Nazi-Autobiografien
Montage: VICE || Hintergrund: imago | United Archives || Briefe: Hoover Institution | Standford University

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Politik

Hier erklären Nazis, warum sie Nazis wurden

1934 beschrieben über 600 Menschen, warum sie der NSDAP beitraten. Die veröffentlichten Nazi-Autobiografien sind aktueller denn je.

Sie habe sich sehr ausführlich über Politik informiert, schreibt Helen Radtke. Die Hausfrau saß auf Besuchertribünen von Landtagen und stand auf Marktplätzen herum, um Kundgebungen zuzuhören. Sie suchte nach einer Politik, die "national ist und doch auch für die ärmere Bevölkerung". Am Ende hatte sie sie gefunden: bei Adolf Hitler und der NSDAP.

So erklärt Helen Radtke ihren Parteieintritt in die NSDAP in einem Brief an den US-amerikanischen Soziologen Theodore Abel im Jahr 1934. Hitler war seit einem Jahr an der Macht, gewählt von Millionen Deutschen. 683 NSDAP-Mitglieder schildern Abel damals, warum sie Teil der Bewegung wurden. 584 der Briefe hat die Hoover Institution, eine Denkfabrik und Bibliothek der kalifornischen Stanford-Universität, jetzt online veröffentlicht. Die Briefe helfen auch, die Millionen Deutschen besser zu verstehen, die heute mit der AfD eine Partei wählen, die Begriffe wie "völkisch" wieder positiv besetzen möchte und in Wahlprogrammen von einer "einseitigen Konzentration auf zwölf Unglücksjahre unserer Geschichte" schreibt.

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1934 wollte Theodore Abel wissen, was die Menschen für den Nationalsozialismus begeistert hatte, genauer: was sie dazu motiviert hatte, in die Partei einzutreten, um andere zu begeistern. Seine Versuche, Leute zu interviewen, die bereits NSDAP-Mitgliedsausweise in der Kommode hatten, bevor Hitler Reichskanzler wurde, scheiterten allerdings – obwohl es 850.000 bis eine Million möglicher Gesprächspartner gab. So viele Parteimitglieder zählte die NSDAP Anfang 1933, je nach Quelle. So wie sich heute-show-Mitarbeiter als Russia Today-Reporter ausgeben, um mit Pegida-Anhängern zu sprechen, so ersann auch Abel eine List, um an sein Material zu gelangen: ein Preisausschreiben. 125 Reichsmark bot Abel dem Gewinner für die schönste und ausführlichste Beschreibung. Die Summe entsprach damals für über die Hälfte der Deutschen einem Monatsgehalt oder mehr. Sogar Joseph Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstützte die Aktion.

Manche Hitler-Verehrer reichten zwei, drei Seiten ein, mit Schreibmaschinenlettern oder in Sütterlinhandschrift beschrieben, andere füllten gleich zehn, elf, zwölf Blätter mit ihrem Nazi-Lebenslauf. Sie zu lesen, ist, als wäre man plötzlich mit halb Hitler-Deutschland auf Facebook befreundet, so viel geben die Absender über sich preis.

Die Briefe kommen aus Landau in der Pfalz oder Berlin-Neukölln. Ihre Absender haben den Ersten Weltkrieg mit- und überlebt – als Offiziere, Arbeiterinnen, Hausfrauen und Kinder. 1934 arbeiten sie als Justizsekretäre, Drogeriebetreiber, Lehrer, Spediteure oder Kumpel, einige sind Mitglied in der SA, andere in der SS. Keiner von ihnen hat heute einen eigenen Wikipedia-Eintrag und doch sind sie keine namenlosen Mitläufer, sondern Überzeugte der ersten Stunde, enthusiastische Wegbereiter des größten Unheils, das je von deutschem Boden ausging.

