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Europawahl 2014

Die Frühlings-Reise zu einer weißen Wand in der Ukraine

Vor ein paar Wochen erzählte mir meine Freundin von einem seltsamen Projekt: Studenten aus der gesamten EU wurden nach Lemberg in die Ukraine eingeladen, um dort eine Wand zu bemalen und den „Europe-Day" zu feiern.

Alle Fotos von Marzena Wolowicz, Yaroslaw Tymchyshyn und Jakob Steiner

Vor ein paar Wochen erzählte mir meine Freundin von einem Projekt, das mir äußerst seltsam vorkam: Studenten der Bildenden (für alle Nicht-Wiener: Akademie der Bildenden Künste) wurden vom ÖAD (für alle Nicht-Akademiker: Österreichischen Austauschdienst) eingeladen, nach Lemberg zu fahren und dort eine Wand zu bemalen. In der Ukraine—beziehungsweise in jenen Gegenden, wo dieses Land noch als Staat existierte—sollte „Europe-Day" gefeiert werden.

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So auch in Lemberg: Die Stadtverwaltung hatte vom ÖAD gesponsert ein paar Graffitis von einer Wand an einer Straßenbahnhaltestelle entfernt. Man erwartete sich nun eine kalkulierbare „künstlerische Intervention." Künstler aus den ausgewählten Partnerstädten Lembergs sollten eine Art Postkartenmotiv ihrer Heimatstadt auf die Wand sprühen. Ich fand das interessant und wollte hin; in der Hoffnung, im Lokalen und vor dieser weißen Lemberger Wand ein wenig klarer sehen zu können. Abseits von Montagsdemos, ZiBs und Online-Postings.

Bei Lemberg denke ich an das Buch „Radetzkymarsch" von Joseph Ropth und an die alte Doppelmonarchie, an eine wilde Mischung aus Ukrainern, Russen, Juden und Kosaken. Ich denke an Graz, weil die Fassaden irgendwie sehr danach ausschauen, und ich denke an kyrilIische Schilder; aber auch an das Auseinanderbrechen des Gemischten und das Ende einer ganz anderen Art von Doppelmonarchie: An Zagreb im Jahre 1991, an die Ziehkräfte von Europäischer Gemeinschaft, Sozialismus und Nationalismus und an alles, was damals kaputt ging und mir als Kind in der Form von Krieg auf die Fernsehmattscheibe geklatscht wurde.

Aber eine Reise nach Lemberg im Jahr 2014 ist keineswegs eine Reise vor den TV-Bildschirm meiner Kindheit. Es ist friedlichst: „Menschen backen Brot, Menschen essen Brot", so wie meine indische Vermieterin einmal vor zehn Jahren die dümmlich Frage beantwortete, wie es bei ihr in Indien so sei. Man sieht am Bahnhof abgekämpfte Bauern, sehr wenig Bettler, einen Mittelstand auf den Einkaufsstraßen. Der Stadt scheint es bescheiden gut zu gehen. Eine Frau, wie übrigens alle Straßenbahnfahrer in Lemberg, fährt mich ins Zentrum. Adrett in Polyester-Bluse erduldet sie das kleinstädtische Verkehrschaos und die zu harten, abgenutzten Weichen. Im Führerstand einer Straßenbahn „Made in Praha" aus einem anderen, hinweggefegten Europa. Ein anders vereinigtes Europa, dessen Spuren man gleichsam ausgemisteter Möbel im Keller, an den neuen EU-Rändern findet, oder auch in Berlin-Marzahn oder im Zentrum von Bratislava.

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Im Zentrum von Lemberg dann die Präsidentenwahl und Infostände: Kleine Zelte von Parteien auf dem Hauptplatz vor der Oper. Ein Abbild der slawischen Evita Peron namens Julia Timoschenko. Gegenüber zwei Buben vom Rechten Sektor, lächelnd, in martialischen Schwarzhemden, Springerstiefeln und Oberlippenflaum. Julia Timoschenko schaut von der Zeltplane hinüber—jetzt ohne den völkischen Haarkranz, mit dem sie berühmt wurde, ohne Parteilogo oder gar einem abgedruckten Parteinamen. Nur ihr Porträt. Eine weiße Heldin, geboren aus den Leiden der Janukowitsch-Herrschaft.

