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Sotschi 2014: Es herrscht immer noch Terrorgefahr

In der Gegend von Sotschi wimmelt es nur so von Leuten, die Russland gerne einen eigenen 11. September bescheren würden. Eine Zusammenstellung der gefährlichsten Gruppen.

Bis jezt ist in Sotschi zwar noch nichts passiert, aber die Gefahr eines terroristischen Anschlags besteht weiter. Als Wladimir Putin bekanntgab, dass er die Stadt Sotschi für die Olympischen Winterspiele 2014 ins Rennen schicken würde, hat sich mehr als ein Beobachter an seinem Kaffee verschluckt. Nicht nur, dass das subtropische Sotschi, als eine der schneelosesten Städte Russlands, für Winterspiele schon klimatisch eine ziemlich riskante Wahl ist. Die Stadt liegt auch sehr nah am Nordkaukasus, einer Gegend, in der es nur so von Leuten wimmelt, die Russland gerne einen eigenen 11. September bescheren würden.

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Als Ende letzten Jahres in Wolgograd (dem früheren Stalingrad), eine Reihe von Selbstmordanschläge insgesamt 170 Menschen in den Tod rissen, wurde diese Gefahr ziemlich konkret. Spätestens seitdem schwingt bei der Berichterstattung über die Winterspiele in Sotschi stets der Gedanke an Terroranschläge mit. Zuletzt warnten die Amerikaner vor Terroristen, die Sprengstoff in Zahnpastatuben schmuggeln.

Um das zu verhindern, arbeiten die Russen bereits seit Monaten daran, Sotschi zu einer Festung zu machen. Um die 100.000 Sicherheitskräfte aus Polizei, Armee und FSB werden im Einsatz sein, unterstützt von Drohnen, U-Booten und einem Abhörprogramm, von dessen Umfang die NSA nur träumen kann. Die Kosten für den Sicherheitsaufwand während dieser zwei Wochen belaufen sich auf über anderthalb Milliarden Euro.

Es wird also alles getan, um die Spiele selbst zu sichern. Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass die Feinde Russlands in einer anderen Stadt zuschlagen und dort versuchen, so viel Zerstörung und Tod zu verursachen, dass den Russen der Geschmack an Olympischen Spielen für immer vergeht. Damit niemand sagen kann, er sei nicht gewarnt worden, haben wir einen Überblick der gefährlichsten Elemente aus dem Kaukasus zusammengestellt.

DAS KAUKASISCHE EMIRAT

Großes Aufsehen erregte eine Videobotschaft im Juli, in der ein bärtiger Mann im Kampfanzug erklärte, die Winterspiele müssten „um jeden Preis verhindert“ werden, weil sie „auf den Knochen unserer Vorfahren, auf den Knochen unzähliger Muslime, die in unserem Gebiet entlang des Schwarzen Meeres gestorben und begraben sind“ abgehalten würden. Der Sprecher war der Emir des Kaukasischen Emirats Doku Umarow, der „russsische bin Laden“.

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Das Kaukasische Emirat geht direkt aus zwei Jahrzehnten brutaler Unterdrückung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung durch die russischen Armee hervor. Als die Tschetschenen, die unter Stalin knapp einen versuchten Völkermord per Deportation überstanden hatten, 1990 ihre Unabhängigkeit erklärten, marschierte die russische Armee in die Republik ein. Zwei Kriege und 80.000 tote Zivilisten später, hatte sich der nationale Freiheitskampf in einen religiösen Krieg verwandelt, in dem lokalen Islamisten Seite an Seite mit ausländischen Dschihadisten kämpfen. Osama bin Laden (der echte) hatte bereits 1997 begonnen, die Extremisten im Nordkaukasus zu unterstützen.

Die russische Armee macht sich in Tschetschenien beliebt. Foto von Maxim Marmur via Wikimedia Commons

Mit der Ausrufung des Kaukasischen Emirats 2007 wurde diese Metamorphose offiziell. Mit der logistischen und ideologischen Unterstützung des globalen Dschihadismus (und Geld aus Saudi-Arabien) entwickelte sich das K.E. zu einer der effektivsten Terrororganisationen der Welt. Seit seiner Gründung vor sieben Jahren, hat die Gruppe insgesamt 2500 Angriffe durchgeführt, davon 54 Selbstmordattentate. Ihr zweiter Anschlag auf den Moskau-St.-Petersburg-Nevsky-Express kostete 136 Menschen das Leben. 2011 riss ein Selbstmordattentäter 195 Menschen am Moskauer Domodedoyo-Flughafen in den Tod.

