Entführt, gefoltert, entkommen: Eine Tamilin verschwindet in die Schweiz
Ratnam Poonkothai lebt seit 2012 in der Schweiz | Alle Fotos von der Autorin

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Entführt, gefoltert, entkommen: Eine Tamilin verschwindet in die Schweiz

Wie Zehntausende andere wurde Ratnam Poonkothai im sri-lankischen Bürgerkrieg verschleppt. Sie ist eine der wenigen, die wieder aufgetaucht sind. Vom Geheimdienst verfolgt flüchtet sie in die Schweiz.

Als Ratnam Poonkothai durstig nach Wasser fragt, bieten ihr die Männer Urin an. In ihrer Zelle in diesem Militärcamp im Osten Sri Lankas gibt es keine Toilette, keine Dusche. Die Soldaten reiben ihr Chilipulver auf die von den Schlägen blutende Brust. Sie schleppen sie in einen Nebenraum, kleben ihr ein Pflaster auf den Mund, fesseln ihre Hände, ketten sie an einen Stuhl. 13 Oktobertage geht das 2007 so. Sie wird mit Schuhen getreten, auf die Brust geschlagen, vergewaltigt, mit Schuhen getreten, auf die Brust geschlagen, vergewaltigt. Sie bittet die Männer, aufzuhören. Sie schreit und fleht, sie freizulassen. Die Männer machen weiter.

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"Tagsüber geht es. Nachts aber, wenn ich im Bett liege, kommen die Bilder zurück."

Ratnam Poonkothais Schmerz beginnt lange vor ihrer eigenen Entführung. Es ist das Jahr 1986, Poonkothai ist 29 Jahre alt, als ihr älterer Bruder, ein Journalist, entführt wird. 13 Männer werden in Adampan verschleppt, einer kleinen Stadt in der sri-lankischen Nordprovinz, wahrscheinlich vom Militär. Später werden von einigen die leblosen Körper gefunden. Doch Poonkothais Bruder nicht. Seither ist er verschwunden.

1986 bekämpfen sich die tamilische, paramilitärische LTTE, die Liberation Tigers of Tamil Eelam, und die sri-lankische Regierung seit drei Jahren. Die LTTE will einen unabhängigen tamilischen Staat im Norden und Osten der mehrheitlich singhalesischen Insel, die sri-lankische Regierung will genau dies nicht. Am Ende setzt sich die Regierung durch, seit 2009 herrscht offiziell Frieden. In den knapp 26 Jahren dazwischen wurden Schätzungen zufolge 100.000 Menschen getötet, 100.000 weitere wurden verschleppt. Die meisten wurden von Sicherheits- oder paramilitärischen Kräften entführt, ein kleiner Teil von der LTTE. Wo diese 100.000 Menschen heute sind, wissen deren Angehörige nicht.

Fotos von noch immer vermissten sri-lankischen Tamilen | Alle folgenden Fotos von Protesten im sri-lankischen Vavuniya am 23. Juli

Zwei Jahre nach der Entführung ihres Bruders kam das Militär nach Kalmunai an der Ostküste der Insel, wo die Familie lebte. Die Soldaten nahmen Männer in der Stadt fest und durchsuchten sie, manche von ihnen hielten sie gefangen. Poonkothais Mann war einer davon. Er hatte fürs Bildungsdepartement gearbeitet, ihre älteste Tochter war gerade neun Jahre alt. Poonkothai fragte bei Militärcamps nach, bei Polizeistationen. Ohne Resultat. Sie stritten ab, ihren Mann mitgenommen zu haben. Es war Krieg. Die Kämpfe kamen näher, irgendwann musste die Familie fliehen und lebte fortan in einem Flüchtlingslager in Karaitivu weiter südlich.

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Im Sommer 1999 wird Poonkothais damals elfjährige Schwester vergewaltigt, die Männer des Militärs schlagen sie und verletzten sie so schwer am Kopf, dass sie bis heute Schäden hat. Ihre Mutter kümmert sich heute um sie. Einige Monate später wird Poonkothais jüngerer Bruder entführt. Das Militär nimmt damals 36 junge Männer mit, nur 18 von ihnen werden wieder freigelassen. Poonkothais Bruder ist nicht darunter. Seit Anfang 2017 protestieren Angehörige der Verschwundenen in den Städten Killinochchi, Vavuniya, Trincomalee, Mullaithivu und Maruthankerny. Sie fordern, dass Präsident Maithripala Sirisena die Liste der Ergebenen und Verhafteten bei Kriegsende offenlegt. Er versprach, die Fälle aufzuklären, passiert ist aber nichts.

