Eine Woche an der Berliner Obdachlosen-Uni
Kein Grund zum Schämen: Theater an der Obdachlosenuni | Alle Fotos wenn nicht anders angegeben: Hakki Topcu

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Eine Woche an der Berliner Obdachlosen-Uni

Eine 17-Jährige bringt 70-Jährigen Hartz-IV-Empfängern Englisch bei, im Uni-Theater spielen trockene Alkoholiker böser Wolf. Und auch sonst gilt: Der Weg ist das Ziel.

Es macht schon einen gewaltigen Unterschied, ob ein alter Mann mal eben irgendwo hingeht – oder ob einem jeder einzelne Schritt weh tut. Weit nach vorne gebeugt hält sich Dietmar an seinem Rollator fest, schiebt ihn voran, Zentimeter um Zentimeter, bleibt immer wieder an einem Baustellenzaun hängen, der sich die ganze Straße bis zum Treffpunkt 'Strohhalm' in Berlin-Schöneweide entlang zieht. Dietmar hat einen so starken Rechtsdrall, dass er, wie von einem falsch kalibrierten Joystick gelenkt, immer wieder gegen den Zaun stößt. "Ich will nicht zu spät kommen", sagt er. "I don't want to be late." Dietmar, 72 Jahre alt, möchte zum Englischkurs für Fortgeschrittene.

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Kim könnte vom Alter her die Nichte ihrer Schüler sein

Der Kurs ist Teil eines Projekts, das einen inneren Widerspruch im Namen zu tragen scheint: Obdachlosenuni. Das Vorlesungsverzeichnis dieser Uni steht im Netz – und im Berliner Straßenmagazin Motz, das jene in U-Bahnen und Bahnhöfen verteilen, die es nicht gut getroffen hat im Leben. Die meisten der aktuell 14 Kurse finden im Treffpunkt Strohhalm statt, ein Projekt der Stiftung SPI. Der Treffpunkt ist nach eigener Auskunft eine "niedrigschwellige Kontakt-, Begegnungs- und Beratungsstelle". Kurz: Da darf jeder hin. Es kommen Obdachlose, Alkoholiker, Einsame, Verlassene, oder auch einfach die, die sonst nicht wissen, wohin sie gehen sollen.

Diese etwas anderen Studierenden, die meisten sind zwischen 60 und 80 Jahre Jahren alt, treffen sich außer zum Englischlernen auch zum Yoga, dem Bibelgesprächskreis oder dem "Handarbeitskurs mit Frau Bethke". Während Dietmar die wenigen Treppen zum Treffpunkt überwindet sagt er, dass er mit 72 unregelmäßig konjugieren lernt, damit er "fit in the head" bleibt. Dietmar spricht mit warmer, etwas flatternder Stimme, auch als er den Grund dafür erklärt, warum er so schlecht läuft und sowieso für sein ganzes Malheur: 2001 hat ihn ein Auto überfahren. Der Täter beging Fahrerflucht. Dietmar trug nicht nur viele Knochenbrüche davon, sondern auch Schäden am Kleinhirn.

Dietmar "wants to stay fit in the head"

Im Klassenraum des Englischkurses für Fortgeschrittene sitzen an diesem Tag acht Menschen. Sie sind alle über 60 – ihre Lehrerin ist aber erst 17. Kim Nitsche engagiert sich hier freiwillig, den Duktus einer Lehrerin hat sie schon drauf, wenn sie erklärt, dass es hier darum gehe "das Basiswissen immer wieder zu wiederholen, damit es richtig sitzt". Bevor sie über unregelmäßige Verben sprechen, schenkt Kim Dietmar einen blau leuchtenden Stift, weil er keinen dabei hat. "Aber nicht verlieren, wie du das sonst so machst", sagt sie. Dietmar nickt selig.

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"My Handy is ringing"

Auch das Wissen, das die älteren Leute irgendwo in ihrem Kopf verlegen, muss Kim immer wieder auftreiben, damit sie es nicht endgültig verlieren. Gerade erklärt sie den Unterschied zwischen "nice" und "niece", nett und Nichte, "my nice niece!" ruft Dietmar in die Runde. Alle lachen, manche runzeln gleichzeitig die Stirn. Dann sollen sie ein Arbeitsblatt mit unregelmäßigen Verbformen ausfüllen, es wird still im Klassenraum. Dort stehen an den beiden langen Wänden Monitore aufgereiht, als würde die digitale Gegenwart die Alten flankieren. Sie selbst lernen analog, mit Papier und Stift.