Die Tschetschenen vom K.E. haben übrigens einen speziellen Grund, das Timing der Olympischen Winterspiele als Beleidigung zu empfinden: Die Abschlusszeremonie am 27. Februar wird genau auf den Tag fallen, an dem vor 70 Jahren die Deportation fast des gesamten tschetschenischen Volkes nach Zentralasien begann.

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DAS „VILAYET DAGESTAN“

Der Anschlag auf den Bostoner Marathon. Foto via Aaron Tang

Neben Tschetschenien umfasst das Kaukasische Emirat noch fünf weitere Provinzen, von denen sich Dagestan in den letzten Jahren zur aktivsten, erfolgreichsten und tödlichsten aller Lokalgruppen gemausert hat. 2012 allein verübte die Gruppe 364 Anschläge und töteten dabei geschätzte 286 „Ungläubige“. Sie versuchten sogar, den Eurovision Song Contest in Baku anzugreifen und dabei den aserbaidschanischen Präsidenten zu ermorden, was in letzter Sekunde verhindert wurde. Tamerlan Tsarnaev, der ältere der beiden Boston-Bomber, verbrachte 2012 sechs Monate in Dagestan. Gordon Hahn vom Center for Strategic and International Studies ist der Meinung, dass er dort nicht nur Kontakt zu Anführern des Vilayet suchte, sondern dass diese ihn möglicherweise zu dem Anschlag angestiftet haben.

Die Anschläge in Wolgograd letztes Jahr wurden höchstwahrscheinlich in Dagestan geplant und von Mitgliedern der dagestanischen Gruppe ausgeführt. Eine Stellungnahme des Vilayet Dagestan bezeichnete die Angriffe als „eine Antwort auf die Gräueltaten, die die Ungläubigen im Kaukasus verübt haben.“ Weiter: „Was das Töten von Frauen und Kindern angeht, ist es unter der Scharia erlaubt, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie von den Männern zu trennen.“

DIE „SCHWARZEN WITWEN“

Opfer der Geiselnahme in Beslan. Foto via Aaron Bird.

Die Dagestanis haben nicht nur kein Problem damit, Frauen und Kinder zu töten, sie setzen auch schon seit Jahren Frauen als Selbstmordattentäterinnen ein. Sogenannte „Schwarze Witwen“, die Frauen von getöteten dagestanischen Kämpfern, waren an den Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und in der Schule in Beslan 2004 beteiligt.

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Die schwarzen Witwen ziehen aber auch alleine in den Krieg: 2010 sprengten sich zwei von ihnen in der Moskauer U-Bahn in die Luft und töteten 135 Menschen. Und mindestens einer der jüngsten Angriffe in Wolgograd wurde von einer weiblichen Selbstmordattentäterin verübt.

Letzten Monat veröffentlichten die russischen Autoritäten die Fotos von drei jungen Frauen, die angeblich die Fackelübergabe angreifen wollten. In Sotschi hängen immer noch überall Plakate mit dem Bild einer Frau namens Ruzanna Ibragimova, von der behauptet wird, sie befände sich „in der Gegend von Sotschi“.

DIE TSCHERKESSISCHE „APSUA QAIDA“

Eine andere russische Armee macht sich bei einem anderen kaukasischen Bergvolk unbeliebt. Gemälde von Alexandr Koslow via Wikimedia Commons.

Wenn die Winterspiele für die Tschetschenen schon ein düsteres Jubiläum darstellen, dann gilt das für das Volk der Tscherkessen umso mehr. Im 19. Jahrhundert ermordete oder deportierte die zaristische Armee über Jahrzehnte fast die gesamte tscherkessische Bevölkerung des Kaukasus—die Operation, die als „der erste Genozid des modernen Europa“ bezeichnet wird, fand 1864 mit einem Massaker in Sotschi ihr Ende. Viele der Opfer liegen genau in den Hügeln begraben, auf denen in den nächsten zwei Wochen Ski- und Snowboardfahrer ihre Bahnen ziehen werden.

Bis jetzt hat Putin sich kategorisch geweigert, auf die Proteste der (heute hauptsächlich in der Türkei angesiedelten) tscherkessischen Gemeinde in irgendeiner Weise einzugehen. Vertreter der Tscherkessen verurteilen den Terror in Wolgograd. Eine obskure Gruppe namens „Apsua Qaida“, über die im englischsprachigen Netz fast nichts zu finden ist, hat aber angekündigt, sich während der Spiele rächen zu wollen. Wie glaubhaft die Bedrohung ist, scheint aber kaum jemand abschätzen zu können. Sie erhalten aber Unterstützung aus einer ungewohnten Ecke: von den „Mudschahedin-Hackern“.

