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Genitalverstümmelung

Wie eine Ärztin beschnittenen Frauen in Deutschland hilft

"Sie fallen mir weinend um den Hals und sagen, dass sie sich endlich wie eine komplette Frau fühlen."
Grapefruit mit grünen Nähten
Foto: Yasmin Nickel

Die Klitoris ist ein "böser Stachel", die Schamlippen sind unrein und wachsen immer weiter: Das glauben noch immer einige Communitys, vor allem in Teilen Afrikas. Alle elf Sekunden wird weltweit ein Mädchen beschnitten; ihre Klitoris und ihre Schamlippen werden mit einer Glasscherbe verstümmelt. Auf der ganzen Welt leiden 200 Millionen Frauen unter den Folgen von Genitalverstümmelung, auch FGM (Female Genital Mutilation) genannt.

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In Deutschland sind etwa 65.000 Frauen betroffen, schätzt die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Die Ärzte im "Desert Flower Center Waldfriede" in Berlin operieren und beraten Frauen, die unter den Folgen einer Verstümmelung leiden. Wir haben mit der Chirurgin Cornelia Strunz gesprochen, die dort die erste Ansprechpartnerin für Patientinnen ist.

VICE: Frau Dr. Strunz, wer sind die Frauen, die bei ihnen im Behandlungszimmer sitzen?
Frau Dr. Strunz: Fast ausschließlich erwachsene Frauen aus afrikanischen Ländern. Die meisten wurden im Alter zwischen vier und zwölf Jahren in ihrem Heimatland von Müttern, Großmüttern oder Tanten beschnitten, aber auch von professionellen Beschneiderinnen, Hebammen und Geburtshelfern. Doch FGM passiert weltweit, etwa in arabischen Ländern, in Malaysia und Indonesien.

Und in Deutschland?
Mädchen, die hier aufwachsen, werden manchmal in den Ferien in ihr Heimatland geschickt, um dort beschnitten zu werden. Manchmal werden die Beschneiderinnen auch eingeflogen.


Auch bei VICE: Zu Besuch in den kenianischen Dörfern, in denen ausschließlich Frauen leben


Unter welchen Problemen leiden die Patientinnen?
Sie können ihre Blase nicht richtig entleeren, haben Menstruationsbeschwerden, können keinen Sex haben und teilweise nicht schwanger werden. Manche haben Abszesse oder Fisteln. Das hängt aber auch von der Art der Beschneidung ab.

Wie unterscheiden die sich denn?
Die WHO unterscheidet vier Typen der Beschneidung. Beim Typ I wird die Klitoris verletzt, beim Typ II sind auch die kleinen Schamlippen betroffen. Beim Typ III werden die Klitoris und die kleinen und großen Schamlippen beschnitten und bis auf eine kleine Öffnung zugenäht. Diese Form sehen wir am häufigsten. Beim Typ IV werden ätzende Substanzen in die Vagina eingeführt, sodass diese komplett vernarbt. Aber es gibt natürlich viele Unterformen, da die Beschneiderinnen keine Ahnung von der Anatomie haben. Sie sind oft alt, sehen schlecht. So schneiden sie manchmal mehr ab, als geplant, auch weil die Mädchen sich natürlich wehren.

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Wann operieren Sie die Frauen?
Wenn die Frauen nach Typ III beschnitten sind, rate ich immer zu einer Operation. Aber auch die Ästhetik spielt eine große Rolle: Einige Frauen fühlen sich durch die Beschneidung ihrer Weiblichkeit beraubt und mögen ihren Körper nicht. Manche berichten, dass sie sich von ihrem Partner getrennt haben, weil sie Angst davor haben, intim zu werden. Wenn wir durch eine Operation hier die Klitoris oder die Schamlippen rekonstruieren können, rate ich ebenfalls zu einer Operation.

Wie genau verläuft so eine Operation?
Eine Klitoris ist acht bis zehn Zentimeter lang. Da bei einer FGM nur der äußere, sichtbare Teil der Klitoris entfernt wird, ist ein Großteil von ihr meistens noch vorhanden. Während der Operation tragen wir das Narbengewebe ab und holen den Rest der Klitoris an die Oberfläche. So kann die Frau wieder etwas empfinden. Die kleinen Schamlippen rekonstruieren wir mit noch vorhandenem Gewebe.

