zwei junge Rentierhirten halten Ausschau nach ihren Tieren
Die Rentierhirten Matthe Ailo (24) und Lene Anti (20) bei der Arbeit | Alle Fotos von Hedda Rysstad
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Die Freiheit der arktischen Einöde: Zu Besuch bei jungen Menschen in Lappland

Die Sámi leben im hohen Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands und Russlands. Wir waren vor Ort und haben gefragt, wie es sich zwischen Schnee, Rentieren, und so viel Weite lebt.

Als ich in Karasjok ankomme, muss ich erst einmal anhalten, um die Landschaft zu bewundern. Hier, im Nordosten Norwegens, ist es unfassbar still. Alles ist wunderschön weiß, das Licht magisch und vor allem ist es extrem kalt. Ich fühle mich wie in einer anderen Welt. Plötzlich läuft ein Rentier mitten auf die Straße und trottet gemächlich an mir vorbei.

Lene Anti hat mich hierher eingeladen. Die 20-Jährige stammt aus Karasjok und macht gerade eine Ausbildung zur Rentier-Hirtin für das Geschäft ihres Vaters. Ich soll ein paar Tage mit ihr in der Hirtenhütte verbringen, in der sie die kommenden sieben Tage mit ihrem Freund Matthe Ailo lebt, ebenfalls Rentier-Hirte.

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Karasjok gehört zum Siedlungsgebiet der indigenen Bevölkerung Nordskandinaviens, der Samen, zu der auch Lene und Matthe gehören. Sápmi, wie die Samen ihre Heimat nennen, erstreckt sich über den nördlichen Rand Skandinaviens von Norwegen, über Schweden, Finnland, bis hin zur russischen Halbinsel Kola. Heute aber leben die meisten der schätzungsweise 50.000 bis 100.000 Sámi, wie die Samen sich selbst bezeichnen, in größeren nordischen Städten.

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Rentierhirtin Lene Anti

Die Kultur und Sprache der Sámi wurden lange unterdrückt

Die Unterteilung ihres Gebiets Mitte des 19. Jahrhunderts machte den Samen das Leben schwer. Bis dahin konnten sie sich mit ihren Rentierherden frei in ihrem Gebiet bewegen, jetzt stießen sie auf buchstäbliche Grenzen. Wie bei vielen anderen indigenen Gruppierungen der Welt wurden ihre Kultur und ihre Sprachen unterdrückt.

Im frühen 20. Jahrhundert zum Beispiel wurden Sámi-Kinder von der norwegischen Regierung in Internate geschickt, wo sie norwegisch sprechen mussten. Mit dem Aufschwung der Wirtschaft war es der norwegischen Regierung wichtig, die norwegische Kultur und Sprache über die der Samen zu stellen, die nach den damals herrschenden sozialdarwinistischen Vorstellungen als minderwertig galten. In den 1980ern lenkten jahrelange Proteste um einen Staudamm im nordöstlichen Verwaltungsbezirk Finnmark Aufmerksamkeit auf die Situation der Sámi. Der Bau konnte zwar nicht verhindert werden, der Protest führte aber zu einem Umdenken in der Regierung.

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Ich bin zwar in Norwegen aufgewachsen, in der Schule spielte das Thema aber keine Rolle. Wir haben mehr über die nordamerikanischen Ureinwohner und die grönländischen Inuit gelernt als über die Sámi, die in unserem Land leben. Ich erinnere mich, dass immer mal wieder Menschen im Fernsehen samisch gesprochen haben. Als Kind habe ich mir dabei nichts gedacht. Je älter ich wurde, desto neugieriger wurde ich auch. Die einzigartige Kultur der Sámi und die spektakulären Landschaften von Sápmi faszinieren mich.

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Junge samische Mädchen posieren am Nationalfeiertag der Sámi, dem 6. Februar, in ihren Trachten vor einer norwegischen und einer samischen Flagge

Auch wenn es langsam besser wird, ist die Kultur der Samen immer noch gefährdet. Vier von zehn samischen Sprachen, die es heute noch gibt, sind vom Aussterben bedroht. Die Menschen, mit denen ich bei meiner Reise durch Sápmi gesprochen habe, sagen, dass es sie sehr stolz mache, Sámi zu sein. Andere würden jetzt auch an ihrer Kultur teilhaben wollen. Das entschuldigt natürlich nicht alles, was im Laufe der Geschichte falsch gelaufen ist.

"Manche fragen, ob wir noch in Zelten leben"

Zurück in Karasjok. Als ich nach einstündiger Bergauffahrt an der Hütte ankomme, begrüßt mich Matthe Ailo. Wir setzen uns aufs Sofa und für einen Moment genieße ich nur die Stille. Plötzlich erklingen im Hintergrund die bekannten Geräusche von Keeping up with the Kardashians, als einer meiner Gastgeber den Fernseher einschaltet. Die Hütte im Nirgendwo hat zwar kein fließendes Wasser und Strom gibt es nur vom Generator, aber der Fernsehempfang ist tadellos.

