Wir haben die falschen Behauptungen des Energiegesetz-Briefes korrigiert

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Abstimmung

Wir haben die falschen Behauptungen des Energiegesetz-Briefes korrigiert

Mit falschen Fakten und dem vermeintlichen Vogelsterben durch Windkraftanlagen versuchen in der Schweiz "besorgte Bürger" gegen das Energiegesetz Stimmung zu machen.

Titelbild: Scan des versendeten Briefs | Montage von VICE Media

Am 21. Mai stimmt die Schweiz über die Zukunft ihrer Energieversorgung ab und für die jeweiligen Lager beginnt der Schlussspurt in der Abstimmungskampagne. Ausser der SVP sind alle Parteien für die helvetische Version der Energiewende – auch die FDP, wenn auch nach langem internen Streit. Gemäss der aktuellen Tamedia-Umfrage stimmen voraussichtlich 55 Prozent für das Gesetz, während 42 Prozent Nein sagen werden – nur 3 Prozent sind unentschieden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Zustimmung zu Gesetzesvorschlägen eher abnimmt, umso näher der Abstimmungstermin rückt. Die Gegner des Energiegesetzes – neben der SVP und kleinen Initiativen nur noch der Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, Gastrosuisse und der Automobil Club – wollen nicht aufgeben und greifen noch einmal zum populistischen Rundumschlag.

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Ende vergangener Woche zogen Schweizer einen ungewohnten Umschlag aus ihren Briefkästen: Adressiert an "alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger" fanden sie ein Couvert mit einem aufgedruckten toten Vogel, dafür aber ohne Absender vor. Was eher als ein Spendenaufruf einer Tierschutzorganisation wirkt, entpuppt sich als Wahlwerbung gegen das Energiegesetz unter dem Mantel des Tier und Landschaftsschutzes. Mit Horrorszenarien von Vögel-zerhackenden Windkraftanlagen versucht das "Komitee zur Rettung des Werkplatzes Schweiz" das Ruder noch einmal umzureissen. Hinter dem Komitee steckt unter anderem der "besorgte Bürger" Kurt Zollinger, der ehemaliger Präsident der SVP-Ortspartei Stäfa ist. Bereits bei im Vorfeld der Abstimmung zur Durchsetzungsinitiative versendete das Komitee ähnliche Briefe. Wir haben uns den Brief mal genauer angeschaut und die Aussagen freundlicherweise berichtigt.

Ein Scan des versendeten Briefs | Montage von VICE Media

Das Gesetz sieht vor, dass jeder Einwohner bis 2035 43 Prozent des Energieverbrauchs einspart. Das geschieht mit drastischen Massnahmen wie Verboten, Regulierungen, Überwachungen und vielen anderen Eingriffen.

Wie auch die SVP, behaupten die selbsternannten Vogelschützer in ihrer Kampagne, dass nur mit Verboten der Energieverbrauch verringert werden kann. Das neue Energiegesetz enthält jedoch keine Verbote oder Regeln für Einzelpersonen. "Solange technologische Optionen zur Verfügung stehen, werden Suffizienzstrategien als nicht akzeptabel angesehen", schreiben etwa die Verfasser der Energieperspektiven gemäss der Tageswoche . Vielmehr setzt die Energiestrategie des Bundesrates gezielt auf Effizienzsteigerung. Strengere Vorschriften gelten einzig für die Energieeffizienz von neuen Gebäuden und bei Neuzulassungen von Autos, bei denen der maximale CO2-Ausstoss an den EU-Standard angepasst wird.

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Gemäss Bundesrat kostet dies bis ins Jahr 2050 211 Milliarden Franken. (…) Eine vierköpfige Familie kostet das alles in allem 3200 Franken mehr pro Jahr!

Bundesrätin Doris Leuthard bezeichnete die in Gegnerkreisen herumschwirrende Zahl von 211 Milliarden Franken gegenüber der Aargauer Zeitung als "Hanebüchen". Pro verbrauchte Kilowattstunde wird ein Netzzuschlag von neu 2.3 anstatt 1.5 Rappen fällig, der für die Förderung von erneuerbaren Energien anfällt. Multipliziert man den Aufschlag mit dem durchschnittlichen Stromverbrauch eines Vierpersonenhaushalts von 5.000 Kilowattstunden, ergeben sich 40 Franken Mehrkosten jährlich pro Haushalt.

Gemäss Recherchen von Das Lamm rechnen die Gegner mit einem jährlichen Aufschlag von 2.010 Franken auf 3000 Liter Heizöl. Das Gegenteil sei aber der Fall: Die Abgaben sollen zweckgebunden für Gebäudesanierungen verwendet werden. Gebäudesanierungen ermöglichen es, künftig die Kosten für Heizöl zu senken, weil dadurch der Heizölverbrauch sinkt. Ein Fakt, der SVP- und Swissoil-Präsident Albert Rösti wohl nicht gefällt.

