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Neue Männlichkeit

Warum wir den Begriff "toxische Männlichkeit" aus unserem Wortschatz streichen sollten

Vivek Shraya, die Autorin des Buches 'I'm Afraid of Men', geht den Mythen der Männlichkeit auf den Grund.
Screenshot von 'Goat' (2016) | via YouTube/MTV

In den letzten Monaten war das Thema toxische Männlichkeit in aller Munde. Die kanadische Autorin Vivek Shraya ist jedoch der Meinung, dass der Begriff endgültig abgeschafft werden sollte. Genau das gleiche gilt auch für andere Schlüsselwörter wie "Mikroaggressionen", die noch immer häufig verwendet werden. In ihrem neuen Buch I'm Afraid of Men hat sie deshalb bewusst auf diese Begriffe verzichtet.

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"Sprache kann etwas sehr Mächtiges sein", erzählt Shraya gegenüber VICE. "Manche dieser Begriffe können nützlich sein, aber ich verzichte mit Absicht auf den Begriff 'toxische Männlichkeit'. Diese Entscheidung habe ich aktiv getroffen, weil viele Leute nicht wirklich wissen, was damit gemeint ist. Es ist zu einem Modewort geworden und impliziert außerdem, dass es abgesehen von toxischer Männlichkeit auch eine Männlichkeit existiert, die nicht toxisch ist. Und dem kann ich nicht zustimmen."

Ihr Buch, das im August bei Penguin Random House erschien, ist trotz der fehlenden Phrasen und Modewörter sehr kritisch gegenüber der modernen Männlichkeit. Dabei erkundet Shraya den Mythos des "guten Mannes" und seine angeborene Gewalt.

"Mich interessiert, was passieren würde, wenn unsere Kultur die Idee eines guten Mannes aufgeben würde", sagt Shraya. Die Autorin setzt sich viel mit Musik, Literatur und Kunst auseinander und unterrichtet kreatives Schreiben an der University of Calgary. "Die Idee für das Buch hat mit dem Titel angefangen. Ich war gerade dabei, ein Album namens Part-Time Woman herauszubringen und eines der Lieder hieß 'I'm Afraid of Men'. In diesem Jahr hatte ich mich gerade als trans geoutet. Als ich den Song schrieb, habe ich darüber nachgedacht, was meine Beziehung zu Männlichkeit ist: als jemand, der Männlichkeit von vielen verschiedenen Perspektiven wahrgenommen hat, sie verkörpert hat, sie aufgezwungen bekommen hat, sie zurückgelassen hat und als jemand, der durch Männlichkeit immer noch Gewalt erleidet."

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Shraya wurde als Junge erzogen und beschreibt in ihrem Essay, wie Männlichkeit und männliches Verhalten ihr Leben geprägt haben. "Mir ist klar geworden, wie tief die Latte für Männer eigentlich gesetzt wird. Ich wurde schon als guter Mann gelobt, wenn ich das Geschirr abgewaschen habe", erzählt sie Autorin, während sie auf einer Parkbank in der Nachbarschaft Mount Pleasant in Vancouver sitzt. "Als ich zum ersten Mal darüber nachgedacht habe, wie meine Erfahrungen mit Männern bis jetzt ausgesehen haben, ist mit aufgefallen, dass ich oft den Fehler gemacht habe, anzunehmen, jedes einzelne Individuum wäre anders. Dieser Mann ist anders, weil er Bücher liest oder dieser Mann ist anders, weil er im Internet nett zu mit war. Wir begegnen Männern mit einem Überfluss an Vergebung und Glauben in ihre Fähigkeiten – aber bei Frauen in unserer Kultur ist das nicht der Fall."

Bilder von der Autorin zur Verfügung gestellt

I'm Afraid of Men beginnt mit einem typischen Tag von Vivek Shraya. Sie beschreibt dabei die konstanten Navigationen, Rücksichtnahmen und Absicherungen, gegenüber denen sie sich jeden Tag in ihrem Leben als queere Trans-Frau verpflichtet: abschwächende Rufzeichen am Ende von E-Mails setzen, Augenkontakt und Berührungen in öffentlichen Verkehrsmitteln vermeiden, sich auf den Nachrichtenschwall über Gewalt gegen Trans-Menschen und Menschen mit nicht-konformen Gender in sozialen Medien vorbereiten. Ein Tagesablauf, mit denen sich viele identifizieren können. Shrayas Auflistung dieser Umstände zeigt klar, wie allgegenwärtig diese Selbstschutzmechanismen für nicht-cisgender Menschen, Frauen und People of Colour sind.

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"Vom Anfang bis zum Ende meines Tages habe ich einen genauen Gedankenablauf", erklärt Shraya. Dabei würde es gar nicht so sehr darum gehen, "für wen das Buch geschrieben ist, sondern mehr, worüber wir reden, wenn es um Angst geht."

Die Art und Weise, wie speziell über die Angst vor der Gewalt durch Männer diskutiert wird, stammt hauptsächlich aus Konversationen über physische Gewalt. Diese Bedrohung ist allgegenwärtig, aber die Unterdrückung durch das Patriarchat geht weit über einzelne Vorfälle hinaus. "Ich finde, es ist sehr schwierig, weil sich die Gespräche in den letzten Jahren nur um zwei Aspekte gedreht haben: Sichtbarkeit von Männlichkeit und Gewalt von Männern. Auch ich habe deshalb einen gewissen Druck gespürt, in meinem Buch nur über ein konkretes traumatisches Event zu schreiben", sagt Shraya.

Shrayas Erzählweise schwächt die Erwartungen ab, in dem Buch über tragische Vorfälle zu lesen, so wie man sie aus Einzelgeschichten über die Leben von Trans-Menschen kennt. Sie erzählt stattdessen über eine wundervolle neue Beziehung, in der die Angst, abstoßend zu wirken die Freude am Flirten in den Schatten stellt. Die Angst vor Männern stammt also nicht nur von körperlicher Bedrohung, sondern auch von Ablehnung, Abneigung und Objektivierung. Shraya versucht deshalb in ihrem Buch herauszufinden, wie diese Art von Frauenfeindlichkeit das Selbstwertgefühl angreift.

Abgesehen davon, dass Shraya Begriffe wie "toxische Männlichkeit" vermeidet, versucht sie zusätzlich, ihre Erzählungen außerhalb der binären Grenzen zu formulieren. Ihrer Meinung nach kann man deshalb nicht sagen, dass es das Konzept von "toxischer Weiblichkeit" nicht gibt. "Für mich war es sehr wichtig, ein Buch zu schreiben, bei dem keiner aus dem Schneider ist", erklärt sie.

Für manche Männer mag der Titel ein Anfangspunkt für eine Konversation oder auch eine Konfrontation sein. "Mein Herausgeber, David Ross, wollte mit dem Buchdesign meine Arbeit als Künstlerin mit meinen anderen Werken verknüpfen und würdigen", erklärt Shraya VICE. "Ich hoffe, dass sich viele Menschen durch beide Seiten dieses Titels ermächtigt fühlen. Und es soll zeigen, dass die Angst vor Männern nicht nur von einem einzigen Vorfall herrührt, sondern vielmehr von einer Reihe von Vorfälle im Laufe eines Lebens. Ich denke, das trifft auf viele Menschen zu", meint Shraya.

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