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Wir haben mit der Frau hinter #facesofprostitution gesprochen

Unter dem Hashtag FacesOfProstitution haben Hunderte Sexarbeiterinnen ihr Gesicht gezeigt und sich öffentlich und stolz zu ihrem Beruf bekannt. Wir haben mit der Initiatorin über Prostitution und Selbstbestimmung unterhalten.

Foto: Tilly Lawless

Letztens hat Tilly Lawless, eine Sexarbeiterin aus Sydney, ein fröhliches Selfie auf Instagram gepostet—versehen mit dem Hashtag #facesofprostitution. Dieser Post war eine direkte Antwort auf einen Artikel der australischen Frauenwebsite Mamamia mit dem Titel „Du glaubst, die Pretty Woman-Darstellung von Prostitution ist harmlos? Falsch gedacht." Der Artikel, der ursprünglich auf einer Anti-Menschenschmuggel-Seite in den USA veröffentlicht wurde, enthielt Bilder von verprügelten, abgemagerten und drogenabhängigen Sexarbeiterinnen.

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Als Lawless am darauffolgenden Tag aufwachte, musste sie feststellen, dass sie unbeabsichtigt einen Aufschrei in den sozialen Netzwerken ausgelöst hatte. Sexarbeiterinnen aus der ganzen Welt teilten unter dem oben genannten Hashtag Fotos von sich selbst (einige outeten sich sogar zum allerersten Mal), um das Klischee zu entkräften, nach dem Sexarbeiterinnen in Wirklichkeit ausnahmslos Opfer sind, die gerettet werden müssen.

Seitdem haben sowohl Lawless als auch der Hashtag gemischte Reaktionen hervorgerufen und viele Menschen gehen davon aus, dass die 21-jährige Geschichtsstudentin eine gewisse Vormachtstellung in der Welt der australischen Sexarbeiterinnen inne hält—was laut ihr eine völlig falsche Annahme ist. Ich habe mich mit Lawless in Verbindung gesetzt, um mit ihr darüber zu reden, wie sie sich nach ihrem Post fühlt und zu welchen Überlegungen diese neue Bewegung anregen soll.

VICE: Bevor wir uns mit dem Drunter und Drüber der vergangenen Woche beschäftigen, würde ich gerne über den Begriff der Selbstbestimmung sprechen. Ich finde es total interessant, wie oft das vorkommt, wenn wir über Sexarbeit reden. Von keinem anderen Beruf wird verlangt, dass es um Selbstbestimmung geht.
Tilly Lawless: Vielleicht hat das für eine andere Frau eine andere Bedeutung—falls ja, dann ist das toll—, aber ich persönlich hasse es, wenn ich ständig danach gefragt werde, ob ich mich selbstbestimmt [empowered] fühle. Es gibt viele andere Leute, die in ihrem Beruf vielleicht nicht so viel Macht haben, zum Beispiel Bankangestellte oder Schuhverkäufer. Aus irgendeinem Grund werden jedoch immer wieder wir Sexarbeiterinnen zu diesem Thema befragt. Ist das irgendwie eine Grundvoraussetzung? Warum muss ich erst einen Vortrag darüber halten, dass ich eine ermächtigte Frau bin, bevor irgendjemand mich oder meine Arbeit ernst nimmt?

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Inadvertently began — Tilly lawless (@tilly_lawless)29. März 2015

Und du musst das ja schließlich nicht sein, um dich in deinem Job sicher oder zufrieden zu fühlen.
Genau. Das ist einfach nur ein Schlagwort, das halt die ganze Zeit verwendet wird. Man will einfach nur, dass du sagst, du fühlst dich nicht so und du hasst deinen Job. Denn dann kann man ja wiederum behaupten, dass man es ja schon immer gewusst hat und dass es nicht möglich ist, den Job als Sexarbeiterin zu mögen. Ich habe einfach keine Ahnung, warum diese Frage so wichtig ist.

Ich habe zwar noch nie in der Sexindustrie gearbeitet, aber immer wenn über die Gefahren und die Risiken dieser Branche geredet wird, denke ich mir, dass diese Probleme nichts mit der Sexarbeit an sich zu tun haben, sondern mit der Art und Weise, wie Frauen allgemein und am Arbeitsplatz behandelt werden.
Oh mein Gott. Ich habe sie zwar nicht direkt getroffen, aber einmal ist eine Frau in eines der Etablissements gekommen, wo ich arbeite, und hat dort alle Mädels gefragt, ob sie schon mal sexuell missbraucht wurden. Danach hat sie ein Buch veröffentlicht, in dem es darum geht, dass alle Sexarbeiterinnen schon einmal sexuell missbraucht wurden. Das hat mich richtig wütend gemacht, denn man könnte genauso gut eine Gruppe Anwältinnen, Studentinnen oder eigentlich jede Frau fragen und es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass eine der Befragten schon einmal sexuell missbraucht oder belästigt wurde.