Gegenüber wieder die Jugend, aufgewachsen mit faschistoiden Freiheitskämpfern und deren Stammtisch-Historisierung. Erklärungen einer Großeltern-Generation, von denen freilich viele nach Sibirien deportiert wurden, unter dem Banner Stalins, den sie nun ein bisschen weiter im Osten weiter ungestört feiern wollen. Wegen ihrer Großeltern und deren Kampf für einen anderen „Ismus."

Die Rosa Luxemburg Stiftung in Belgrad schreibt über die jetzige Ukraine, zu der auch dieses alte Lemberg gehört: „Die Gründe der Misere wurden ethnisiert. Landesteile, die sich auf eine unterschiedliche Historie beziehen, sehen verschiedene Ursachen für die Krise und kommen dadurch zu anderen Lösungen." Damals wie heute sorgen eine soziale Krise und ein starkes Gefälle der Wirtschaftsleistung für eine Verschiebung von Verantwortungen und Loyalitäten. In Belgrad kennt man die Ausgangslage der Ukraine eben nicht nur aus dem Fernsehen.

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Auf der Graffiti-Wand zum Europatag fehlen die Stadtmotive von Sankt Petersburg und dem georgischen, europäischen Kutaissi. Ein Motiv von Lemberg wird eilig hinzugesprüht. Man hätte fast sich selbst vergessen, so groß ist der Drang Richtung Westen. Ich frage: „Ist ,Europatag' automatisch ,EU-Tag?'" Ich werde gebeten, bei der Pressekonferenz keine politischen Fragen zu stellen; Es gehe heute nur um Kunst, so eine Lemberger Projektmitarbeiterin mit blauen Luftballons mit gelben Sternen. Der österreichische Verantwortliche relativiert. Der Verfechter von Diskurs und Neugierde an diesem Ort ermuntert mich sogar.

Die abendliche Trinkrunde danach endet in der Touristenattraktion „Kryjivka". Die Bar ist eine Art Partisanen-Disneyland. Mein junger, ukrainischer Begleiter führt, ein bisschen peinlich berührt und darüber hinweglächelnd, den Zweizeiler von Karl Marx fort: „Zuerst kommt die Geschichte als Tragödie, dann als Farce … und am Ende als Business!" Bei diesem Business hier isst man mit Feldbesteck und neben den Uniformen der Unabhängigkeitskämpfer, die sich zwischen Hitler und Stalin für eine selbstständige Ukraine stark machten—und auch für Pogrome gegen Juden und Polen verantwortlich waren. Zirka 80.000 Mitbürger starben ihretwegen. Heute sind diese Kämpfer und ihr Anführer Stepan Bandera wie auch die alte Synagoge nostalgisches Foto-Motiv für Touristen.

In der Stadt wankt mir ein angetrunkener Vertreter der klerikal-faschistischen „Banderisten-Partisanen-Freiheitskämpfer" mit MP entgegen. Ich denke an die italienischen Souvenier-Weine mit Mussolini-Konterfei, an Studenten in DDR-Grenzer-Montur vorm Brandenburger Tor und an meine blutende Nase im Jahre 2005: zehn Jahre nach dem Krieg, als ich in einer Bar in Zagreb die Band Elektricni Orgazm hören wollte. Mit ihrem Hit „Ganz Jugoslawien spielt Rock'n'Roll." „Ganz" war in einem bereits geteilten Jugoslawien und seiner Nachfolgestaaten zu einer Provokation geworden.

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Hier in Lemberg spüre ich jedoch keine Aggression. Eher Stillhalten und Hoffen. Die Busse zum Maidan fahren nicht mehr, die Spendenkassen in den Kirchen für Medikamente stehen nicht mehr. Sie standen bereit für die Vorkämpfer einer „zivilisierteren", hier im Sinne von: „europäischeren" Ukraine. In der EU. War diese Gleichsetzung richtig?