Im Jahr 2000 wird Poonkothais Vater vom Militär gefoltert, kurz darauf stirbt er. Zuvor wurde er immer wieder zu seinem Sohn befragt, dem entführten Journalisten. "Bei uns gingen viele Leute ein und aus, da dachten sie wohl, wir hätten einen Bezug zur LTTE", sagt Ratnam Poonkothai, 59, und nimmt einen Schluck süssen Ingwertee. Sie trägt den Konflikt Sri Lankas in sich. Der Konflikt Sri Lankas, das sind zum Beispiel weltweit Hunderttausende tamilische Geflüchtete, etwa 50.000 davon in der Schweiz.

"Wenn ich dort geblieben wäre, dann wäre ich tot. Hier fühle ich mich sicher. Am Anfang war ich einsam, mir ging es nicht gut, ich wurde krank. Die meiste Zeit verbrachte ich im Spital. Seit meine Tochter in der Schweiz ist, geht es besser, ich kann es ertragen."

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Seit Anfang 2017 protestieren Angehörige der Verschwundenen mit der Forderung, dass Präsident Maithripala Sirisena die Liste der Ergebenen und Verhafteten bei Kriegsende offenlegt

In ihrem Wohnzimmer stehen ein dunkles Sofa und ein Ventilator, an der Wand lehnen zwei Matratzen, die Storen sind halb heruntergelassen. Ein kleines bisschen Sri Lanka liegt in der Luft, Räucherstäbchenduft. Wir befinden uns in Unterägeri, Kanton Zug. Vorbildlichstes Schweizer Mittelland mit einer Kantonalbank, einer Tankstelle und einem Sportzentrum im Dorf, selbst die Poststelle gibt es noch. Die dreijährige Enkelin hüpft hinter ihrer Grossmutter aufs Sofa.

"Kann ich jetzt erzählen, wie ich verschleppt wurde?"

Poonkothai kann sich noch an die Uhrzeit erinnern, 10:30 Uhr ist es am 27. September 2007. Die LTTE und die sri-lankische Regierung bekriegen sich inzwischen seit 24 Jahren. Ratnam Poonkothai ist in ihrem Haus in Kalmunai, als die Männer des Militärs und der regierungsfreundlichen, paramilitärischen Karuna-Gruppe kommen. Die Männer schlagen sie, Poonkothai schreit. Ihre Kinder und ihre Mutter müssen es mit ansehen. Die Sicherheitskräfte verbinden Poonkothais Augen, drängen sie in einen Lieferwagen und bringen sie 35 Kilometer weiter südlich nach Thirukkovil in ein grosses Militärcamp. Dort muss sie ihre Kleider ausziehen, wird geschlagen, vergewaltigt. Die Männer schlagen ihr kleine Nägel in die Hände.

"Ich kann nichts tragen, manchmal habe ich kein Gefühl in den Händen."

Am 14. Tag wird sie aus ihrer Zelle geworfen, wie ein Tier, sagt Poonkothai. Zusammen mit sieben anderen – wohl auch Tamilinnen und Tamilen – muss sie sich vor einer Mauer aufstellen, ihnen gegenüber stehen bewaffnete Soldaten. Sie erschiessen eine nach der anderen. Die Männer haben Poonkothai von der Gruppe getrennt, sie steht jetzt noch näher an der Mauer. Ihr gegenüber steht ein Soldat, das Gewehr in der Hand. Dann klingelt es, es ist sein Telefon. Er geht dran, dreht sich weg und geht davon. Poonkothai wartet kurz, dreht sich um, sieht vor sich die Mauer. Auf diese Chance hatte sie die ganze Zeit gewartet. Sie entdeckt zwei Stangen und schafft es mit diesen, über die Mauer zu klettern.

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Frei!

Sie rennt zum Haus eines Freundes. Bei ihm kann sie sich im Schrank vor dem Militär verstecken, das eine Suchoperation starten wird. Eine Gruppe stürmt direkt ihr Haus in Kalmunai, wo sich zwei ihrer Schwestern und ein Bruder aufhalten, alle drei arbeiten als Pflegerinnen im Krankenhaus. Sie werden mitgenommen. Doch weil das Spitalpersonal droht, gegen die Entführung zu protestieren, werden die drei am Abend wieder freigelassen. Poonkothai wartet noch immer im Schrank. Einer der Ärzte des Spitals, in dem auch sie früher arbeitete, kommt mit dem Krankenwagen vorbei, versteckt sie darin und nimmt sie zu sich. Einige Tage danach erzählt Poonkothai ihre Geschichte der SLMM, der Sri Lanka Monitoring Mission, die von 2002 bis 2008 die Waffenruhe beobachtet. Mit Hilfe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und der nationalen Menschenrechtskommission kann Poonkothai in ein christliches Kloster gehen, wo ihr eine Nonne hilft aufzuarbeiten, was passiert war.



