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Warum wir so oft ein schlechtes Verhältnis zu unseren Nachbarn haben

Ihr streitet euch wegen letzter Nacht oder den Kindern. Dabei kennt ihr euch doch gar nicht. Warum es so schwierig ist, ein guter Nachbar zu sein.
Foto: Leonid Mamchenkov | flickr | CC BY 2.0

Es gibt bestimmte Verhältnisse in unserem Leben, die wir weitestgehend mit einer großspurigen Ignoranz pflegen. Unsere Nachbarn fallen darunter. Ich bezweifle, dass heute noch wirklich viele Menschen auf die "gute alte Nachbarschaft" anstoßen. Eher hört und liest man täglich von dieser Kuriosität namens Nachbar, der unser Leben durch Lärm, lästige Gerüche und das ungefragte Hin- und Herrücken des Fahrrads im Keller erschwert. Wenn wir sie denn überhaupt kennen.

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Der Trend geht seit einiger Zeit dazu, dass man sich mit seinen Nachbarn auf Online-Portalen zusammenfindet. Sonst wissen wir nicht viel über die Menschen, mit denen wir uns die Straße, eine Hausnummer, teilweise sogar die Wände teilen. Nur, dass der Typ aus der WG im Erdgeschoss sich schon zum dritten Mal in der Woche Pizza bestellt hat oder die Tochter vom Nachbarn aus Tür 9 anscheinend schon wieder nicht in die Badewanne möchte. Und das wissen wir natürlich auch nicht, weil wir mit irgendjemanden von ihnen wirklich reden, sondern weil wir wie unfreiwillige Stalker durch die Wände dabei zuhören, wie andere ihr Leben leben.

Das Verhältnis, das du zu den Nachbarn in deinem Wohnhaus pflegst, könnte man meistens eher als missgünstig und wenig gönnerhaft bezeichnen. Wenn du eine Party veranstalten möchtest, klingelt dein Nachbar. Wenn du ausschlafen willst, sind die Nachbarskinder am Wochenende schon um 7:00 Uhr munter und veranstalten über deinem Bett einen Springseil-Marathon.

Jeder vierte Österreicher hat seinen Nachbarn schon mindestens einmal von seiner eher ungemütlichen Seite kennengelernt; die Hälfte aller Streitigkeiten wurde dabei durch Lärmprobleme verursacht. Es hat schon fast etwas Leidenschaftliches, wie wir uns über die kleinen Fehltritte des Nachbarn aufregen können. Entweder sind sie zu spießig oder selber zu laut, zu fremd oder zu nähebedürftig und immer irgendwo zwischen Ted Bundy und Ned Flanders.

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Es gibt keine Beziehung, die so schnell wegen Nichtigkeiten zu eskalieren droht. Eskalationen, die von absurden Tipps wie man seinen Nachbarn am effektivsten ärgert, bis hin zum Totschlag führen können. Aber warum ist die Beziehung zu unserem Nachbarn oft derart geladen? Warum ist unser Verhältnis oft so unberechenbar, dass man überhaupt nicht einschätzen kann, ab wann nicht mehr der verärgerte Nachbar, sondern die Polizei klopft?

Doch im Gegensatz zur eigenen Familie und den KollegInnen will man an dieser—zugegebenermaßen unfreiwilligen—Ausgangssituation meistens gar nichts ändern. In einer Großstadt wünscht man sich meistens die Anonymität, die Privatsphäre im eigenen Heim. Immerhin ist es sowieso ein Irrglaube, dass wir uns in unseren eigenen vier Wänden ausleben können, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt. Es scheint, als vergessen wir sehr schnell, dass unser Zuhause keine undurchdringlichen Mauern hat.

Oder es interessiert uns einfach nicht, meint auch Rechtsanwalt Alexander Illedits, der sich mit vielen nachbarrechtlichen Fällen beschäftigt; "Es wird nicht mehr Rücksicht genommen oder viel weniger auf die Nachbarschaft Rücksicht genommen als vielleicht in der Vergangenheit. Die Rücksichtnahme bleibt aufgrund von verstärktem Egoismus im Hintergrund." Allerdings rechnen wir dann oft nicht damit, dass unsere Lebensgewohnheiten durch unsere eigene Rücksichtslosigkeit für den Nachbarn oft sehr transparent werden.

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Wieder 4x vom Nachbar wach getrampelt worden. Darum hab ich die Zeit genutzt und an meinen Anwalt geschrieben. Mal sehen, was der dazu sagt.