Als es endlich daran geht, die Sätze vom Arbeitsblatt vorzutragen, fragt Wolf, einer der Schüler: "Wie, das Verb ist unregelmäßig?" Kim sagt: "Die sind alle unregelmäßig. Darum geht's heute." Wolf schiebt seinen Zettel beiseite. "Dann kann ich's komplett vergessen." Eine Schülerin sagt: "My Handy is ringing", Kim erklärt ihr das Wort mobile phone, sie soll den Satz wiederholen, schafft es nicht, Wolf ruft: "Jeshjo raz!" – was "nochmal" auf Russisch bedeutet. Jetzt ist die Verwirrung komplett. Als Dietmar zu Wolf später sagt: "Seid bereit!", antwortet der mit: "Immer bereit!" Es scheint, als wären die alten DDR-Pionier-Losungen und russische Satzpartikel früher unter so viel Druck in die Köpfe reingedrückt worden, dass sie jetzt wie von selbst wieder rausgeschossen kommen.

Kim unterrichtet seit einem Dreivierteljahr an der Obdachlosenuni, statt selbst auf eine Uni zu gehen. "Ich habe schon mit 16 mein Abi gemacht und wollte mich ein Jahr lang engagieren", sagt sie. Jetzt wisse sie, dass sie Lehrerin werden wolle, Grundschullehrerin. Auch habe ihr das Unterrichten Selbstbewusstsein gegeben. "Ich war vorher eher schüchtern", sagt sie.

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Die meisten von Kims Schülern werden wohl nie flüssig Englisch sprechen, Fortschritte lassen sich in hohem Alter nur zäh erzielen. Doch das heißt nicht, dass der Unterricht vergebens wäre, er hilft, "nicht einzurosten", sagen Kim und mehrere ihrer Schüler. Lernen nicht für eine Note, sondern des Lernens wegen. In der Obdachlosenuni ist der Weg das Ziel.

Dozenten müssen nicht vom Fach sein

Gegründet hat das Projekt 2011 Maik Eimertenbrink. Der Kommunikationswirt hat sich von der österreichischen Stadt Graz inspirieren lassen, wo kostenlose Vorträge Zugang zu Uni-Wissen ermöglichen, unabhängig davon, ob jemand Geld oder ein Dach über dem Kopf hat. Eimertenbrink hat das Konzept angepasst, "es ist doch super, wenn alle, die wollen, Kurse anbieten" – also auch Dozenten, die keine offizielle Qualifikation für das Fach besitzen, das sie unterrichten.

Eimertenbrink sagt, sein Ziel sei es, "Menschen zu helfen und dadurch interessante Menschen kennenzulernen". Manche der Teilnehmer seien "freie Geister", die noch nie in ihrem Leben einen regulären Job hatten.

Die allermeisten Teilnehmer der Obdachlosenuni würden nicht auf der Straße schlafen, erklärt Eimertenbrink: "Ich hab's versucht, Plakate an Brücken geklebt, unter denen bekanntermaßen Obdachlose schlafen, aber die erreichst du nicht. Die haben andere Probleme." Stattdessen würden viele Wohnungslose teilnehmen, also Menschen, die in einem Wohnprojekt oder einer sozialen Einrichtung übernachten. Manche hat ein Unfall aus der Bahn geworfen, wie eben Dietmar.

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Nach dem Englischkurs sitzt er auf einem Holzstuhl im Strohhalm, umgeben von ein paar Senioren, Blümchendecken und Kantinenduft und erzählt, dass er eine Wohnung habe, dort aber alleine sei. Er sagt das in einem hellen Ton, als wäre er optimistisch, dass sich daran etwas ändert. "Ich will noch 73 werden!", sagt er. "Ich habe Freunde!" Er blickt sich um, ein paar Alte blicken auf, lächeln. Dietmar sagt: "Friends."

