Die Vorgeschichte
Auch bei VICE: Chaos in Chemnitz
Vor allem junge Männer kennen diese Angst wohl gut. Ich bin ihr jedenfalls schon öfter begegnet. Als ungefähr 13-Jähriger etwa verschlechterten sich meine Schulnoten drastisch, weil ich aufgrund meiner Kurzsichtigkeit die Zeichen an der Tafel nicht mehr erkennen konnte. Ich verheimlichte das in meinem Freundeskreis, erklärte meinen Eltern, dass ich keine hässliche Brille brauche und dachte nicht daran, mich von der letzten in die erste Reihe zu setzen. Zuzugeben, etwas nicht zu können – auch, wenn es eine sehr verbreitete, ziemlich harmlose körperliche Einschränkung ist –, lag mir fern.Heute will ich darauf scheißen. Ich habe keine Lust mehr, das Negative in mir für mich zu behalten. Ich habe keine Lust mehr, auf Hauspartys eine geile Geschichte nach der anderen zu erzählen, wenn das Gegenüber eigentlich wissen will, wie es mir geht. Ich habe keine Lust mehr, die lächelnde Fassade zu wahren, um meine Außenwelt mit meiner Wirklichkeit zu konfrontieren. Ich schreibe diesen Text, weil ich weiß, dass der gegenwärtige Umgang mit psychischen Krankheiten eine Depression noch beschissener macht als sie ohnehin schon ist."Zuzugeben, etwas nicht zu können, lag mir fern."
Der Kampf
"Du musst jetzt irgendwie zehn Stunden rüberbringen, bis du wieder schlafen kannst."
Die Ratschläge
Der Schmerz
Die Ärzte gaben mir fünf verschiedene Schmerzmittel, die mich benommen machten. Der Schmerz verschwand aber nicht. Alle ein bis zwei Minuten durchfuhr mich an einer fingerbreiten Stelle ein Schmerz, der sich wortwörtlich wie ein Messerstich ins Gehirn anfühlte. Ich schrie. Ich wollte mir die Haare ausreißen. Und ich dachte an die Leute im Mittelalter, die sich bei Kopfschmerzen die Schädeldecke aufbohren ließen, damit die bösen Geister den Kopf verlassen können."Ich würde an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch alles probieren."
Der Rückzug
Obwohl ich acht Tage nach der ersten lesegetriggerten Attacke wieder längere Sachen lesen konnte, war mein Vertrauen in mich nun ganz weg. Die Angst vor der wiederkehrenden Schmerzattacke und davor, mein Leben ohne meine Arbeit, die ich gern und gut mache, zu fristen, brach mich vollends. Ich hörte auf, mich mit Freunden zu verabreden, weil ich nicht wissen konnte, ob ich es am nächsten Tag überhaupt aus dem Bett schaffen würde. Ich hörte auf, meinen Wecker zu stellen, weil ich nicht zu wenig Schlaf (und damit eventuell stärkere Schmerzen) riskieren wollte. Ich beschloss, nur noch auf die Uni zu gehen, wenn ich mich gesund und sicher fühlte. Das waren die Tage, an denen ich irgendwann nachmittags aufwachte, sofort die Schmerzen überprüfte und dachte: "Scheiße. Sie sind immer noch da. Du musst jetzt irgendwie zehn Stunden rüberbringen, bis du wieder schlafen kannst."An besseren Tagen stand ich auf, zog mich an, packte mein Uni-Zeug … nur um es wieder auszupacken, mir wieder die Schlafsachen anzuziehen und durch die Wohnung zu rennen. "Soll ich auf die Uni? Soll ich nicht?" Ich ließ die Zeit verstreichen, bis es zu spät war, um noch rauszugehen. Dann hasste ich mich noch viel mehr. "Wieder einen Tag verschissen." Ich wünschte mir so sehr, meine Probleme wie damals als 14-Jähriger lösen zu können, als ich mein Handy mit voller Kraft an die Wand klatschte, weil es sich beim Öffnen von Anwendungen aufhängte. Mein Kopf gegen die Wand – das hörte sich irgendwie gut an."Meine Lebensplanung war Schall und Rauch. Ich roch nach Sozialfall."
Die männliche Depression
Dr. Armand Hausmann von der Klinischen Abteilung für Allgemeine Psychiatrie an der Universität Innsbruck hat dazu einen lesenswerten Essay geschrieben: "Frauen suchen Hilfe – Männer sterben!". Der zugespitzte Titel, der Suizid hauptsächlich als Folge von unbehandelter Depression sieht, hat einen faktisch wahren Kern. Laut Statistik Austria leiden Frauen zwei bis drei Mal häufiger an Depression als Männer. Die Suizidrate ist bei Männern allerdings zwischen drei bis zehn Mal so hoch wie bei Frauen. Hausmanns Schluss legt nahe: Depressive Frauen gehen zum Arzt, depressive Männer bringen sich um."Depressive Frauen gehen zum Arzt, depressive Männer bringen sich um."
