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Waffenrecht

Recht auf Suizid: Mit diesen absurden Argumenten schiesst die Schweizer Waffenlobby um sich

"Wenn wir Waffen schützen, schützen wir Rechte und Freiheiten von Bürgern."
Gerade bei jungen Männern ist Suizid mit Waffe ein problematisches Thema. Rechts: Das Werbebild der Aktion "Finger weg vom Schweizer Waffenrecht" Foto: pxhere | SM-G9250 | CC0 | Finger weg vom Schweizer Waffenrecht

"Wer gar zuviel bedenkt, wird wenig leisten." Dieses Zitat aus Schillers Wilhelm Tell scheint sich Pro Tell, die selbsternannte Gesellschaft für ein freiheitliches Waffenrecht, zu Herzen genommen zu haben. In Schillers Drama kämpft Wilhelm Tell gegen den Landvogt Gessler. Auch Pro Tell kämpft gegen eine Hoheit: Die geplante Umsetzung des EU-Waffenrechts. In der Schweizer Nationalsage verkörpert Tell den natürlich handelnden Menschen und gibt wenig Gehaltvolles von sich. Auch die Gesellschaft Pro Tell scheint sich wenig Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Botschaft an das Volk bringen soll. Sie zögert nicht, Fakten über Suizid so zu präsentieren, dass ihnen diese in die Hände spielen.

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Die "Small Arms Survey" schätzt, dass es hierzulande 3.4 Millionen Waffen gibt, was die Schweiz weltweit auf Platz 3 des privaten Waffenbesitzes hievt. Das ist nicht der einzige Spitzenplatz, den die Schweiz in Bezug auf Waffen einnimmt: Geht es um Suizide mit Schusswaffen ist die Schweiz im europäischen Vergleich auf Platz 2.

Für Pro Tell ist "das Recht auf Waffen" einer der Schweizer Traditionswerte. Die Lobby-Organisation sieht sich als die letzte Bastion, die dieses Recht verteidigt. Heute zählt Pro Tell an die 12.000 Mitglieder und ist auch im Parlament vertreten: Der neue Präsident ad Interim ist SVP-Nationalrat Jean Luc Addore, der auch Teil der 60 Mitglieder starken Parlamentarischen Gruppe für ein freiheitliches Waffenrecht ist. Dieses Recht sieht Pro Tell jetzt von neuen EU-Richtlinien zu einer geplanten Revision des Waffenrechts bedroht. Als Schengen-Mitgliedsstaat ist auch die Schweiz angehalten, diese Richtlinien anzunehmen.

"Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht", das sagte sich bereits Schiller in Wilhelm Tell und das sagt sich heute auch Pro Tell. Für sie hört der Spass da auf, wo der Lauf ihrer Waffe beginnt. Um sich in Diskussionen wortgewandt gegen Kritiker durchzusetzen, hat die Organisation auf ihrer Website ein Argumentarium veröffentlicht, das ursprünglich von Patrick Jauch, Initiant der Aktion "Finger weg vom Schweizer Waffenrecht", verfasst wurde. Darin werden mögliche Antworten zu kritischen Waffenfragen geliefert. Ein Kapitel: "Aspekte zu Suiziden".

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Der Umstand, dass zum Beispiel gerade bei jungen Männern Suizide mit Waffen ein problematisches Thema sind, wäre wohl jeder Vereinigung ein Dorn im Auge. "Nicht mit uns!", denken sich die Waffenenthusiasten und drehen den Spiess einfach um. So beginnt der Abschnitt zu Suizid mit:

"Suizid ist kein Delikt, sondern ein Menschenrecht!"

Somit könne Schusswaffensuizid kein Waffenmissbrauch sein. Und die Autoren schliessen daraus: "Wer Waffengesetze verschärft mit dem Ziel der Suizidprävention, behindert somit auch die Bürger in der Ausübung eines Menschenrechtes." Dass Suizid ein Menschenrecht ist, ist an sich nicht falsch. So entschied bereits die Europäische Menschenrechtskommission, dass jeder selbst wählen darf, wann er seinem Leben ein Ende setzen möchte. Was aber ethisch schon etwas fragwürdig ist, ist die Botschaft von Pro Tell, die impliziert: Wenn du dir mit deiner Schusswaffe dein Leben nehmen willst, sind wir die Letzten, die dich an der Ausübung deines Rechtes hindern. Auf Anfrage von VICE sagt Jean-Luc Addore: "Die Rolle des Staates ist es, die öffentliche Sicherheit sicherzustellen und nicht den Einzelnen zu schützen. Ansonsten müsste man ja auch Fahrzeuge, Brücken und Züge verbieten. Das wäre schon ein bisschen zu viel, nicht?"


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Es könnte einem fast das Bild aufdrängen, dass Pro Tell nicht Menschenleben als ein schützenswertes Gut ansieht, sondern Waffen. So argumentiert der Verein auf der Website: "Es ist unheimlich arrogant, am Ende dieses schicksalshaften Leidensweges einer Tatwaffe die Schuld zuzuweisen und zu glauben, damit sei das Problem identifiziert." Jean-Luc Addore erklärt:

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"Ein Computer ist für mich ein Objekt, ein Mobiltelefon ist für mich ein Objekt. Aber wenn wir Waffen schützen, schützen wir nicht Objekte. Sondern Rechte und Freiheiten der Schweizer Bürger."

Du fragst dich hier vielleicht: "Aber wäre es denn nicht im Interesse von Pro Tell (und der Suizidprävention), wenn sich Besitzer von Waffen in regelmässigen Abständen psychologisch durchchecken lassen würden?" Ich höre dich, und darauf gibt es von Pro Tell ein fettes "Hell no!" zurück. "Wir sind in einer freien Gesellschaft und verdächtigen nicht alle pauschal, krank zu sein. Jährlich gibt es viel mehr Tote auf der Strasse als durch Waffen. Aber Autofahrer müssen ja auch keine psychologischen Untersuchungen machen", so Addore.

Die Waffenlobby kämpft dafür, dass du mit deiner Waffe alle Rechte ausüben kannst, die dir in der Schweiz zustehen auch wenn das Suizid ist. So heisst es abschliessend im Argumentarium: "Und überhaupt: Mit welchem Recht schreibt ein Mensch einem anderen die Wahl seines Selbsttötungsmittels vor?"

Bevor Tell sich entschliesst, seinem Feind, dem Landvogt Gessler, das Leben zu nehmen, tritt er mit sich in einen inneren Monolog. Er nimmt in Schillers Drama mehrere Seiten in Anspruch. Zum Schluss heisst es "Rasch tritt der Tod den Menschen an, es ist ihm keine Frist gegeben." Noch rascher als ein Pfeil mit einer Armbrust abgefeuert ist, tritt nur die Kugel durch den Lauf des Gewehrs, das unter Umständen bereits zuhause im Schrank steht.

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