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Die Zürcher Hare-Krishnas lehrten mir, dass man Yoga auch essen kann

Ich habe einen Tag lang Mantras gesungen, vegetarisch gegessen und mich mit Mönchen unterhalten. Spiritueller geworden bin ich dennoch nicht.
Titelbild von Garry Knight

Ich gehöre zu einer Generation und Kultur, in der Religion etwa so bedeutend ist wie die Pensionskasse. In der Kirche war ich zuletzt wegen einer Beerdigung und auf spirituelle Gedanken komme ich höchstens, wenn ich einen emotionalen Aussetzer habe. Was nicht heissen soll, dass ich kein Interesse an Spirituellem habe. In Zürich steht ein Hare-Krishna-Tempel, der jeden Sonntag seine Pforten öffnet. Auch Ungläubigen wie mir. Was dort drin geschieht und wie die Leute dort so drauf sind, ist den meisten ein Rätsel. Ich habe der Hare-Krishna-Bewegung einen Besuch abgestattet und fand es ziemlich geil.

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Religiöse Menschen waren mir schon immer suspekt. Egal ob Christen, Muslime oder Juden: Ich werde den Eindruck nicht los, dass sie in einer Kindheitsphase steckengeblieben sind, in der man an Märchen und Wunder glaubt. Der Glaube peppt den tristen Alltag auf, er gibt Hoffnung in harten Zeiten und am wichtigsten: Er konstruiert Sinn. Ich verstehe also durchaus, warum man sich einer Glaubensgemeinschaft anschliesst, nur habe ich keinen Glauben gefunden, an den ich glauben kann. Die Hare-Krishna-Anhänger stellte ich mir bis jetzt als angenehme Menschen vor. Dies tat ich aber nicht aus Erfahrung, es war einfach eine spontane Reaktion, die aufkam, wenn ich von ihnen las.

Alle Fotos von Nora Osagiobare

Im Inneren des Tempels (der durch seine extravagante orangerote Farbe verrät, dass er nicht einfach irgendeine Villa ist) ist es voll mit Menschen, vorwiegend Tamilen. Da so viel los ist, hat der Mönch am Empfang keine Zeit für mich und ich sehe mich in Socken um. Ein schöner Parkettboden, Pflanzen, Bilder mit Gottheiten an der Wand und der Geruch von würzigem Essen. Nach kurzer Zeit kommt ein Mann auf mich zu und fragt, ob ich Hunger habe. Ich bejahe und er führt mich in die Küche im unteren Stock. Dort lädt er mir Pasta, Reis und indisches Essen auf einen riesigen Blechteller. Nach der Hälfte stopfe ich mir den Tellerinhalt ohne Appetit in mich rein, da ich mich nicht traue, etwas wegzuwerfen.

Aus dem Nebenraum kommt Musik, es hat wohl eine Zeremonie angefangen. Der Boden ist voll mit Menschen auf Sitzkissen. Vor ihnen sind zwei Musikanten: eine Frau mit einem Instrument, das ich noch nie gesehen habe (ein Mix aus Handorgel und Klavier) und ein Mann mit Trommel. An der Wand hängt eine Art Tuch, auf dem das Mantra der Hare-Krishna-Bewegung in goldenen Lettern steht: Hare Krsna Hare Krsna, Krsna Krsna Hare Hare, Hare Rama Hare Rama, Rama Rama Hare Hare. Das wird dann auch gesungen. Die Musikanten stimmen ein Lied an und singen das Mantra vor. Dann machen es ihnen die anderen gleich. Abgesehen von der Melodie der Musik ändert sich an der Zeremonie nicht viel, aber das Singen macht mir ziemlich Spass. Ich weiss nicht wie ich das beschreiben soll, ohne als Hippietusse abgestempelt zu werden, aber es herrscht eine recht entspannte und schöne Stimmung in diesem Raum und ich fühle mich wohl.

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Nach dem Singen spreche ich mit dem Mönch Divyasimha-dasa, einem zierlichem Mann Ende Zwanzig. Es gibt schon wieder ein üppiges Essen und wir setzen uns zu einer Gruppe von Mönchen. Ich werde neugierig betrachtet und man stellt mir viele Fragen. Ich kann mich fast nicht aufs Essen konzentrieren. Nach Ewigkeiten habe auch ich meinen Teller leergegessen und muss jetzt endlich eine Zigarette rauchen. Das sage ich Divyasimha-dasa, der meint, das sei kein Problem, auf dem Grundstück sei das Rauchen aber verboten.