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"Betr. Lebenslauf eines Hitler-Deutschen"

1934 begrüßten viele noch den Sturz der ihnen verhassten Weimarer Demokratie. Bernhard Horstmann, Bergbauarbeiter aus Bottrop, acht Geschwister, schreibt über den entmachteten Reichstag und seine Abgeordneten: "Der Verrat an Volk und Vaterland feierte in diesen Tagen wahre Orgien." Einen Professor, der den Sinn des Ersten Weltkriegs infragestellt, nennt Horstmann einen "Volksvergifter". Schon vor der NSDAP hatte er sich bei einer nationalistischen Partei engagiert, der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung. Doch die wurde ihm schnell zu zahm.

Der Brief von Ernst Seyffardt aus Duisburg ist übertitelt mit: "Betr. Lebenslauf eines Hitler-Deutschen". Er wolle dazu beitragen, "dass in unserem Vaterland wieder Ruhe und Ordnung einkehrt". Ein weiterer Briefeschreiber, Hans Borgwardt, fordert: "Zerstörung der Parteien! Weg mit den Klassen! Wahre Volksgenossenschaft!" Hitlers Bewegung wird Ende der 20er zu einem Sammelbecken für politische Ordnungsliebhaber, Menschen, die von der Demokratie enttäuscht sind, und Mitglieder rechtsradikaler Parteien. Unvereinbarkeitslisten wie heute bei der AfD gibt es noch nicht.

Damals ging der Widerstand gegen die Rechten deutlich über heutige Antifa-Proteste und Hashtag-Kampagnen hinaus. Kommunisten lieferten sich Straßenschlachten mit den Schlägertrupps der SA, Sozialdemokraten riefen zum Boykott von Geschäften von NSDAP-Mitgliedern auf. Doch gerade diese Ablehnung der anderen, schreiben die Briefeschreiber, mache die Partei für sie so attraktiv. Der Beamte Friedrich Jörns schreibt: "Auch deshalb, weil Adolf Hitler und seine Bewegung in der Presse fürchterlich heruntergerissen und bekämpft wurden, fand ich an dieser Bewegung ein besonderes Interesse." Wäre Jörns 2018 in der AfD, er würde seine Gegner wohl als "undemokratisch" bezeichnen.

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"Die Juden sind unser Unglück, das ist klar"

Ein anderer Beamter namens Schwarz misstraute nicht nur den Zeitungen, sondern auch Juden und Polen. Aus Hitlers Mein Kampf will er von der "verhängnisvollen Maulwurftätigkeit dieser Weltverderber", der Juden, gelernt haben. Persönlichen Kontakt mit Juden hat er allerdings nicht. Dass Polen wiederum allgemein "unzuverlässig" seien, kann Schwarz nicht beweisen, schreibt er, aber sein Gefühl sage es ihm. Von Gefühlen und Verschwörungstheorien, die durch Propaganda zu "Wahrheiten" werden, handelt auch der Brief der Krankenschwester Lisi Paupié: "Die Juden sind unser Unglück, das ist klar." Die rechte Filterblase besteht vor 1933 aus der Wochenzeitung Der Stürmer, Mein Kampf und nationalsozialistischen Wahlkampfveranstaltungen; Juden und Kommunisten sind die Geflüchteten und Muslime der Weimarer Republik.

Historiker wie Katja Kosubek haben einige Briefe in den letzten Jahren neu ausgewertet. Das ARD-Magazin Panorama hat zudem drei Schauspieler einige der Texte vorlesen lassen. Auch, weil die Formulierungen "alte Parteien", "fürchterliche" Presse, "Volksvergifter", "Verrat an Volk und Vaterland" sehr an das Vokabular der AfD erinnern, an Begriffe wie "Altparteien", "Systemmedien" und "Volksverräter". Ähnlich wie die NSDAP macht die AfD heute Stimmung mit Schlagworten und einer Mischung aus Fakten, Vorurteilen und gefühlten Wahrheiten – fast 73 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Welcher Nazi am Ende das Preisausschreiben gewann, ist nicht überliefert, wer den Krieg verlor, schon.

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