Eingeleitet und aufgebaut wird diese neue Ukraine, zumindest politisch, von den Jugendlichen in den Partei-Zelten am Schewtschenko-Boulevard. Die Wahlkämpfer wissen kaum etwas von einander—oder von den jeweils anderen Parteien. Die Frage „Will der Rechte Sektor in die EU hinein?" verebbt genauso wie „Wenn Poroschenko gewinnt, wird er dann Privatisierungen durchführen wollen?" Ein anwesender Fotograf, Jaroslaw, sagt mir: „Die meisten in diesen Infoständen sind einfache Jugendliche, die etwas Taschengeld verdienen wollen. Keine Aktivisten."

Er ist in meinem Alter und sieht so viele Probleme im Umgang seiner Mitbürger mit Politik und Geschichte, dass er sie gar nicht alle aufzählen kann. Gleichzeitig vertraut er mit der Ruhe eines Pensionisten auf die Zeit und die Erfahrungen einer Zivilgesellschaft. Die Zeit wird kommen, wo ein faschistischer Bandera-Kult nicht mehr einfach für Touristen ausgeschlachtet werden wird. Davor kommen aber noch viele Wahlen.

Auf die Frage an den Rechten Sektor, ob sie Faschisten seien, kommt gleichzeitig ein beschwichtigendes „Nein" der Jugendlichen und ein aus der Seele überzeugtes „Ja" des anwesenden, älteren Infostandbesuchers. Seine fehlende Zahnreihe blitzt hervor, als er den Mund zum „Jaaa" öffnet.

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Ich weiß, dass die Lemberger ein Anrecht auf eine schnelle Zugverbindung Richtung Westen haben. Ich weiß auch, dass wir für diese Züge nicht die Kohle der Ostukraine brauchen—geschweige denn die alten, in adrette Uniformen gezwängten Schlafwagen-Schaffnerinnen neben dem Samowar, die am liebsten einfach eine sichere Rente hätten. Auch wenn diese eher von einem starken Mann namens Putin garantiert wird als von den bisherigen Oligarchen der Ukraine.

Noch herrscht überall Unsicherheit und die große Frage, was nach den Uniformen kommen soll. Die neue Ukraine hat den Mief satt und sucht nach einem modernen, demokratischeren Gewand. Welche Designer es entwerfen dürfen und ob man damit Soja-Latte trinken gehen kann oder eher mit neuen schwarzen Springerstiefeln auf eine dritte Halbzeit in den Donbass fährt, wo bereits und immer noch Milizen und Freischärler sterben, wird an der Urne entschieden.

So wie es nach den ersten Hochrechungen aussieht, dürfte man sich gegen jenen Militarismus und Faschismus entschieden haben. Die rechte Partei „Swoboda", die auch mit der deutschen NPD freundschaftliche Bande pflegt, kommt auf nur einen einsamen Prozentpunkt. Der rechte Sektor (prawy sektor) ebenfalls. Das von Russland beschworene, und gebrauchte, Gespenst „Faschismus" ist weg. Nun bleibt das Argument der geopolitischen Eingrenzung, aber Julia Timoschenko, die ihr Land so schnell wie möglich in die NATO bringen wollte, liegt auch abgeschlagen auf 13 % zurück.

Trotzdem: Das sind nur die Ergebnisse einer zur Wahl gehenden Minderheit. Auch im Westen der Ukraine lag die Wahlbeteiligung bei ca 30 %. Manche ziehen anscheinend immer noch den Maidan dem Urnengang vor, wenn es darum geht, der Ukraine ein neues Gewand zu verleihen. Dabei wollen viele gar kein neues Gewand, sondern nur Ruhe und eine sichere Altersversorgung nach Jahrzehnten der Unsicherheit. Und die Möglichkeit, ohne Visum über die Grenze zu reisen. Die Ukraine und besonders seine Grenzregionen brauchen mehr als einen Europe-Day. Die bemalte weiße Wand hat mich ein wenig umdenken lassen.

Der Autor bedankt sich für die Unterstützung dieses Beitrages bei Andreas Wenninger vom ÖAD-Kooperationsbüro in Lemberg sowie der Abteilung für Internationale Projekte der Stadt Wien.