"Ich bin als Hindu geboren worden, doch ich respektiere alle Religionen, alle Menschen. Meine Tochter hat einen Christen geheiratet."

Poonkothai will, muss wieder arbeiten. Ihr Mann ist noch immer verschwunden, ihre Kinder gehen zur Schule. In Trincomalee, weiter im Norden, kann sie wieder im Spital arbeiten. Doch irgendwann erfährt das Militär davon, durch die SLMM, die ihr eigentlich helfen sollte. Sie, die geflüchtete Verschleppte, wird noch immer gesucht. Eines Tages im Februar 2009, mehr als ein Jahr nach ihrer Flucht und kurz vor Kriegsende, ist Poonkothai mit ihrem Motorrad unterwegs zu einem Arzt, dem sie den Klinikschlüssel bringen will. Sie kommt nicht weit. Ein weisser Lieferwagen stoppt sie, will sie mitnehmen. Sie schreit und wehrt sich.

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"Immer wenn ich einen weissen Lieferwagen sehe, zucke ich zusammen. Ich habe so grosse Angst! Selbst hier in der Schweiz. Deswegen gehe ich nicht oft nach draussen."

Kurz darauf trifft die Polizei ein, Passanten hatten sie gerufen, um die Entführung zu verhindern. Doch die Beamten sagen zu Poonkothai: "Du hast aus nichts ein Drama gemacht." Nicht die Männer des Lieferwagens, wohl paramilitärische Kräfte, müssen mit auf den Polizeiposten, sondern Poonkothai. Acht Tage bleibt sie in Haft. Hier arbeiten viele Tamilen bei der Polizei, nicht nur Singhalesen wie sonst oft. "Wahrscheinlich haben sie mir deswegen nichts angetan." Anschliessend wird sie der Polizei in Kalmunai übergeben. Zwei Monate bleibt sie da, zwei Monate lang wird sie gefoltert. Dann verlegt man sie 340 Kilometer weiter in den Westen nach Colombo. Auch dort wird sie gefoltert, im Fourth Floor, einem bekannten Foltergefängnis des Geheimdienstes.

"Mein ganzer Körper tut weh. Ich habe Kopfschmerzen, kann nicht lange laufen, nicht lange stehen, sitzen tut auch weh. Ich habe Herzprobleme, dagegen nehme ich Tabletten. Und heute musste ich erbrechen. Aber ich probiere zu meditieren."

In Kalmunai bekommt Poonkothais jüngere Schwester an diesem Tag Besuch von der Polizei. Die Polizisten informieren sie, dass noch einige Sachen von Poonkothai bei der Polizeistation sind, sie wird gezwungen, mitzukommen und sie abzuholen. Seither ist Poonkothais Schwester verschwunden. Sie hat sie in der Zeit zuvor oft besucht, ihr Essen und Kleider gebracht, und sich mit der Polizei gestritten. Sie liess den Vorwurf nicht gelten, Poonkothai habe die LTTE unterstützt, sie betonte, dass sie als Pflegerin dem Staat diene. Die einzige Zeugin der Entführung ist die älteste Tochter Poonkothais. Als diese daraufhin die Entführung ihrer Tante bei der Polizeistation melden will, erkennt sie den Mann wieder, der bei der Entführung dabei war. Es ist der Polizist, der den Fall aufnimmt.

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"Ich sorge mich um meine Familie in Sri Lanka, um drei meiner Kinder und meine Mutter, sie ist schon sehr alt. Ich rufe sie oft an, ich möchte wissen, wie es ihnen geht. Sie fragen mich: 'Warum rufst du 24 Mal am Tag an?' Ich möchte sie gerne sehen, sie besuchen. Aber das geht nicht, es wäre zu gefährlich. Und ich habe kein Geld dafür."

