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Life Inside

Warum ich im Gefängnis angefangen habe, Geige zu lernen

Und wie mir die Musik half, den Tod meines Vaters zu verarbeiten.

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden, einer gemeinnützigen Nachrichtenorganisation, die sich mit dem US-amerikanischen Justizsystem beschäftigt.

Scheppernde Türen, schreiende Menschen, bellende Wachen: Der Krach im Gefängnis hört niemals auf. Oft ist es nachts sogar lauter als tagsüber, weil viele Insassen dann anfangen zu brüllen und zu heulen, geplagt von den Geistern ihrer Vergangenheit.

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Oft spürte ich das dringende Bedürfnis, einfach in das Geheul miteinzustimmen. Die ersten drei Jahre hat mich die anhaltende Kakophonie wahnsinnig gemacht. Ich wandelte durch die Tage und Nächte wie ein Zombie – weder tot noch lebendig. Ich hatte einen langen Bart und niemanden, mit dem ich mich unterhalten konnte. Oder wollte. Meine Körperpflege vernachlässigte ich dermaßen, dass ein neugefundener Freund sich schließlich gezwungen sah, mir die Notwendigkeit eines gewaschenen Gesichts und sauberer Zähne vor Augen zu halten.


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Mit der Zeit fing ich an, mich anzupassen, und mein Leben wurde erträglicher. Ich wurde Gärtner. Ich beobachtete, wie das Leben mit einem Samen begann, zu einer Pflanze heranwuchs und im Herbst wieder erlosch. Ich sah mich darin wieder. Das Gefängnis war in gewisser Weise mein Herbst. Ein Teil von mir war in den ersten Jahren hier gestorben, aber ich wusste nicht, was mich noch erwartete.

Schließlich landete ich in Sing Sing, dem nach Alcatraz wohl bekanntesten Gefängnis der Vereinigten Staaten. Dort gibt es viele Bildungsangebote für Insassen. Ich meldete mich für ein Theologie-Seminar an und setzte mich mit meinem Glauben auseinander. Nach einer gewissen Zeit fühlte ich mich allerdings in einer Art Schwebezustand gefangen. Ich hatte eine Menge darüber gelernt, was ich nicht tun sollte: Ich hatte die meisten meiner schlechten Angewohnheiten überwunden und mithilfe von Vertrauenspersonen, Insassen wie Professionellen, mein Herz und meinen Kopf durchleuchtet. Trotzdem hatte ich noch keinen Sinn gefunden. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen soll.

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Im Gefängnis gab es ein Programm, Musicambia, in dessen Rahmen jede Woche Musiklehrer zu uns kamen. Ich ging zu einem ihrer Konzerte und war überwältigt. Ich sah Insassen, die miteinander sprachen und sich austobten. Sie machten einen zufriedenen, aufgeräumten Eindruck und schienen miteinander ernsthaft Spaß zu haben. Wir, das Publikum, fühlten uns ebenfalls als Teil davon. Ich musste einfach bei diesem Programm mitmachen.

Zuerst brauchte ich allerdings ein Instrument. Als Kind hatte ich in der Mittelstufe ein Jahr lang Snare-Drum gespielt, aber die war mir jetzt zu klobig. In Sing Sing darfst du ein Instrument in deiner Zelle üben, also bat ich eine Freundin draußen darum, mir eine Geige zu kaufen. Für 100 US-Dollar besorgte sie mir ein Einsteiger-Instrument und das Buch Violine für Dummies.

Mein Anfang war absolut grauenvoll. Im besten Fall verscheuchte ich mit meinem Gefiedel, das klang wie das Gejammer einer sterbenden Katze, die Wachen von der Galerie. Einer von ihnen hatte mich und mein neues Gimmick sogar so lieb gewonnen, dass er mich einmal abmahnte, weil ich die tägliche Anwesenheitskontrolle stören würde.

Musicambia kam jeden Samstag nach Sing Sing. Die sechs Tage dazwischen verbrachte ich damit, die Stücke und Fingerübungen zu üben, die sie uns aufgegeben hatten. Ich fing selbst an, kleine Lieder zu schreiben, was vor allem so aussah, dass ich Akkorde irgendwie auf Geigen-, Bratschen- und Cello-Teile verteilte. Mit drei anderen gründete ich sogar ein Streicherquartett: ich, eine Erste Geige, ein Bratschist und ein Cellist. Wir nannten uns das Riverside Quartett, weil sich Sing Sing direkt am Hudson River befindet.

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Der Autor, links, und die anderen Mitglieder des Riverside Quartetts | Foto: JP Chirdon für Strings Magazine

Im Oktober 2015 starb mein Vater im stolzen Alter von 95 Jahren. Ich bekam die Erlaubnis, seine Beerdigung zu besuchen. Auf dem Weg kotzte ich den Gefängnistransporter voll. Ich war schon seit Jahren nirgendwo mehr hingefahren und obendrein zutiefst frustriert, nervös und traurig. Wegen meiner Hand- und Fußfesseln habe ich es in der Kirche kaum auf meinen Platz geschafft. Meine Familie musste mich die ganze Zeit herumführen. Ich sollte eine Trauerrede halten, aber ich stotterte und stammelte nur rum. Mir fehlten die Worte. Ich war traurig und bereute es, seine letzten Tage verpasst zu haben. Ich war extrem aufgebracht und unfähig, das auszudrücken. Zurück im Gefängnis war ich deprimiert. Bis tief in die Nacht lag ich wach und dachte an meinen Vater.

Dann kam mir eine Idee: Ich werde ihm ein Lied widmen.

Elliot Cole, einer der Musiklehrer, brachte mir ein paar Grundlagen der Melodiekomposition bei und zeigte mir, wie man die passenden Akkorde für die Seiteninstrumente findet. Zur Inspiration für den Text las ich noch einmal das Gedicht "Der Mann mit der blauen Gitarre" von Wallace Stevens. Ich nannte das Lied "Ode To My Father John".

Als ich es zum ersten Mal bei der Probe hörte – ich hatte es komponiert, aber noch nicht selbst gespielt –, weinte ich. Für die große Aufführung vor dem versammelten Gefängnis hatte Musicambia die berühmte Opernsängerin Joyce DiDonato mitgebracht. Als sie die letzte Zeile sang – "Goodbye, Dad" –, hatten sich meine ganze Angst und Unsicherheit, meine Sorgen aufgelöst. Mir wurde bewusst, dass ich eine gesunde und positive Art gefunden hatte, um den Tod meines Vaters zu trauern. Andere sagten mir, dass sie das Lied bewegt habe. Ich selbst hatte das Gefühl, ein neues Talent an mir entdeckt zu haben.

Musik ist etwas, das tief aus meiner Seele kommt – eine Form der Kommunikation, die für mich besser funktioniert als sprechen. In der Musik kommen die starken Gefühle in mir zum Ausdruck. Ich fühle mich leichter und nicht mehr so angespannt, ängstlich und deprimiert. Ich fühle mich meinem Selbst näher als jemals zuvor.

Jason Naradzay wurde im Juni 2016 auf Bewährung entlassen, nachdem er 12 Jahre für versuchten Totschlag und versuchten schweren Einbruch im Gefängnis war. Momentan arbeitet er als Suchtberater in Syracuse, New York.

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