Er erzählt, dass er schon immer von Sprachen fasziniert gewesen sei. "Ich habe mir die einfachen Sachen auf Englisch selbst beigebracht." Zu DDR-Zeiten hat er in der Schule Russisch gelernt. Auf die Frage, ob er mal im Ausland war, antwortet er: "Polen, Tschechien." In einem englischsprachigen Land? "Never."

Er verabschiedet sich mit einem "Have a good day!" – und macht sich ran ans Mittagessen. Es gibt "Fruchtiges Putencurry mit Reis" für 1,20 Euro. Direkt gegenüber des Treffpunkts liegt die Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Die Studierenden dort speisen mit Spreeblick. An diesem Tag gibt es Tofutaler, Kokos-Mandelpudding oder mediterranen Dinkel-Tomaten-Burger im Sesambrötchen für 5,95 Euro.

Die Obdachenlosenuni richtet sich an jene, die sonst nirgendwo mehr willkommen sind – und rührt damit an einem der großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Denn die Abgehängten werden immer mehr. Eine Forschergruppe um den französischen Ökonom Thomas Piketty attestiert Deutschland so viel gesellschaftliche Ungleichheit wie zuletzt 1913.

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Viele hier sind in einem anderen Land aufgewachsen

Die meisten Teilnehmer der Obdachlosenuni haben viele Jahre auf dem Buckel, aber wenige Euros auf dem Konto – und vielfach noch eine DDR-Vergangenheit, die für Brüche im eigenen Leben gesorgt hat, die nicht mehr leicht zu kitten sind. Hinzu kommt das größte Problem: der Suff.

Weil Alkohol als Problem sowieso gegenwärtig ist, wird er bisweilen im Spiel thematisiert. Einmal die Woche trifft sich die Theatergruppe der Obachlosenuni. Sie probt im Brückeladen der Gebewo, einer sozialen Einrichtung, in der Regale mit Töpfen vom Töpferkurs vollgestellt sind und selbst gebastelte Häuser aus Pappmaché als Kulisse dienen.

Markus ist die Großmutter, Rainer (re.) der Wolf. Und Rotkäppchen ist auch da

Gerade wird "Die verrückte Märchenschau" geprobt, bei der Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und einige andere Märchen in einem wilden Schleudergang ineinander gemorpht wurden – bis der Wolf als verfluchter Vertreter durch den Wald zieht, dessen Waren niemand haben will.

"Aber ich bin doch alt und krank!", sagt die Großmutter, die sich gegen die Angebote des Wolfs erwehrt. Der Wolf wird von einem langhaarigen alten Rocker und die Großmutter von einem Schrank von einem Mann im Oma-Nachthemd gespielt, die Theatergruppe kriegt sich kaum ein vor Lachen.

"Edler Whiskey für nur 4 Euro 99", sagt der Wolf und umschmeichelt die Großmutter, die energisch ruft: "Ich will nicht!" So bestimmt ruft das die Großmutter mit dem stoppeligen Gesicht und den schiefen Zähnen, dass der Wolf seinen Sprit fortan als "Zaubertrank" anpreist und weiter um die 100-Kilo-Mann-Seniorin tänzelt, bis die Regisseurin Svenja lachend einschreitet. "Pause!"

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Der Wolf geht mal eine quarzen

Die Großmutter heißt Markus, ist 53, "seit zwei Monaten wieder trocken". So muss sich also jemand, der ganz im Ernst ein Alkoholproblem hat, spielerisch gegen Whiskey wehren. Und, zumindest an diesem Tage lässt sich sowohl fürs Spiel als auch für den Ernst sagen: läuft.

Der Wolf ist in der Pause derweil eine rauchen gegangen. Mehrere Amulette baumeln vom dürren Hals von Rainer, eines zeigt einen streng schauenden Falken. Rainer trägt ein Holzfällerhemd unter einer Rockerweste, eine Arbeiterhose mit Eisenschnalle am Ledergürtel, dazu Wanderschuhe. Er ist 58, könnte aber auch 70 sein, sein Gesicht voller Schluchten, aus denen struppiges, weißes Haar wächst. Rainer sieht aber nicht nur aus wie ein Renegate auf der Walz. Er ist wirklich einer.