Familienangehörige gedenken ihrer noch immer vermissten Männer

Offiziell ist der Krieg inzwischen beendet, doch Poonkothai wird noch immer gefoltert. Sie blutet, hat überall Schmerzen, es geht ihr schlecht. Die Männer lachen, während sie sie mit Stöcken schlagen. Noch heute werden in keinem anderen Land so viele Menschen gefoltert wie in Sri Lanka. Poonkothai wird krank und kommt ins Spital. Danach zurück in ein Gefängnis, diesmal Boosa im Süden Sri Lankas. Sie protestiert mit einem Hungerstreik, dreizehn Tage lang, kommt wieder ins Spital. Ihr wird versprochen, dass sie freigelassen wird. Statt Ruhe und Freiheit erwartet sie aber das Gefängnis Welikada.

"Das Militär, die Regierung, die Politiker*innen haben kein Herz, sie sind Lügner*innen, Kriminelle. Alle denken: Jede Tamilin und jeder Tamile gehört zur LTTE. Das stimmt doch nicht, das ist Propaganda!"

Poonkothai kommt vor ein Gericht. Eines Tages wird der höchste Richter ausgewechselt, der Neue ist ein Tamile. Poonkothai kennt ihn, sie unterhalten sich. Sie fragt: "Wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe?" Er ordnet an, dass sie auf Tamilisch angehört wird. Und so kann Poonkothai erzählen, dass sie als Pflegerin gearbeitet hat, also der Regierung diente, nicht der LTTE, dass sie gefoltert wurde, dass ihr Geständnis, mit der LTTE zusammengearbeitet zu haben, erzwungen war. In einem Brief schreibt sie ihre Geschichte auf, gibt dem Richter eine Kopie davon und eine übersetzte Version der Schweizer Botschaft in Colombo.

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Die Gerichtsverhandlung ist nun öffentlich. Der Richter will vom Vertreter des Geheimdienstes wissen, aus welchem Grund Poonkothai festgehalten wird. Sie habe 2005 mit einer an ihrem Motorrad montierten Bombe in Ampara viele Menschen getötet. Poonkothai gelingt es dank des Nummernschildes und ihrer Kontoauszüge zu beweisen, dass sie ihr Motorrad 2007 gekauft hatte, nicht 2005. Das Gericht gibt Poonkothai recht. Der Richter ordnet an, sie freizulassen. Die Regierung soll ihr für die Zeit, während der sie festgehalten wurde, den Lohn auszahlen, und ihr ihre Arbeit zurückgeben.


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Doch die Angst bleibt. Bewaffnete Männer ziehen auch nach dem Freispruch um ihr Haus. Sie kann nicht schlafen, versteckt sich bei Freundinnen. Poonkothai wird gedrängt, ihre Klage gegen den Staat – also gegen den Geheimdienst – zurückzuziehen. Dafür werden ihr 10 Millionen Rupien angeboten, umgerechnet gut 60.000 Franken, ein Haus in Kandy sowie je ein Job in der Verwaltung für ihre Kinder. Doch Poonkothai will das nicht. Erst wenn ihre Schwester zurückkommt, werde sie ihre Klage zurückziehen.

"Abends rufe ich meine Tochter an: 'Schliess die Tür ab, schliess die Tür ab.' Sie sagt dann: 'Du bist doch in der Schweiz. Warum hast du Angst?'"

Doch ihre Schwester bleibt verschwunden. Poonkothai kann nicht in diesem Land bleiben. Am 16. September 2012 kommt Poonkothai in Zürich an, die Schweizer Botschaft hat den Flug organisiert. Weil ihre Kinder über 18 Jahre alt sind, müssen sie in Sri Lanka bleiben. Poonkothais älteste Tochter, Augenzeugin der Entführung ihrer Schwester, wird kurz darauf vom Geheimdienst gefangen genommen, da ist sie schwanger im siebten Monat. Es gelingt ihr, auf Kaution freizukommen, sie kann fliehen und in die Schweiz reisen. Nun lebt sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern im selben Haus wie Poonkothai.

Eingeschüchtert wird jetzt Poonkothais zweite Tochter, einmal wird ihr eine Pistole an die Schläfe gehalten. Die Männer entreissen ihr das Telefon, um ihre Mutter in der Schweiz anzurufen. Am Telefon setzen sie Poonkothai unter Druck, die Anklage zurückzuziehen. "Ich will niemanden verlieren. Doch das werde ich nicht machen." Ratnam Poonkothais Geschichte wird lange nach ihrer Entführung wohl irgendwann in der Schweiz enden – und mit Gerechtigkeit? Poonkothai lächelt müde. "Sie ändern sich nie in Sri Lanka."

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