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Die Sache bei Sexarbeiterinnen ist die, dass wir aufgrund der sich verändernden Legalität der Sexarbeit und dem allgemein schlechten Ruf der ganzen Sache weniger Chancen bei rechtlichen Schritten haben, wenn uns mal so etwas passieren sollte. Im Bezug auf sexuellen Missbrauch ist das jedoch die harte Realität für alle Frauen und nicht nur für uns Sexarbeiterinnen.

Du musst aber auch zugeben, dass du schon angreifbarer bist als zum Beispiel eine Frau, die in einem Café arbeitet—denn du arbeitest an abgeschiedenen Orten und kannst einen Missbrauch auch nicht so einfach zur Anzeige bringen. Wie kann man über diese „Verwundbarkeit" reden, ohne gleich die ganze Industrie zu verteufeln und anzudeuten, dass alle Sexarbeiterinnen eigentlich Opfer sind?
Das ist eigentlich ganz einfach: Man muss die Sexarbeiterinnen einfach nur für sich selbst reden lassen. Meiner Meinung nach ist es genau das, worauf es ankommt. Sexarbeiterinnen werden nur dann vermenschlicht und als reale Personen gesehen, wenn man sie als Individuen wahrnimmt.

Das ist doch eine gute Überleitung zu #facesofprostitution. Vielen Menschen war ja gar nicht bewusst, dass der Artikel, für den Mamamia viel Kritik einstecken musste, eigentlich zuerst von einer Anti-Menschenschmuggel-Organisation veröffentlicht wurde. Verändert der Kontext die Botschaft?
Ich hätte den Artikel wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen, wenn er nur auf dieser einen Seite veröffentlicht worden wäre. Ich habe ihn erst gelesen, als er auf der Website von Mamamia erschien. Genau das hat mich jedoch wütend gemacht, denn Mamamia gibt sich eigentlich immer als progressive Feministinnen-Website und sie haben der breiten Öffentlichkeit diese Ansicht als Feminismus verkauft.

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Wenn man den Artikel nur auf exoduscry.com gefunden hätte, dann wäre das alles nur im Kontext einer religiösen Website mit moralischen Motiven besprochen worden. Die erneute Veröffentlichung gab dem Ganzen jedoch eine gewisse Legitimierung und das finde ich richtig frustrierend.

I live on a farm, have purple hair, wear cat t-shirts, have 5 cats lol don't judge me!! — Holly In Griffith (@HollyInAlbury)9. April 2015

Ein Argument wird ja immer und immer wieder gebracht: Zwar haben viele Frauen wie du volle Kontrolle über ihre Arbeit, aber bei vielen Frauen ist eben auch das genaue Gegenteil der Fall. Der Artikel hat diesen Punkt zwar auf eine ziemlich geschmacklose Art und Weise dargelegt, aber er trifft ja trotzdem zu.
In den Antworten der Anti-Menschenschmuggel-Organisationen heißt es oft: Frauen werden zu dem Ganzen gezwungen und missbraucht. Und das trifft auch zu 100 Prozent zu. Das will ich gar nicht verneinen und auch genauso wenig von der Tatsache ablenken, dass manche Frauen in diese Industrie verschleppt werden. Es wird jedoch keinen Nachteil für diese Frauen haben, wenn man Sexarbeiterinnen gewisse Rechte zugesteht—egal ob sie nun stolz auf ihren Job sind oder nicht.

Solche Rechte würden Verschleppungsopfern hoffentlich eher helfen, denn so würden vielleicht mehr Augen auf die Sexindustrie gerichtet werden und in diesem Zug auch bessere Auswege für Leute geschaffen werden, die von Anfang an nicht in dieser Branche sein wollten.

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Wie würde das Ganze denn Auswege schaffen?
Auf diesem Weg würde sich hoffentlich das schlechte Bild ändern, das die Gesellschaft von dieser Industrie hat. Die Sexarbeiterinnen hätten dann auch mehr Leute, an die sie sich wenden könnten, und sie müssten sich nicht mehr so schämen. Wenn das Ganze mehr im Fokus der Öffentlichkeit stehen würde, wäre die Polizei sicherlich auch bemühter und würde die Anzeigen ernster nehmen. Ich kenne Mädels, die nach Übergriffen zur Polizei gegangen sind und dort wurde ihnen dann im Grunde gesagt, dass man nichts tun werde.

Ich kann jedoch nicht wirklich viel zum Menschenschmuggel sagen, weil ich mich bei diesem Thema nicht wirklich gut auskenne und vor allem über den Menschenschmuggel in Europa berichtet wird. Meine Erfahrungen beschränken sich auf Sydney. Ich habe jetzt nicht mein ganzes Leben damit zugebracht, die Strukturen des Menschenhandels zu studieren.

Das ist schon ein ziemlich zweischneidiges Schwert—zu sagen, dass ein gewisser Teil der Sexarbeit OK ist, ein anderer jedoch nicht.
Meiner Meinung nach ist es niemals OK zu sagen, dass eine Sache in Ordnung ist und eine andere nicht. Ich finde nicht, dass ich in irgendeiner Weise dazu befugt bin, eine Grenze zu ziehen. Ich habe mit meinem Kommentar gemeint, dass die Anti-Menschenschmuggel-Rhetorik oft dazu genutzt wird, um Arbeitsmigranten zu benachteiligen, die wirklich arbeiten wollen. Das Ganze ist viel komplexer, als es allgemein dargestellt wird.

