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'Seebrücke'-Protest in Berlin: Aktivisten verhüllen Molecule Man mit einer Rettungsweste

"Wir brauchen zivilen Ungehorsam", sagt Maura Magni von der Seebrücke.
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Aktion der Seebrücke-Bewegung in Berlin | Alle Fotos: Shirin Siebert

Um 6 Uhr ist die Spree ganz still, auf der Wasseroberfläche liegt der Nebel. Man sieht eigentlich nichts, wir könnten gerade überall sein. Das Boot schaukelt übers Wasser, dann verzieht sich der Nebel und vor uns strecken sich die Beine der höchsten Statue Berlins in den blauen Himmel. Daran hängen, in 30 Metern Höhe, fünf Aktivisten der Bewegung "Seebrücke". Sie sind heute Nacht auf den Molecule Man geklettert, um ihm eine riesige orangefarbene Rettungsweste anzulegen. An dem kleinen Boot zieht die "Anarche" vorbei, mit der Aufschrift "Iuventa verteidigen", ein Zeichen der Solidarität mit der " Iuventa10", deren Crew wegen ihrer Seenotrettungsaktionen im Mittelmeer 20 Jahre Haft drohen.

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2018 sind im Schnitt sechs Menschen pro Tag bei dem Versuch, übers Mittelmeer zu fliehen, ums Leben gekommen. Allein 2019 starben nach Angaben der Seebrücke bereits über 500. Das Mittelmeer, ein Massengrab. Tausende Rettungswesten wurden an Europas Ufer gespült. Heute soll deswegen der Molecule Man eine solche Rettungsweste tragen, um die Politik zu ermahnen. Und um Raver aus der Wilden Renate, Touris und S-Bahn-Pendlerinnen gleichermaßen an die Toten zu erinnern.

Saskia Theis

Geflüchtete wie die beiden Herren rechts haben die riesige Rettungsweste genäht, dahinter steckt das Projekt "Kuniri"

Acht Stunden hat Ahmad, der eigentlich anders heißt, über die letzten zehn Tage die langen Stoffbahnen zusammengenäht, aus denen die Rettungsweste besteht: sechs mal neun Meter. "Das war viel Arbeit, aber es hat sich gelohnt", sagt er. "Wir sind alle nur Menschen, niemand soll auf dem Meer sterben." In Syrien hat Ahmad als Mathematiklehrer gearbeitet und jahrelang Erfahrung als Schneider gesammelt. Gemeinsam mit einem anderen Geflüchteten hat er die Weste genäht, "weil mir das wichtig ist". Dahinter steckt das Geflüchtetenprojekt Kuniri aus Berlin, das Designer und Schneider aus unterschiedlichen Ländern zusammenbringt, um faire Mode zu produzieren und damit ein gesellschaftliches Statement zu setzen.


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Weg von Abschottung, hin zu Bewegungsfreiheit. Das ist das Statement der Protest-Aktion der Bewegung in Berlin: "Wir fordern von der EU eine eigene Seenotrettungs-Mission und die Entkriminalisierung der zivilen Seenotrettung, sichere Fluchtwege nach Europa und eine menschenwürdige Aufnahme der Geflüchteten", sagt Maura Magni, Sprecherin der Seebrücke Berlin. "Zivilen Ungehorsam und plakative Aktionen, die für Aufmerksamkeit sorgen, halten wir für nötig, weil auf unsere breite Mobilisierung in ganz Deutschland und Europa die Politik bisher nicht reagiert hat. Wir werden weiterkämpfen, mit jeder Aktionsform, bis das Sterben auf dem Mittelmeer endet."

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Maura Magni, Seebrücke

"Wir werden weiterkämpfen", sagt Maura Magni, "bis das Sterben im Mittelmeer endet"

Die Bewegung Seebrücke besteht aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen und hat sich im Juli 2018 gegründet, als die "Lifeline" mit 234 Menschen an Bord tagelang auf hoher See ausharren musste, ohne in einem sicheren Hafen anlegen zu können. Zehntausende zogen damals durch die Straßen deutscher Städte, um sich laut zu machen für die Seenotrettung, sichere Häfen und Fluchtrouten nach Europa. Mittlerweile haben sich etwa 200.000 Menschen in Europa der Bewegung angeschlossen.

Als privilegierter Mensch sei es eine Verpflichtung sich für die weniger Privilegierten einzusetzen, sagt Jelka Kretzschmar von Sea-Watch, die die Protestaktion vom Spreeufer aus beobachtet. Wer heute noch denkt, nur weil Deutschland nicht direkt mit dem Mittelmeer durch einen Hafen verbunden ist, trägt es deshalb keine Verantwortung für die Toten, liege falsch: "Die Europäische Union hat insbesondere als Staatenbündnis gewisse Verpflichtungen. Und Deutschland hängt ganz stark in der Verantwortung mit drin", sagt Kretzschmar. Die Regierung solle die angrenzenden Staaten darin unterstützen, dass sie Leute aufnehmen können, dass Menschen an Land gehen können, dass eine inneneuropäische Solidarstruktur gestärkt wird, anstatt sich immer weiter abzuschotten. "Deutschland ist eines der privilegiertesten Länder Europas. Dieses Sterben an Grenzen darf so nicht weitergehen, selbstverständlich liegt es auch in unserem Verantwortungsbereich sich gegen diese Politik des Sterbenlassens zu wehren.”

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Molecule Man

In 30 Meter Höhe bringen die Kletteraktivisten die Rettungsweste an

Die Migrationspolitik ist eines der brisantesten Themen bei der Europawahl vom 23. bis 26. Mai. "Diese Krise ist keine Migrationskrise. Sie ist eine politische Krise und mit der Schuldsuche bei Wehrlosen kann leicht von den tatsächlichen Problemen abgelenkt werden. Migration gab und wird es immer geben", sagt Jelka Kretzschmar. "Die Staaten Europas geben sich gegenseitig Stabilität, müssen sich unterstützen, statt ausbeuten." Kretzschmar beschäftigt sich mit der Rekonstruktion von Rettungsszenarien und Einsätzen, bei denen den Seenotrettern unter anderem "Beihilfe zur illegalen Einwanderung" vorgeworfen wird, in einigen Fällen sogar die "Schaffung von Anreizen" dafür. Sea-Watch arbeitet alle Einsätze auf, um Kriminalisierungsargumenten entgegenzuwirken und zu belegen, dass auf Grundlage existierender Gesetze gehandelt wird. "Der Versuch Migration zu unterdrücken ist ein Problem. Kaum erreichen wir die Such- und Rettungszone finden wir Menschen in Seenot – sind wir nicht vor Ort, haben diese Menschen kaum eine Chance einem sicheren Ertrinken oder der Rückführung in libysche Folterlager zu entkommen."

Die Spree wird unruhig, die Aktion mit Sirenen und Blaulicht beendet. Die Wasserwacht begleitet das kleine Boot ein Stück mit. Das Banner der Seebrücke hängt noch, ihr Statement bleibt: Build bridges, not walls. Aktuell ist das Schiff "Sea-Watch 3" mit 65 Menschen an Bord auf dem Mittelmeer unterwegs. Wer sie aufnimmt? Das ist noch nicht geklärt.

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