Man könnte auch sagen: Ihnen wird mehr Raum für ihre Gefühle und emotionalen Schwächen zugestanden. Sie haben zum Beispiel kein Problem damit, sich bei Liebesg'schichten und Heiratssachen einen Mann zu wünschen, der sie beschützt (ich weiß, das sollten wir in einem anderen Kontext wohl auch diskutieren). Ein hilfsbedürftiger Mann hingegen gilt häufig immer noch als Weichei."Hilfesuche käme einem Statusverlust und einer Identitätsbeschädigung gleich"
Das Unwissen
Die Genesung
Nach dem ersten Termin schrieb ich meinen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen bei VICE, dass ich nicht wisse, wann ich wieder zurückkehren werde. Ich sagte alle Prüfungen an der Uni ab. Ich hörte auf, auf exotische Ärzte-Empfehlungen aus meinem Umfeld zu hören. Wenig später trennten sich meine damalige Freundin und ich. Ich brach den Kontakt zu Bekannten ab, denen ich eigentlich nur aus Höflichkeit zurückschrieb. Und ich entschuldigte mich bei ehemaligen Freundinnen und Freunden für mein Verhalten. Kurz: Ich tat mehrere Monate lang Sachen, von denen man während einer langen Dusche träumt."Dir geht’s nicht gut", sagte ich mir. "Du schaffst das nicht. Du schaffst das nicht. Du schaffst das nicht."
Ich verfluche diese Liste. Und ich verhexe alle Verlage, die aus einer schönen Leidensgeschichte einen inspirierenden Paulo Coelho basteln. Ich möchte keinen motivierenden Text schreiben oder jemanden inspirieren (zu diesem Thema empfehle ich den TED-Talk von Stella Young, "I'm not your inspiration"). Ich möchte für das Schlechte stehen. Ich glaube, wir haben zu viel Negatives, das zum Leben nunmal dazugehört, aus unserer Gesellschaft verbannt. Wir haben die stinkenden und blutverschmierten Schlachthöfe aus der Innenstadt in blickdichte Fabriken verfrachtet, Bettlern das Betteln in der Öffentlichkeit verboten, und dem Typen, dem es schlecht geht, haben wir alle schon mal gesagt: "Hör auf zu jammern. Das wird schon wieder."Das Problem an falschem Optimismus (ich würde ja eher Verdrängung dazu sagen) ist, dass es einen Teil der Wirklichkeit ausblendet. Eine Geschichte, die die Schwierigkeiten nur ganz kurz aufzählt, um dann über die Weisheit, die man daraus gewonnen hat, zu sinnieren, ist eine Pistole im Rücken all jener, die an der gleichen Krankheit leiden: Du musst etwas Positives aus dieser Zeit mitnehmen. Du musst etwas lernen. Du musst weiser und klüger werden. Du musst zumindest sportlicher oder dünner werden. Du darfst nicht einfach nur depressiv, schwach und unproduktiv sein. Ich sage: Doch, das darfst du."Ich möchte für das Schlechte stehen. Ich glaube, wir haben zu viel davon aus unserer Gesellschaft verbannt."
Wenn es dir nicht gut geht, nimm Hilfe in Anspruch. Schicke diese Links einem Freund oder einer Freundin, wenn du glaubst, ihm oder ihr könnte das in der Situation als Betroffener oder Angehöriger helfen.
Kriseninterventionszentrum, finanziert durch öffentliche Stellen und Spenden: Montag bis Freitag, 10 bis 17 Uhr unter 01/406 95 95, sowie Beratung – persönlich oder via Mail – und psychotherapeutische Intervention unter www.kriseninterventionszentrum.at.
Telefonseelsorge der katholischen und evangelischen Kirchen in Österreich: Rund um die Uhr, gebührenfrei und vertraulich unter der Nummer 142 sowie www.telefonseelsorge.at.
Suizid-Prävention des österreichischen Gesundheitsministeriums: Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote in den Bundesländern unter www.suizid-praevention.gv.at.
Das Österreichische Bündnis gegen Depression setzt sich mit anderen, europäischen Vereinen für eine bessere Diagnose und Behandlung depressiver Menschen ein und versucht, das Bewusstsein in der Öffentlichkeit – im Sinne einer Entstigmatisierung der Betroffenen – zu verändern: www.buendnis-depression.at.
Eine gute Freundin erzählte mir vor Kurzem, dass sie der Newsfeed von Facebook und Instagram frustriert. Dort glänze alles. Die Fotos seien so schön, die Beziehungen so perfekt und der Urlaub immer ein Traum. Sie hingegen wisse nicht, was sie jetzt nach ihrem Studienabschluss machen soll und ist seit einem halben Jahr arbeitslos. Eine andere gute Freundin hat vergessen, den Studienbeitrag zu bezahlen und muss deshalb wahrscheinlich mindestens drei Jahre länger studieren. Es macht sie verrückt, auf Facebook ausschließlich erfolgreiche Studierende zu sehen. Ihre Kolleginnen und Kollegen halten alle ihre Zeugnisse ins Internet und niemand schreibt darüber, die Prüfung verkackt zu haben.