Lebensmittel, Benzin und Alkohol würden sie meistens in Finnland kaufen, sagt Matthe, dort sei es viel günstiger. Bis zur Grenze sind es 20 Kilometer. "Am Wochenende gehen wir dort feiern. Da steht die nächstgelegene Bar. Die meisten Menschen dort sprechen Nordsamisch, du merkst also gar nicht, dass du die Grenze überquert hast."

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Die Hirtenhütte, in der Matthe und Lene auf ihren einwöchigen Rentier-Schichten übernachten

Der 16-jährige Alexander Hætta spürt die Grenze schon. "Es ist, als würde es Norwegen und Sápmi geben", sagt er. Ich treffe ihn und seinen Freund Egil Stueng, 17, an einer von zwei Tankstellen, die es in Karasjok gibt. "Man hat das Gefühl, die Kommunen Karasjok, Kautokeino und Tana seien etwas auf sich allein gestellt, wenn man das mit dem Rest von Sápmi vergleicht. Die Menschen im Rest der Region sprechen nicht oft samisch", sagt Alexander. Sein Kumpel schaut ihn an und nickt. "Manchmal, wenn ich Leute aus dem Süden treffe, fragen die mich, ob wir immer noch in Zelten leben", sagt Egil und lacht.

Das passiere zwar nicht täglich, aber komme schon mal vor. "Wir werden zwar nicht mehr systematisch diskriminiert, aber bis zu einem gewissen Grad findest du das immer noch", sagt Egil. "Es fällt einem nicht sofort ins Auge. Manchmal ist es nur der negative Ton, in dem Leute dich ansprechen."

Ich fotografiere beide vor der Tankstelle, dann laden sie mich zu einer Spritztour auf ihren Motorschlitten ein. Wir fahren schnell los, denn eigentlich ist es verboten, ohne Helm zu fahren, und die Polizei ist ständig unterwegs. Wir düsen los zum Fluss. Es ist 40 Grad Minus und wir fahren so schnell, dass die Luft wie Nadeln in meinen Wangen sticht.

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Die Tankstelle in Karasjok

In der Mitte des zugefrorenen Flusses halten wir an. Die beiden hätten gerne noch ein Foto. Als ich abgestiegen bin, fahren beide Kreise mit ihren Schneemobilen. Kurz danach liegen beide schon im Schnee und lachen, die Motorschlitten sind umgekippt.

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Sie stehen wieder auf und während wir in der Dunkelheit auf dem Eis stehen, frage ich sie, warum sie nicht wie viele Gleichaltrige in die Stadt ziehen. "Du kannst hier jederzeit fischen, Ski fahren oder mit dem Motorschlitten zur Tankstelle heizen. Hier kannst du frei sein", sagt Egil. "Ich liebe es hier."

Scroll runter, um mehr von den Fotos zu sehen, die Hedda Rysstad in Sápmi geschossen hat.

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Auf dem Motorschlitten stehend können die Hirten ihre Rentiere besser im Auge behalten

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Matthe und Lene essen gekochtes Rentierfleisch und Kartoffeln zum Abendessen

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Lenes Schwester flechtet ihr die Haare, bevor sie ein paar Tage in die Berge geht

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Matthe kocht Rentierfleisch

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Hundeschlittenführerin Silje Maret Somby scrollt durch ihren Feed, während sie ihre zehn Hunde füttert

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Anne Berit Pedersen und Per Henrik Sara auf dem Weg zum Feiern in Finnland

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Hinter der finnischen Grenze befindet sich die einzige Bar weit und breit

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Nils Per Hendrik Gaup und Anne Berit Pedersen in der Hansabar in Finnland

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Aasllat Heandarat Aanti und Matthe Ailo wechseln das Geschirr von einem Rentierkalb. Assllat hält das Tier am Haus angebunden, damit es sich an Konzentratfutter gewöhnt und nicht nur Grünzeug und Pilze frisst. Sobald das Kalb anderes Essen akzeptiert, kommt es zurück zu den anderen Rentieren in den Garten. Das Kalb wird später in Schlittenrennen eingesetzt

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Aasllat füttert auf seinem Grundstück die Rentiere, die er bei Rennen einsetzt

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Aasllats Mutter checkt ihr Handy, seine Tante sitzt am Kaminofen und raucht

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Hirtenschüler vertreiben sich die Zeit zwischen den Unterrichtsstunden

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Rita trägt zum Nationalfeiertag ihre Tracht

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Ein Rentier wird in den Anhänger gebracht

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Sonnenuntergang auf dem Rückweg zur Hütte

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Die Hansabar in Finnland

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Silje Maret Somby