Wie ich 7 Tage lang so viel Lebkuchen aß wie möglich und völlig verzweifelte
Foto: Flora Rüegg

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Wie ich 7 Tage lang so viel Lebkuchen aß wie möglich und völlig verzweifelte

Auf Redaktionskosten Süßes essen, was könnte schief gehen? Nun, wie sich herausstellt: viel.

Widerwillig schiebe ich mir einen Lebkuchen mit Vollmilchglasur in den Mund. Er schmeckt nach Zimt, Kardamom und zerstörten Träumen. Vor mir steht außerdem eine halbe Packung Mandelsplitterprinten, in der Küche wartet Spekulatius auf einen weiteren Moment der Schwäche. Während ich das süße Gebäck zerkaue, steigt langsam bittere Galle in meinem Rachen auf. Ich hasse alles. Meine Artikelidee, meine Kollegen, mein Leben. Vor allem aber hasse ich eins: Lebkuchen.

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"Ich würd so gern mal einen Selbstversuch für VICE machen", sagte ich nichtsahnend während unserer Themenkonferenz. "Wie wär's mit einer Woche so viel Lebkuchen essen wie möglich?" Der Plan: möglichst viele Mahlzeiten durch weihnachtliches Gebäck, vor allem Lebkuchen, ersetzen. Auf Redaktionskosten Süßes essen, was könnte schief gehen? Nun, wie sich herausstellt: viel.


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Tag 1: Faulheit

Bevor es losgehen kann, muss ich erstmal einkaufen gehen. Natürlich während der Arbeitszeit. Im nächsten Supermarkt stelle ich fest: Der hat noch gar keine Lebkuchen im Sortiment. Ebensowenig der nächste Laden drei Straßen weiter. Schwierig. Vor lauter Ungläubigkeit laufe ich alle Gänge zwei Mal ab. Doch tatsächlich: Das Weihnachtlichste, das ich finde, ist ein 20er-Pack Teelichter. Unverrichteter Dinge gehe ich zurück ins Büro. Und dann nach Hause. Ist ja schließlich nicht viel zu tun ganz ohne Lebkuchen.

Abends fällt mir plötzlich ein, dass ich ja immer noch Lebkuchen besorgen muss. So viel Aufwand hatte ich mir für den Artikel eigentlich nicht vorgestellt. Träge und genervt schleppe ich mich einen ganzen Kilometer zum nächsten Rewe. Als ich mit etwa drei Kilogramm Weihnachtsgebäck an der Kasse stehe und damit etwa die Hälfte des Kassenbands blockiere, sehen mich die anderen Kunden mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu an. Anfangs hatte ich noch Preise verglichen und möglichst günstig eingekauft, doch dann hatte ich keine Lust mehr und warf wahllos einfach alles in den Korb, das ich finden konnte.

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Tag 2: Wollust

Weil man sich ja ausgewogen ernähren soll, habe ich vielfältig eingekauft: Lebkuchen, Printen, Dominosteine, Spekulatius, Pfefferküsse und sogar Christstollen. Mit mehr Motivation als Blockflöten spielende Kinder am Weihnachtsabend beginne ich meinen Selbstversuch und gönne mir erstmal einen Lebkuchen zum morgendlichen Kaffee. Das Gebäck verklebt mir die Zähne. Der Lebkuchen ist noch weich, frisch und sanft zu mir. Ich will nie wieder etwas anderes schmecken.

Nach dem dritten Vollmilchlebkuchen und der vierten Tasse Kaffee bin ich satt und glücklich – zumindest für den Vormittag. Großzügig stelle ich einen großen Teller Lebkuchen in die Redaktionsküche. Die verwunderte Frage meines Kollegens danach, ob es was zu feiern gebe, quittiere ich mit strahlenden Augen. Das Leben, denke ich.

Zum Nachtisch schnabuliere ich zwei weitere Lebkuchen und freue mich schon aufs Nach-Hause-Kommen. Dort warten brav und treu ein paar Mandelsplitterprinten auf mich. Wer braucht schon einen Mann, wenn man auch mit Weihnachtsgebäck ins Bett gehen kann?

Tag 3: Habgier

Ich hatte am Vortag die Rechnung ohne meine verfressene Redaktion gemacht. Aussagen wie "Lebkuchen im September, du bist ekelhaft" und "Nein, das kann man doch erst an Weihnachten essen!" haben mich getäuscht. Das erste halbe Kilo Lebkuchen war bereits nach wenigen Stunden weg.

Glücklicherweise ist jetzt aber Wochenende und ich muss die heuchlerischen Visagen nicht sehen – und auch nichts mehr mit ihnen teilen. Während ich einen Schneemann aus weißer Schokolade auslöffele, der mit irgendeiner schwarzbraunen Schokocreme gefüllt ist (weiße Schokolade: sehr geil, dunkle Schokocreme: geht so; aber ich zieh's mir dennoch komplett rein), überlege ich, sicherheitshalber eine zweite Fuhre Lebkuchen und Spekulatius zu kaufen. Mehr ist mehr.

