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Angst vorm Schwimmen in natürlichen Gewässern scheint ein unterschätztes Problem zu sein

In anonymen Internet-Foren erzählen sich Tausende von ihrer Angst vor dem tiefen Wasser, vor Algen, die sich um den Fuß schlingen und vor der vermeintlich gefährlichen Tierwelt unter ihnen.
ein mädchen mit thalassophobie, der angst vor tiefem wasser an einem see
Foto: Tjook (@xtjook) | Flickr | CC BY-ND 2.a0

Von der Liegewiese bis zum Eisverkäufer sind es vielleicht 300 Meter. Eine Bekannte und ich schwimmen mit ein paar Münzen in der Badehose durch den schmalen Abschnitt des kalten Sees. Ungefähr in der Mitte streiche ich unabsichtlich ihren Fuß. Wir erschrecken uns beide. "Boa, ich hab grad geglaubt, das war ein Fisch."

Hechte soll es in diesem See ja auch geben, sagt sie. Ich hab mal eine Wasserschlange und mehrere Blutegel gesehen, erzähle ich, während ich bei jeder Alge, die mich von nun an streift, zusammenzucke. Gegenseitig reden wir uns in einen Zustand der unausgesprochenen Angst. Wir schwimmen bestimmt doppelt so schnell wie am Anfang.

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In fast jedem Sommer spielt sich eine Episode ab, die mich glauben lässt, dass es sehr viele Menschen gibt, die Angst vor offenen, tiefen Gewässern haben. Der eine sportliche Freund, dem die Panik ins Gesicht geschrieben stand, weil ein anderer Freund mit dem Stand-up-Paddel abgehauen und ihn alleine im undurchsichtigem Wasser schwimmen ließ. Der eine Freund, der Mädels beim Schwimmen oft erfolgreich einredete, dass unter ihnen acht (!) Meter große Welse schwimmen würden. Die 10.000 Leute, die an der Neuen Donau liegen – und die gerade mal 5.000, die ins Wasser gehe, von denen wiederum nur 1.000 länger als zwei Minuten im tiefen Wasser schwimmen.

"Ich habe tierische Angst, in Seen und Flüssen schwimmen zu gehen. Wenn ich keinen Halt mehr unter den Füßen habe oder mich was an den Beinen streift, will ich einfach nur noch raus."

Angesprochen wird das Thema zumindest in meinem Bekanntenkreis aber kaum. Vielleicht, weil diese Angst im ersten Moment irrational erscheint und damit irgendwie peinlich ist. Wer im Freibad schwimmen kann, kann das doch auch im Fluss, im See, im Meer!

Aber wie in vielen Online-Foren geschildert wird, geht es Betroffenen nicht um die Angst, zu ertrinken. Einer, der sogar den Grundtauchschein (im Schwimmbad) absolviert hat, schreibt: "Ich habe tierische Angst, in Seen und Flüssen schwimmen zu gehen. Wenn ich keinen Halt mehr unter den Füßen habe oder mich was an den Beinen streift, dann will ich einfach nur noch raus."

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"Ich kenne diese Angst nur zu gut", schreibt ein anderer User im Forum Talkteria. "Egal, ob an Badeseen oder sogar am Meer. Ich traue mich wirklich nicht weit hinein. Ich schwimme nur so weit, wie ich noch den Boden sehen kann."

Einig sind sich die Betroffenen meistens über die anfängliche Irrationalität der Angst. Eine schreibt sogar: "Ich denke mir dann immer, wie lächerlich das ist. Was sollen einem die Tiere denn tun?" Ein anderer schreibt: "Natürlich weiß ich eigentlich, dass ich im Prinzip keine Angst haben muss. Natürlich ist es eher unwahrscheinlich, dass in heimischen Badeseen irgendetwas Gefährliches lauert. Ich denke, dass das irgendwo auch ein wenig noch Urinstinkt ist."

"Ich glaube, es sind nur wenige Menschen, die diese Angst nicht kennen oder sich darüber hinweg setzen."

Einen interessanten Vergleich macht ein weiterer User: "Viele Menschen haben sehr große Angst vor der dunklen Nacht. (…) Die Angst geht bei jedem Schritt mit und sitzt ihnen im Nacken. Ihr Schritt wird immer schneller, bis sie zum Teil sogar laufen. Sie sind heilfroh, wenn sie wieder zu Hause sind. Diese Angst vor der Dunkelheit könnte der Grund sein, sich vor dem undurchsichtigen Wasser zu fürchten. (…) Ich glaube, es sind nur wenige Menschen, die diese Angst (vor dem tiefen Gewässer, Anm.) nicht kennen oder sich darüber hinweg setzen."