Wie geht es den Frauen danach?
Wir achten sehr darauf, dass die Frauen nach der Operation keine großen Beschwerden haben und relativ schnell wieder aufstehen können. Meistens sind die Frauen nach der OP aber einfach nur erleichtert: Sie fallen mir weinend um den Hals und sagen, dass sie sich endlich wie eine komplette Frau fühlen. Die meisten können danach auch wieder normal Sex haben.

Können die Frauen dann auch entbinden?
Viele Frauen kamen einige Zeit nach der Operation wieder zu mir mit einem kleinen Babybauch und haben dann auch ihr Kind bei uns entbunden – darüber freuen wir uns immer sehr.

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Wie hat sich die Zahl der Patientinnen in den vergangenen Jahren geändert?
Da zuletzt mehr Migrantinnen nach Deutschland kamen als noch vor Jahren, stieg auch die Zahl der betroffenen Frauen in Deutschland und somit auch die Anzahl meiner Patientinnen. Viele Migrantinnen wissen aber gar nicht, welche Hilfsangebote es gibt. Einige Frauen erfahren außerdem erst von ihrer Gynäkologin oder Gynäkologen, dass sie beschnitten sind. Die Ärzte wiederum sind nicht dazu verpflichtet, die Frauen darauf aufmerksam zu machen. Außerdem sehen manche eine solche Beschneidung zum ersten Mal und sind damit überfordert. FGM ist erst seit kurzem Teil des Lehrplans des Medizinstudiums.

In den meisten afrikanischen Ländern ist FGM verboten, in Kenia seit 2002. In Deutschland gilt sie seit 2013 als Straftat und wird mit Gefängnis nicht unter einem Jahr bestraft.
Und trotzdem habe ich es in Deutschland noch nie mitbekommen, dass jemand wegen einer Beschneidung verurteilt wurde. Dazu kommt: Die betroffenen Frauen trauen sich nicht, sich an die Justiz zu wenden, da sie Angst vor den möglichen Konsequenzen haben.

Sind die Verstümmelungen weniger geworden, seitdem sie offiziell verboten sind?
Nein. Die uralten Traditionen haben in den Communitys viel mehr Bedeutung als irgendwelche modernen Gesetze. Die Mütter wollen ja eigentlich nur das Beste für ihre Kinder: Ohne Beschneidung können sie nicht verheiratet werden und werden ihr Leben lang nur als kleines Mädchen behandelt. Eine Patientin von mir, die nach Typ III beschnitten war, wollte sich erst nicht operieren lassen. Sie hatte Angst, von ihrer Familie getötet zu werden, falls sie abgeschoben werden würde. Manche Communitys sehen eine Behebung der Verstümmelung als Verrat an.

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Was muss sich ändern, damit die Zahl betroffener Frauen zurückgeht?
Es bräuchte mehr Ärzte, die sich mit FGM auskennen. Wir bieten zweimal im Jahr ein Intensivseminar an, bei dem wir Kollegen und Kolleginnen über FGM aufklären. Das reicht aber noch nicht: Die Aufklärungsarbeit müsste auch durch die Politik besser unterstützt werden.

Und in den Communitys?
Dort müsste sich das soziale Gefüge verändern. Der Beruf der Beschneiderin ist hoch angesehen; die Frauen verdienen viel und finanzieren damit den Unterhalt der ganzen Community. Man sollte den Frauen neue Jobs geben, mit denen sie genauso viel Geld verdienen können. Ich glaube aber: Das wird noch einige Jahrzehnte dauern.

Falls du noch mehr zu dem Thema FGM wissen willst, findest du auf der Website der DFC weitere Informationen. Das Krankenhaus ist eins von vier Zentren der Desert Flower Foundation , die 2002 von Waris Dirie gegründet wurde. Dirie selbst wurde mit fünf Jahren in Somalia beschnitten. Darüber schrieb sie in ihrem Bestseller Wüstenblume .

Du kannst auch Frau Dr. Strunz persönlich eine Mail schreiben: desertflower@waldfriede.de. In dringenden Fällen erreichst du sie telefonisch unter +49 (30) 81 810 - 8582.

Eine Operation kostet um die 2.000 bis 4.000 Euro. Bei gesetzlich Versicherten werden die Kosten von der Krankenkasse übernommen. Da das Desert Flower Center aber auch Nicht- Versicherte behandeln wollen, wurde der Förderverein Waldfriede e.V gegründet. Der aus Spenden finanzierte Förderverein unterstützt oder übernimmt in diesen Fällen die Kosten.

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