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Warum ist #facesofprostitution deiner Meinung nach so durch die Decke gegangen?
Ich glaube, dass die sozialen Medien die ganze Sache in eine Richtung gelenkt haben, die so vor zehn Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Dazu ist es einfach ein simpler, aber dennoch effektiver Hashtag: Jede Sexarbeiterin kann sich mit #facesofprostitution identifizieren und die Sache so interpretieren, wie sie es für richtig hält.

Ist es für Sexarbeiterinnen schwer, sich in die Gesellschaft einzufügen?
Sexarbeiterinnen versuchen manchmal, allen zu zeigen, wie anständig und normal sie sind, um sich ein gewisses Ansehen und Rechte anzueignen. Dann hört man Dinge wie „Nun ja, ich nehme keine Drogen und bin nicht auf der Straße unterwegs. Ich bin ein anständiges Mitglied der Gesellschaft und zahle meine Steuern—deshalb sollte ich die gleichen Rechte haben wie jeder andere Mensch auch".

Das Ganze ist dann leider Wasser auf die Mühlen der Whorearchy—also der Hierarchie in der Welt der Sexarbeit. Wenn man sich damit brüstet, keine Drogen zu nehmen, dann stellt man sich über die Sexarbeiterinnen, die Drogen nehmen. Und so entsteht dann auch die Vorstellung, dass diese Sexarbeiterinnen gewisse Rechte nicht so sehr verdient haben, weil sie keine so anständigen Mitglieder der Gesellschaft sind.

Save me if you can! Or you could just get yourself a real job like I have done. — Pye (@PyeJakobsson)7. April 2015

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Oft wird davon gesprochen, dass wir die Sexarbeit normalisieren und sie einfach nur als einen weiteren Job ansehen müssen. Wie stehst du zu dem Ganzen?
Ich finde, dass man es sich so zu einfach macht. Man verlangt von den Sexarbeiterinnen, dass sie sich anpassen, um sich Arbeitsrechte zu verdienen. Man sagt quasi: „Wenn ihr keine Drogen mehr nehmt, am Wochenende nicht mehr feiern geht, euch ganz normal anzieht und nach Feierabend ein monogames Leben führt, dann geben wir euch gerne Rechte."

Wenn man jedoch nach #facesofprostitution sucht, dann findet man vor allem Bilder von glücklichen, angepasst aussehenden Frauen—was dem Ganzen ja irgendwie in die Karten spielt.
Als ich mit #facesofprostitution angefangen habe, ging es eigentlich nur darum zu sagen, dass wir ebenfalls individuelle und einzigartige Menschen sind.

Außerdem nehme ich Drogen und proklamiere jetzt nicht überall, dass ich all diese Dinge nicht machen würde. Wenn man erst einmal damit anfängt, dann macht man es den Leuten möglich, Rechte von den Sexarbeiterinnen wegzunehmen, die drogenabhängig sind. Die werden dann gleich doppelt stigmatisiert: zum einen als Sexarbeiterinnen und zum anderen als Drogenkonsumentinnen. Ergibt das Sinn?

Du meinst, dass es eigentlich etwas Selbstverständliches sein sollte, erhört zu werden.
Ja. Diese Rechte sind trotz allem notwendig.

Du hast eine ziemlich verrückte Woche durchlebt, oder?
Das kannst du dir gar nicht vorstellen. In meinem E-Mail-Postfach sind über 200 Nachrichten gelandet und die meisten davon waren Schwanzbilder und ekelhafte Vorstellungen von Männern, wie sie mich ficken würden. OK, solche Nachrichten habe ich zwar schon immer bekommen—wie eigentlich jede Frau auf Facebook—, aber das Ganze hat doch sehr stark zugenommen.

Wie gehst du damit um?
Einigen habe ich sogar zurückgeschrieben. Ein brasilianischer Pastor hat mir ein Gebet zur Erlösung geschickt und ich antwortete dann nur mit einem „Vielen Dank, Baby! xxx".

Wie steht es um die Reaktionen ohne Schwanzbilder oder Gebete? Immerhin haben sich auch die Mainstream-Medien mit deinem Fall beschäftigt.
Das Ganze macht keinen wirklichen Spaß. Ich habe gerne die Kontrolle über mein Leben und deshalb war es auch so eine einschneidende Erfahrung, am Montagmorgen aufzuwachen und von den Medien plötzlich wie eine Art Vormachtsperson behandelt zu werden. Da draußen gibt es noch einen Haufen anderer Leute, die viel gebildeter sind als ich und auch eine Meinung zu dem Thema haben.

Meiner Meinung nach gehst du mit dieser Situation schon ganz gut um.
Nun, ich muss ja auch irgendwelche Vorteile aus dem Ganzen schlagen, denn je mehr man über die Rechte von Sexarbeiterinnen redet desto besser. Und neben den ganzen ekelhaften und unangebrachten Nachrichten habe ich auch viele schöne und ermutigende Botschaften erhalten. Eine davon macht 50 schreckliche Nachrichten wieder wett.