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Besonders schlimm sei dieses Gefühl im Meer. "Das Meer ist schwarz", erklärt einer. "Man sieht nicht, worin man schwimmt und gerade dann, wenn ich große Tiefen unter mir habe, male ich mir aus, was da so alles noch unter mir ist. (…) Auch, wenn es unwahrscheinlich ist, habe ich Angst vor diversen Tieren des Meeres. Da kann ich mich sogar furchtbar erschrecken, wenn ich einen Fisch spüre. Bewegungen unter mir deute ich als Gefahr."

Die Angst vor dem Meer hat sogar einen Namen: Sie heißt Thalassophobie und ist im englischsprachigen Teil von Reddit eine ziemlich große Sache. 160.000 Abonnenten tauschen sich im gleichnamigen Thread minütlich darüber aus, was ihnen alles am Meer Angst macht. "We strive to create a culture that celebrates the fear of the sea", steht in der Beschreibung.


Auch bei Vice: Ex Machina | Examining Our Fear of Artificial Intelligence


Offensichtlich wollen diese Leute nicht länger die Angst verschweigen, sondern sie durch das öffentliche Feiern enttabuisieren. Am furchterregendsten wird die Tiefe beschrieben, die auch in einem eigenen Subreddit "The Depths Below" (125.000 Abonnenten) gefürchtet wird. Thalassophobia – ist das wirklich ein echtes, erschreckendes Ding, wie BuzzFeed schreibt?

Abseits von der anonymen Online-Welt scheint das Problem in Österreich kaum bekannt zu sein. Weder bei der Österreich Werbung, in deren Interesse ein entspannter Badeaufenthalt liegt, noch beim Salzburger Psychotherapieverband (die Kärntner waren nicht erreichbar) hat man irgendwelche Erfahrungen mit diesem Thema.

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Ich rufe wahllos ein paar Psychotherapeuten durch, die "Angst- und Panikattacken" als Schwerpunkt listen oder an einem See eine Praxis haben. Nein, davon hätten sie noch nie gehört; höchstens vor der allgemeinen Angst, zu ertrinken. Eine Psychotherapeutin, Simone Wiedemann, nimmt sich dennoch länger Zeit, meine Fragen zu beantworten.

"Die Fantasie kann noch schlimmer sein als die ursprüngliche Angst."

"Menschen haben grundsätzlich Ängste vor allem Möglichen", sagt sie. In der Wirkung sowie im Umgang gebe es große Unterschiede. So müsse der Leidensdruck einer Angst für viele groß sein, um sie nicht mehr zu vermeiden. Das sei bei Schwimmen in Seen meist nicht der Fall. Anders formuliert: Die Angst vor tiefen Gewässern wird vielleicht deshalb nicht öffentlich angesprochen, weil man ihr in Mitteleuropa sehr gut aus dem Weg gehen kann – sowohl zeitlich (Sommer) als auch örtlich (Schwimmbad). Für jene, die dem Problem nicht aus dem Weg gehen können, empfiehlt sie eine klassische Angsttherapie oder eine Selbsttherapie in Form von Lese- und Schreibarbeit zum Thema. "Eigentlich so, wie Sie das in Ihrem Text machen", sagt sie.

Zu den Ursachen kann Wiedemann allgemein nichts sagen. Als ich das Beispiel eines Users erwähne (seine Mutter sagte ihm als Kind: "Schwimm da nicht raus, da ist es gefährlich"), stimmt Wiedemann zu: "Sätze in der Kindheit, die man zu dem Zeitpunkt nicht ganz versteht, können ohne Konkretisierung die Fantasie anregen – zum Beispiel 'Weil ich bei dir sein will, falls du müde wirst'." Diese Gedanken können sich erst auch viel später und plötzlich auswirken. "Die Fantasie kann noch schlimmer sein als die ursprüngliche Angst." Aber auch bei diesem Beispiel müsse man mit kausalen Schlussfolgerungen vorsichtig sein. So müsse man auch berücksichtigen, ob die Mutter selbst Angst vor dem Wasser hat und mit welcher Emotion und Tonalität sie die Sätze formuliert hat.

Wichtig ist Wiedemann zu betonen: "Man kann ein Problem und die Ausprägung einer Angst nicht messen. Es wäre eine Grenzüberschreitung, darüber zu urteilen. Wenn es ein Problem für die Person ist, dann ist es ein Problem."

Christoph auf Facebook und Twitter: @Schattleitner