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Erinnerungen an die Wienwoche

Wer selbst nicht aus Wien ist, war irgndwann mal auf Wienwoche. Ein Rückblick auf Jugendherbergen, Musicals und Gruppenfotos.
Screenshot via YouTube

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Wenn ich einem Therapeuten meinen schlimmsten Albtraum beschreiben müsste, würde ich wohl ungefähr so beginnen: Ich sitze in der U-Bahn, es ist 8:00 Uhr morgens. Ich wühle tränenüberströmt in meinen Hosentaschen, aber da ist nichts, gar nichts—ich habe meine Kopfhörer zuhause vergessen und möchte demnach am liebsten einfach nur sterben. Außer mir sind nur ein paar wenige, laut und feucht telefonierende Menschen in der U-Bahn, bis plötzlich unüberhörbar eine 24-köpfige Schulklasse aus der Hölle zusteigt und sich mit brüllender Begeisterung auf alle verbliebenen Sitzplätze stürzt, als wäre Sitzen das Geilste auf der Welt. Daran, dass sie nicht die geringste Ahnung davon haben, wie man eine Rolltreppe ordnungsgemäß benutzt, erkennt man schnell: Die sind auf Wienwoche.

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So ziemlich jeder, der in einem österreichischen Bundesland, das nicht Wien ist, ein Gymnasium, eine Hauptschule oder sonst irgendwas nicht volksschuliges besucht hat, war mindestens einmal in seinem Leben auf Wienwoche. Die heißt natürlich nur Wienwoche, weil die Alliteration so schön klingt, in Wahrheit sind es nämlich nur fünf Tage, von denen der fünfte aufgrund der Hin- und Rückfahrt im Grunde genommen nur als halber Tag gewertet werden kann, also sind es insgesamt eigentlich nur viereinhalb, aber immerhin sehr schöne Tage.

Im Laufe der Schulzeit sind Klassenfahrten meist der immanente Klimax des gesamten Schuljahres—egal, ob er sich in Form von Winter- und Sommersportwochen äußert, oder manchmal vielleicht auch einfach nur durch „Orientierungstage", für die die Religionslehrerin sich ganz viele lustige Spiele ausgedacht hat, wie zum Beispiel mit einem großen bunten Tuch herumwedeln und dann darunter durchlaufen. Das größte Kreuz zu tragen haben auf diesen Fahrten dann meist die begleitenden Lehrkräfte, die konstant versuchen, einen unmittelbar bevorstehenden Nervenzusammenbruch wegzulächeln und einfach nur hoffen, dass kein Kind stirbt.

Laut dem Bundesministerium für Bildung und Frauen, das die „Wien-Aktion" organisiert, dient die Woche „der staatsbürgerlichen Erziehung und politischen Bildung der österreichischen Jugend und soll während eines einwöchigen Aufenthaltes die historisch-politische, kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung Wiens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erklären sowie die Zusammengehörigkeit von Bundeshauptstadt und Bundesländern verständlich machen." Oder: Museen, Malibu und Musical.

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Für viele von uns Kindern vom Land stellte die „Woche" in Wien tatsächlich auch den ersten Besuch in unserer Bundeshauptstadt dar. Und während das an sich schon eine ziemlich aufregende Nummer für eine Meute frühpubertärer 14-Jähriger war, war es weniger das erste Mal Wien, sondern vielmehr das erste Mal Starbucks, das erste Mal H&M, das erste Mal die guten Geschäfte, das dieses pseudo-großstädtische Kribbeln in unseren Oberarmen auslösen konnte. Oder eben das erste Mal bei Tageslicht auf offener Straße Rauchen ohne sich dabei anzuscheißen, weil einen eh niemand kannte und die Lehrer ohnehin viel zu beschäftigt damit waren, sich mittags den zweiten Beruhigungsschnaps zu gönnen.

Jugendherbergen

Klasseninterne Reibereien wird es immer geben, aber wenn es darum geht, wer mit wem in einem Zimmer schläft, dann wird plötzlich aufs Ärgste gefetzt. Jahrelange Freundschaften sind schon an Zimmereinteilungen zerbrochen—am Ende plärrt immer irgendjemand am Klo, weil die beste Freundin schon von den lässigeren Mädchen mit den gefärbten Haaren eingeladen wurde und die Gelegenheit auf ein Coolness-Upgrade beim Schopf gepackt hat, während für einen selbst nur noch das Zweierzimmer mit der einen übrig ist, die immer so komisch riecht. Aber unfreiwillige Einteilungen haben letztendlich auch schon zu neuen, ungeahnten Freundschaften geführt, oder vielleicht auch nur zu der Erkenntnis, dass die, die immer so komisch riecht, eigentlich eh ganz nett ist. Gemeinsam eine Jugendherberge zu überleben, schweißt zusammen.

