Joaquín „El Chapo" Guzmán mehr Macht haben als die Politiker.

Deine Familie stammt aus Mexiko und reist dort auch regelmäßig hin. Zeigen uns die Mainstream-Medien, wie es dort wirklich zugeht?
Gegen die Medien wird auf jeden Fall ziemlich hart durchgegriffen. Jeder weiß, dass die Regierung kritischen Stimmen gegenüber derzeit nicht sehr freundlich eingestellt ist und dass die Partido Revolucionario Institucional schon immer enge Beziehungen zu den etablierten Medienkanälen geführt hat. Gleichzeitig gehen die Kartelle aber auch immer brutaler vor und töten unzählige Journalisten.

Wie ist es, in Mexiko als Fotograf tätig zu sein?
Als ich die Cholombiano-Fotoreihe in Monterrey geschossen habe, ging es schon ziemlich hektisch zu. Es gab dort viel Gewalt und teilweise fühlte ich mich echt unwohl. Eigentlich geht dort niemand hin, der nicht zum Militär gehört. Ein paar Mal drohte, die Stimmung zu kippen, und da packt man einfach nur so ruhig und schnell wie möglich sein Equipment zusammen, verstaut alles im Auto und haut ab.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie mich dort Leute angesprochen haben und meinten: „Ist dir eigentlich klar, wie verrückt es hier zugeht?" Ich meine, Polizisten fahren dort nur maskiert herum, um ihre Gesichter nicht zu zeigen. Ich wurde auch schon ein paar Mal von der Polizei angehalten, weil die Beamten Schmiergelder abgreifen wollten. Vor allem wenn man in einem Mietauto unterwegs ist, erkennen sie das sofort und ziehen einen raus. Wenn meine mexikanischen Freunde von Polizisten angehalten werden, zeigen sie ihren Führerschein inzwischen nur noch durch die hochgekurbelte Fensterscheibe, denn wenn sie ihnen den Lappen so geben, heißt es gleich: „Wenn du deinen Führerschein wiederhaben willst, dann kommst du entweder mit auf die Wache und zahlst eine fette Strafe oder du gibst mir hier jetzt 20 Dollar und die Sache ist erledigt."

Was willst du mit deinen Arbeiten erreichen?
Meine Werke sollen immer zumindest ein bisschen informativ sein und allen Involvierten einen gewissen Respekt zollen. Ich versuche, mit Mexiko auf eine etwas differenzierte Art und Weise umzugehen, und ich äußere mich gerne ein wenig zur politischen Lage, ohne es dabei zu übertreiben.

Vielen Dank, Stefan.

Mexican Crime Photographs / from the archive of Stefan Ruiz ist beim GOST-Verlag erschienen.