Zurück im Tempel erwartet mich Divyasimha-dasa gemeinsam mit seiner Frau. Sie schlafen in verschiedenen Zimmern, weil sie irgendwie noch nicht wirklich verheiratet sind. „Ich weiss, das mag für euch altmodisch klingen", sagt er mir. Wir gehen in den oberen Stock in ein freies Zimmer. Dort steht, wie im Gebetsraum, eine lebensgrosse Skulptur des Gründers der Bewegung. Divyasimha-dasa und seine Frau verneigen sich, bevor sie sich auf den Boden setzen.

Ich will von ihnen wissen, warum sie Hare-Krishna beigetreten sind. „Ich habe nach einem Lifestyle gesucht. Ich wollte nicht nur an wöchentlichen Meditationen teilnehmen", meint Divyasimha-dasa. Inzwischen ist er seit acht Jahren dabei. Seine Frau war früher Christin und ging regelmässig in die Kirche. „Irgendetwas fehlte mir aber, ich war auf der Suche nach Antworten." Sie habe ausserdem schlechte Angewohnheiten gehabt wie Rauchen, Trinken und Fleisch essen. Normal für mich, für die Hare-Krishna sind das Laster.

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„Wir haben gerade gegessen. Man könnte sagen, dass man das ja jeden Tag mindestens drei Mal tut. Unseren Prozess des Essens nennt man Yoga. Yoga bedeutet, sich verbinden. Wenn man das Essen mit Krishna verbindet, dann merkt man nicht nur, wie gut das Essen sondern auch wie wundervoll Krishna ist. Man meditiert. Jede Aktivität, duschen, Zähne putzen, zur Arbeit gehen, alles wird zu Yoga, einer spirituellen Erfahrung. Die Momente werden tiefer und geben einem die Überzeugung, weiter zu machen."

Im Tempel wohnen nur zirka zehn Mönche und Nonnen. Der Rest der sonntäglichen Besucher sind Menschen, die nur einen Teil der Lehre in ihr weltliches Leben integriert haben. „Als Mitglied der Hare-Krishna-Bewegung ist man sich in jeder Aktivität Krishna bewusst. Man kann Krishna nicht nur im Tempel sehen sondern überall, in jedem Atom", sagt seine Frau, „Das Kult-Image ist weg. Sogar Sekten-Experten in der Schweiz sehen die Hare-Krishna-Bewegung als etwas, das seinen Platz in der Gesellschaft hat. Wir sind der offizielle Repräsentant des Hinduismus in der Schweiz. Viele Inder und Sri Lankis, die in der Schweiz leben, finden bei uns ein Zuhause und einen Ort der Verehrung."

Es mag sein, dass sich die Hare-Krishna-Bewegung mit der Zeit verändert hat oder der Tempel in Zürich vergleichsweise liberal ist. Trotzdem liest man häufig, dass die Verehrung des Gründers der Bewegung, A. C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada, ins Unermessliche geht und seine Schriften bis heute unangefochten bleiben. Gewisse seiner Zitate sind ziemlich sexistisch und radikal.

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Wie sich das fast 40 Jahre nach seinem Tod auf die Hare-Krishna-Bewegung auswirkt, ist umstritten. Dennoch sind die Hare-Krishnas bei der Infosekta nach wie vor aufgelistet und obwohl nicht eindeutig von einer „Sekte" die Rede ist, werden Gefahren nicht ausgeschlossen.

Nach vier Stunden verabschiede ich mich. Ich habe trotz Gesprächen mit Mitgliedern und auch nach einem kurzen Vortrag eines Wandermönchs nicht wirklich verstanden, woran diese Menschen glauben. Wahrscheinlich werde ich das auch nie, aber das spielt irgendwie auch gar keine Rolle. Sie meinten, ich sei jederzeit herzlich willkommen, auch unter der Woche. Obwohl das vielleicht verdächtig nach sektentypischen Anwerbetaktiken klingt: Ich glaube, sie meinen es aufrichtig.

Nora auf Twitter: @nora_nova_

ViceSwitzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Garry Knight; Flickr; CC BY 2.0