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Foto: imago | localpic

Tag 4: Völlerei

Mein Tag besteht aus Essen. Zum Aufwachen Lebkuchen auf Oplaten, für zwischendurch schokoladenglasierte Cashew-Nüsse in Zimt und Koriander, vorm Schlafengehen Spekulatius. Der Schauspieler Jared Leto musste mal für eine Rolle Dutzende Kilo zunehmen und tat das, indem er sich ganze Eisbecher in der Mikrowelle schmolz und dann trank. Ein bisschen so fühlt es sich an, rund um die Uhr Weihnachtsgebäck außerhalb der Adventszeit zu essen. Schmutzig. Aber auch ein bisschen geil.

"Mir ist erst nach dem dritten Lebkuchen aufgefallen, dass nicht Dezember ist", hatte mir eine Kollegin anvertraut. Jetzt fühle sie sich schmutzig. Ich kann das verstehen – aber meiner Gefräßigkeit tut das keinen Abbruch. Ganz ganz leise Bedenken schiebe ich auf die Seite. Man ist nur einmal jung, man muss die Feste feiern, wie sie fallen, YOLO. Die Cashews waren allerdings enttäuschend.

Tag 5: Neid

Als ich an diesem Montag aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich in der Küche ein unangetastetes Kilo Pfeffernüsse. Die sind so ein bisschen die Beilage unter dem Weihnachtsgebäck: Man kauft sie, um den Teller mit Keksen und Gebäck aufzufüllen, aber niemand geht in den Supermarkt und denkt sich: "Geil, Pfeffernüsse, die ess' ich gleich!" Außer ich natürlich, vier Tage zuvor.

Jetzt stehe ich vor dieser Packung pinker und weißer Abscheulichkeiten eines Lebkuchens und ekel mich. Ich will nicht mehr. Ich will wieder normal essen. Eine Packung Hummus, eine Pizza oder einen Ofenkäse. Neiderfüllt starre ich auf die Packung Gouda im Kühlschrank und denke sehnsüchtig an mein Toastbrot, während ich halbherzig an einem Spekulatius knuspere, um weiter beim Versuch zu bleiben. Warum ist alles so dermaßen süß? Die Pfefferküsse setze ich in der Redaktion aus wie einen Hund an der Tankstelle. Die Kolleginnen stürzen sich wie erwartet futtergeil drauf. Problem gelöst. Vorerst.

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Foto: Flora Rüegg

Tag 6: Eitelkeit

Kurz vor Ende meines Experiments fragt mich der Kollege, der sonst beruflich zu AfD-Parteitagen oder Mahnwachen für Hunde fährt, was ich eigentlich mit dem ganzen Lebkuchen mache. Nach kurzer Erklärung antwortet er: "Boah, das wäre mir zu hart." Auch ich denke langsam, dass ich einen großen Fehler begangen habe.

Bieryoga: Ein Selbstversuch

Mit unserer Fotografin muss ich Fotos für den Artikel schießen. Während ich auf sie warte, schiebe ich mir gedankenverloren Dominosteine in den Mund. Dabei mag ich die noch nicht mal mit ihrer widerlichen Geleefüllung. Was ist bloß aus mir geworden? Nach dem Fotoshooting werfe ich die angeknabberten Lebkuchen in den Müll und laufe mit einem weiteren Teller Gebäck durchs Gebäude, den ich unschuldigen Kollegen hinhalte. "Esst bitte, esst", sage ich und fühle mich gleichzeitig wie die Hexe aus Hänsel und Gretel sowie wie deren angefetteten Kinder.

Gefühlt habe ich elf Kilo zugenommen. Kann das sein? Ich traue mich nicht nach der Kalorienzahl von Lebkuchen zu googeln, finde aber einen Artikel, der fröhlich verkündet, dass man sogar mit Lebkuchen abnehmen könne. Diese Diät kann ich ja dann nach dem Selbstversuch starten. Falls ich mich je wieder an einen Lebkuchen traue.

Tag 7: Zorn

"Schreib das Fazit in den siebten Tag", sagt mir der Chefredakteur und fragt mich dann, ob es noch Lebkuchen gibt. Mir wird schon wieder schlecht. Es gibt kein Fazit. Es gibt nur Schmerz. Dieses wundervolle Gebäck, das bereits die alten Ägypter ihren Toten mit ins Grab legten, wurde mir fürs Erste komplett verdorben – und die Schuld daran trage allein ich. Mach' einen Selbstversuch, haben sie gesagt. Das wird spaßig, haben sie gesagt. OK, Quatsch, das habe vor allem ich gesagt.

Ich hasse diesen Artikel. Ich hasse meine Kollegen und meine Vorgesetzten, die mich in der Konferenz bestärkt haben, dieses Thema zu machen. Ich hasse Zimt, Kardamom, Nelke und alles, was auch nur ansatzweise nach Spekulatius riecht. Ich hasse Weihnachten, VICE und weiße Weihnachten. Vor allem hasse ich mich selbst.

Denn ich kann keinen Lebkuchen mehr sehen. Alleine der Anblick löst Übelkeit in mir aus. Der Gedanke an Spekulatius macht mir Kopfschmerzen und überhaupt schon das Wort Printen zu schreiben, macht Magenkrämpfe. Nichts ist mehr, wie es mal war. Mein Leben ist leer. "Kann man von zu viel Lebkuchen sterben?", google ich und werde enttäuscht: Nein, kann man nicht.

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