"Ich hab zehn Jahre auf der Straße zugebracht", sagt er und zieht an seiner Selbstgedrehten. An seinem Unterarm prangt ein selbstgemachtes Tattoo: ein ausgeblichenes Schwert. "Ein Unfall aus dem Osten", erzählt Rainer, "ich hab's mir nur gestochen, weil's in der DDR verboten war." Drei zusammengebundene Nadeln und Füllertinte, so schlicht war damals das Equipment der Unangepassten. Doch Rainers Geschichte ist nicht nur eine von Freiheit, sondern auch von Selbstzerstörung. "Wenn du bei minus 20 Grad draußen schläfst, dann fängst du an zu saufen", sagt er, mit knurriger Stimme, die er auf der Bühne einsetzt um "Rrrrrrotkäppchen" zu rufen.

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Rainer bezeichnet sich heute als "stabil", auch wenn bei Krisen immer wieder Rückfälle drohen. Und die können, das sagen alle Teilnehmer der Obdachlosenuni, immer passieren. Kein Alkoholiker ist je 100 Prozent geheilt. Egal, wie weit jemand von dem toten Punkt in seinem Leben weggelaufen ist – die Sucht läuft immer mit.

Auch Rainer ist in seinem Leben viel gelaufen, 1989 aus der DDR, wo er als Gleisbauarbeiter gearbeitet hat, dann die zehn Jahre durch Europa, immer draußen, bis nach Griechenland und wieder zurück. Heute ist er angekommen, in seinem alten, neuen Berlin, und bei der Obdachlosenuni, wo er auch selbst schon Gitarrenkurse gegeben hat. Er fotografiert und macht eine Ausbildung zum Theaterpädagogen. Sich selbst retten, um anderen zu helfen, so funktioniert diese Universität.

"Die war ein Talent, aber leider tablettensüchtig"

Aber manchmal sind die, denen zu helfen wäre, einfach nicht da. So etwa, als an einem Montag zwei Männer im Treffpunkt Strohhalm sitzen und malen. Sie stellen sich vor als "Herr König" und "Herr Stolpe". Der erste ist der Leiter dieses Malkurses, der zweite mehr ein zweiter Lehrer als der einzige Schüler. "Wir sind meistens nur zu zweit hier", sagt Herr König, knollige Nase, hohe Stirn, sympathisch nachdenkliche Stimme. "Wir hatten hier mal eine Dame, die war ein Talent, aber leider tablettensüchtig", erzählt Herr Stolpe. Von einem auf den anderen Tag sei die dann nicht mehr erschienen. So sei das oft mit denen, die noch süchtig sind, eigentlich immer, sagt Herr Stolpe.

Herr Stolpe | Foto: Nik Afanasjew

Er führt seinen Pinsel ins Gurkenglas mit Wasser, um sich danach neue Farbe für ein Bild zu holen: ein Schiff, das in dramatischer See ums Überleben kämpft. Die beiden Männer führen heute ein stetes Leben, jeder auf seine Weise, mit fester Wohnung, mit Struktur, aber sie haben beide einmal darum gekämpft, nicht komplett abzusaufen. "Job weg, Frau weg, Wohnung weg", beschreibt Herr Stolpe seinen persönlichen Niedergang, diese Blaupause der Abwärtsentwicklung, die hier viele kennen. Einmal habe er kalt entzogen, aber dann "einen Rückfall gebaut", als bei seiner Frau eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde. "Der Süchtige", sagt Herr Stolpe, "findet immer einen Grund."

Herr König zeigt ein Bild: seine Version des berühmten Selbstporträts von Frida Kahlo mit dominanter Monobraue über strengen, selbstbewussten Augen. Eine Frau, die alles will und nichts braucht. "Ich male nur in Gesellschaft, ich kann das nicht alleine", sagt Herr König, Herr Stolpe nickt.

Irgendwann sagt Herr Stolpe: "Ich dachte erst: Was soll ich mit 60 anfangen zu malen? Aber das hat mir geholfen, aus der Sucht rauszukommen. Heute bin ich 75. Ich male gerne." Von 100 Leuten, die einmal in den Negativstrudel aus Sucht und Verlust reingeraten sind, "schaffen es vielleicht drei wieder raus", sagen die beiden. Der beste Weg hinaus sei für sie aber schlichtweg "eine Leidenschaft, die kein Geld kostet". Eine ziemlich treffende Beschreibung für die ganze Obdachlosenuni.

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