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In jeder Jugendherberge dieses Bundeslandes schleicht immer so ein stechender Geruch durch die Gänge, eine Mischung aus heimwehbedingtem Durchfall und Kinderschweiß, der mit jedem weiteren Tag des Aufenthalts einer Schülergruppe nur noch konzentrierter wird. Das liegt einerseits daran, dass viele Kinder einfach grauslig sind, weil sie noch nicht begriffen haben, dass sie jetzt in der Pubertät sind und anfangen, zu stinken, wenn sie sich nicht oft genug waschen, andererseits aber auch daran, dass Heimscheißer sein ein echtes Ding ist, das man aber nun mal nicht über fünf Tage lang durchziehen kann und irgendwann das Gemeinschaftsklo verstopft.

Trotzdem sind Jugendherbergen ein aufregender Ort. Wenn man von der abgeranzten Bettwäsche absieht, die aus irgendeinem Grund immer diese braunen Flecken drinnen hat, von denen man nie so genau weiß (wissen will), was sie eigentlich sind, und für einen Augenblick lang vergisst, dass man sich nach der Dusche auf dem Gang meistens dreckiger fühlt, als zuvor, dann können Jugendherbergen großen Spaß machen. Am meisten dann, wenn die Burschen sich noch nach der ausgerufenen Nachtruhe zu den Mädchen ins Zimmer schleichen und heimlich Malibu saufen, bis plötzlich der Lehrer oder die Lehrerin ins Zimmer klescht und schimpft, aber in einem sehr zurückhaltendem Ton, weil ja trotzdem noch Nachtruhe ist. Das Schlimme daran war eigentlich nur, eine Lehrkraft in Pyjama oder Nachthemd zu sehen.

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Musicals

Ein „Theater- oder Konzertbesuch" wird in der Wienwoche vom Bundesministerium vorgegeben, da kommt man einfach nicht drum herum. In der Regel bedeutet das einen Abstecher ins Ronacher oder ins Raimund Theater, je nachdem wo gerade ein Musical mit weiblichem Vornamen als Titel gespielt wird. Dass man neben Impfpässen und Medikamenten auch Abendgarderobe mitnehmen sollte, stand schon auf diesem Wisch, den die Mama beim Kofferpacken abarbeiten durfte. Und so legten die Mädels ihre Tattoo-Halsbändchen ab, die Burschen ihre vorgebundenen Krawatten an und alle hatten die Gelegenheit, ihr Firmgewand noch einmal anzuziehen.

In Wahrheit kann man als 14-jähriges Kind aber noch nicht viel mit richtigen Musicals anfangen (kann man das je?) und da machte es dann auch keinen großen Unterschied mehr, ob die Hauptfigur jetzt Rebecca, Elisabeth, Evita oder Gertraud hieß. Im Nachhinein sind viele enttäuscht, dass es nicht so war, wie in High School Musical und die coolen Burschen sehr bemüht, auch wirklich jeden wissen zu lassen, dass sie es ganz, ganz blöd fanden und dass es echt so ein Scheiß war. Aber immerhin spannender, als im Stephansdom gefühlte 1.000 Stufen hochzukrallen.

Gruppenfotos

Gruppenfoto in Schönbrunn, Gruppenfoto vorm Belvedere, Gruppenfoto vor der UNO-City, Gruppenfoto in der Greenbox vom ORF, ganz viele Gruppenfotos, gestresstes Durchzählen der Kinder, Zweierreihen. Diese Stadt ist so laut, so bunt. So viel zu sehen, so viele Fragen. Wo ist Sissi? Wann ist Treffpunkt? Warum haben diese Raudis am Karlsplatz alle so blaue Lippen? Und wohin fahren Schüler aus Wien, wenn sie auf Wienwoche fahren? Müssen die auch ins Musical? Warum hieß die Frau vom Argentinischen Präsidenten Gertraud?

Nach viereinhalb Tagen sind die meisten Schüler insgeheim froh, wieder zur Mama zu dürfen, und die Lehrer erleichtert, dass alle noch leben. In jeder Klasse gab es auch immer ein bis zwei Kinder, die den Begleitpersonen gegenüber zumindest im Ansatz einen vertrauenswürdigen Anschein machten und somit auch mit einem ebenso kleinen Ansatz an Verantwortung beauftragt wurden. Listen abhaken, Tasche von der Lehrerin halten, diese Dinge. Die waren ganz besonders wichtig und voll erwachsen—aber die mussten halt auch immer am Schluss dann die Nachberichte schreiben („Wir, die Schüler der 4C der Hauptschule Bad Oaschloch …"). Gern geschehen.

Franz hat die Wienwoche so gefallen, dass er jetzt dort lebt: @FranzLicht