Strom, Benzin und Heizöl sollen stark verteuert werden.

Jährliche Zusatzkosten von 40 Franken pro Haushalt können wohl nur in individuellen Ausnahmefällen als starke Verteuerung bezeichnet werden. Die CO2-Abgaben auf Benzin und Heizöl bleiben von der Gesetzesvorlage unangetastet.

Ebenso gefährdet die Energieverteuerung aber auch die mittelständische Wirtschaft und damit verbunden unzählige Arbeitsplätze.

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Die Umstellung auf erneuerbare Energien benötigt eine Menge Fachwissen und neue hochtechnologisierte Anlagen. Auch unter Berücksichtigung der wegfallenden Arbeitsplätze in den Atomkraftwerken würden durch das erste Massnahmenpaket des Energiegesetzes mindestens 2.000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, fand die ZHAW in ihrer Studie heraus. Rechnet man die zusätzlichen Jobs durch Energieeffizienzmassnahmen ein, können gemäss der atomkritischen SES sogar 85.000 zusätzliche Jobs entstehen. Die Zeit der Atomkraftwerke scheint auch aus markttechnischer Sicht wohl bald vorbei zu sein: Weil die AKWs Leibstadt und Gösgen nicht mehr rentieren, wollte sie der Betreiber Alpiq verschenken. In ganz Europa fand sich trotzdem kein Abnehmer.

Dazu müssen gemäss Bundesrat rund 1000 (!) grosse Windturbinen gebaut werden. (…) In der ganzen Schweiz wird unsere wunderschöne Landschaft verschandelt.

Konkret nennt der Bundesrat keine Zahlen, dennoch werden zwischen 600 und knapp 900 neue Turbinen diskutiert. Windkraftwerke mögen optisch Geschmackssache sein, das zersiedelte und landwirtschaftlich stark bewirtschaftete Mittelland als museal schützenswert zu bezeichnen mindestens ebenso. Wenn sogenannte Landschaftsschützer auf Kosten des Klimas und Tonnen von Atommüll argumentieren, wirkt das gar heuchlerisch.

Diesen Brief fanden Zürcher in ihren Briefkästen | Foto von VICE Media

Die Schweizerische Vogelwarte Sempach warnt bereits jetzt eindringlich: "Kollisionen von Vögeln mit Windkraftanlagen wurden in vielen Gebieten festgestellt. Von Kollisionen betroffen sind sowohl ziehende als auch ortsansässige Vögel." Ein grausames Vogelmordgesetz!

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Gegenüber VICE bezeichnet die Vogelschutzwarte Sempach die Aussagen als aus dem Zusammenhang gerissen. Bei der Planung von Windkraftanlagen bedarf es gemäss dem Marketingleiter der Vogelschutzwarte Sempach Matthias Kestenholz Standortevaluationen, für welche die Warte in Vergangenheit bei Windkraftanlagen auch miteinbezogen wurde. "Wie auch bei Wasser- und Solarkraft gibt es bei der Windkraft gute und weniger geeignete Standorte, damit Vögel nicht gefährdet werden. Durch mehr erneuerbare Energien und weniger Verbrauch von fossilen Brennstoffen steigt die Luftqualität, was auch der Vogelwelt zugute kommt", erklärt Kestenholz.

Und woher kommt der Strom, wenn die Sonne nicht scheint? Woher, wenn es windstill ist?

Hier ist das Problem nicht die Herstellung, sondern die Speicherung. Die Schweiz ist in der komfortablen Lage über Speicherseen zu verfügen, die Wasser in die Berggebiete pumpen, wenn der Strom nicht gebraucht wird, um es während Nachfragespitzen wieder in Strom umzuwandeln. Im Winter, also dann, wenn tendenziell mehr Strom benötigt wird, weht auch mehr Wind.

Wollen wir den Deutschen jeden Blödsinn nachmachen?

Die falschen Behauptungen, tote Vögel auf Briefcouverts und antideutsche Stimmungsmache der Energiegesetz-Gegner zeigt wohl, dass ihnen mangels sachlichen und wahren Argumenten nur noch die emotionale Schiene bleibt. Niemand hat gesagt, dass die Energiewende einfach oder gratis wird. Sparen wir jetzt und gehen den Weg der Energiewende nicht, wird letzten Endes die Umwelt und die kommenden Generationen dafür zahlen. Auch wenn die Schweiz nur sehr begrenzten Einfluss auf das Weltklima hat, können wir trotzdem – gerade als hochtechnologisiertes und wohlhabendes Land – mit gutem Beispiel vorangehen. Die Fakten sprechen dafür.

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