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DIE CYBER-GOTTESKRIEGER VON ANONYMOUS CAUCASUS

Anonymous Caucasus beim Verlesen ihrer Botschaft. Via YouTube.

Die „Mudschahedin-Hacker“ von Anonymous Caucasus haben sich vorgenommen, die Verbrechen Russlands am tscherkessischen Volk vor der ganzen Welt anzuprangern—und zwar mittels Cyber-Krieg. Dazu haben sie Operation: Payback Sotchi angekündigt, in deren Rahmen sie „Aktionen“ durchführen wollen, um „die russische Regierung daran zweifeln zu lassen, ob sie in Zukunft noch einen Fuß in das Land unserer Väter setzen möchte.“

Im Oktober hat AC es immerhin geschafft, fünf russische Großbanken abstürzen zu lassen. Als das russische IT-Sicherheitsunternehmen Kaspersky Lab den Banken zu Hilfe eilte, schalteten sie das auch gleich ab. Warum die Cyber-Gotteskrieger glauben, dass Allah sie vor dem FSB schützen wird, erfährst du in unserem ausführlichen Interview auf Motherboard.

Internationale Jihadisten

Ayman al-Zawahiri, Foto via Andres Pérez

Das Kaukasische Emirat bekommt auch von Kampfgenossen aus der ganzen Welt Unterstützung: Letzten Monat hat sich Abu Muhammad al-Maqdisi, der Hauptideologe der al-Qaida, mit einer Fatwa zu Wort gemeldet, in der er im Vorfeld der Spiele Selbstmordattentate empfahl. Die Russen, sagte er, „wollen unbedingt Sicherheit und Stabilität in ihrem Land zeigen … diese Sicherheit zu erschüttern, ist ein notwendiges und erklärtes Ziel.“

Sein Schüler und jetziger Anführer von al-Qaida, Ayman al-Zawahiri, lobte den tschetschenischen Dschihad im Januar mit den Worten „für Tschetschenien kämpfen ist ein weitere Seite des ewigen Dschihad, um wahre Gerechtigkeit im Namen Allahs zu erlangen.“ Es ist also absolut nicht von der Hand zu weisen, dass aus der ganzen Welt junge und motivierte Dschihadisten angereist kommen, um sich einen Namen zu machen.

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Rückkehrer aus Syrien

via VOA News

Es ist kein Geheimnis, dass ein ganzer Haufen Kämpfer aus dem Kaukasus die Reise nach Syrien angetreten haben, um Dschihad auch einmal im Warmen zu üben. Dort kämpfen sie im Moment vor allem in zwei Gruppen: der Dschund al-Khalifah, die als Teil der Jabhat al-Nusra gegen die Regierung kämpft, und der Aish al-Muhadschirin, deren vorheriger Anführer jetzt sogar die Kämpfer des Islamischen Staats im Iraq und Syrien (ISIS) in ganz Nordsyrien anführt.

Wenn Veteranen dieser Vereine sich für die Winterspiele wieder auf den Weg nach Hause gemacht haben sollten, dann wären das doppelt schlechte Nachrichten: Erstens dürften sie ein oder zwei Jahre syrischen Bürgerkriegs ziemlich kampferprobt gemacht haben. Und zweitens warnen einige Sicherheitsexperten seit ein paar Wochen vor der Möglichkeit, dass tschetschenische Mudschahedin von der syrischen Regierung gestohlenes Sarin-Gas mitgebracht haben könnten. Wenn man wissen möchte, was passiert, wenn sie es bei den Olympischen Winterspielen freisetzen, muss man sich nur die Bilder aus Syrien vom letzten August ansehen.

Heißt das, man sollte lieber einen weiten Bogen um Sotschi machen? Die Amerikaner haben jedenfalls schonmal Flugzeugträger in Stellung gebracht, um ihre Staatsbürger und Sportler im Notfall evakuieren zu können. Aber wie gesagt, das olympische Areal selber wird wahrscheinlich der sicherste Ort sein, an dem man sich während der Spiele aufhalten kann. Nur in der Umgebung könnte es durchaus passieren, dass eine dieser Gruppen Erfolg hat. Aber Putin wollte die Spiele ja unbedingt in Sotschi haben.