— Celynn (@celynn01)8. August 2016

Es klingt gruslig aber in den meisten Fällen erkennt dein Nachbar deine besten Freunde schon beim Gang zu deiner Tür, weiß, in welchen Online-Shops du bestellst, wenn er dein Paket entgegennimmt und kann genau sagen, welche Musik du am liebsten (zu laut) hörst. Er weiß, ob du rauchst, wann du schlafen gehst und warum du dich mit deinem Partner streitest.

Der Kriminalpsychologe Thomas Müller sieht diese sehr enge aber ungewollte Beziehung auch als eigentlichen Hintergrund für die meisten Nachbarschafts-Eskalationen. Es ist eben nicht der Apfel, der in diesem Fall zu weit vom Stamm und aus dem Nachbarschaftsgrundstück hinaus fällt.

"Nachbarschaft ist dieses besondere Verhältnis: Jemand ist nahe an mir dran. Er ist nicht weit weg, aber er ist auch nicht irgendwo in meinem Haus. Er hat die Möglichkeit zu beobachten, die Möglichkeit in meinen Garten zu schauen. Er hat die Möglichkeit die Menschen, die mir nahe stehen aus meiner Familie, anzusprechen oder ihnen etwas anzutun. Diese Situation führt dann dazu, dass ein Apfel das Fass zum Überlaufen bringt", erklärt der Kriminalpsychologe und Profiler.

Deinen Nachbarn und dich trennt gerade mal eine Wand. Foto: Dennis Skley | flickr | CC BY-ND 2.0

Eskalation heißt aber nicht notwendigerweise, sich gegenseitig die Autoreifen aufzuschlitzen oder sich böse Zettel an die Tür zu hängen. Auch wer versucht bei Gericht oder durch die Polizei zu seinem Recht zu kommen, kann für Szenen sorgen, die im deutschen TV-Nachmittagsprogramm als "Zoff am Gartenzaun" oder „Höllische Nachbarn" verfilmt werden. Und da sind die gestohlenen Gartenzwerge oft der geringste Verlust, den man hinnehmen muss. Der Rechtsanwalt Alexander Illedits berichtet zum Beispiel von einem kuriosen Fall, der sich in Niederösterreich zugetragen hat:

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"Da hat ein alteingesessener Niederösterreicher, der dort keine neue zugereisten Nachbarn haben wollte, von 6:00 Uhr früh bis 22:00 Uhr am Abend Radio Burgenland gespielt. Der hat das im Garten mit einem Transistorradio aufgedreht. Um 6:00 Uhr oder 7:00 Uhr hat er das Radio aufgedreht und an den Zaun zu den Nachbarn hingelegt. Um 21:00 Uhr oder 22:00 Uhr hat er es dann wieder mitgenommen." Die beeinträchtigten Nachbarn, Illedits' Klienten, haben schließlich auf Unterlassung geklagt, weil sie der Meinung waren, dass es sich dabei um eine ortsunübliche Beeinträchtigung handelte.

"Ortsüblichkeit" ist das juristische Argument, mit dem Nachbarn seit Jahren erfolgreich ihre Umwelt tyrannisieren können.

"Das Gericht hat entschieden, dass das sehr wohl eine ortsübliche Beeinträchtigung ist und dass man das nicht macht oder nicht machen sollte", sagt Illedits. "Allerdings hat es auch geurteilt, dass es keine wesentliche Beeinträchtigung des Nachbargrundes ist. Daraufhin wurde die Störung nur intensiver. Der Nachbar hat das Urteil vergrößert ausgedruckt und sich an den Zaun gehängt, damit auch die anderen Nachbarn sehen, dass er im Recht ist."

Das Nachbarrecht ist nämlich auch nicht die Lösung aller Probleme. Im schlimmsten Fall beginnt der wirkliche Kleinkrieg erst nach dem Prozess. Die Erfolgsquote von Menschen, die als sogenannte "Störer" Klagen abwehren, ist zudem höher. Die, die sich gestört fühlen, werden mit Paragraf 364, Absatz 2 abgespeist: "Ortsüblichkeit" heißt es da. Ein Argument, mit dem Nachbarn seit Jahren erfolgreich ihre Umwelt tyrannisieren können.

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Die Hüter des Gesetzes haben in vielen Situationen unabsichtlich die Streitigkeiten nur noch verschlimmert. Auch, wenn die Partygäste bereits gegangen sind oder der Nachbar den überstehenden Ast abgesägt hat, wird kräftig weitergestritten. Manchmal ist es ein bisschen wie im Kindergarten, wo man nur darauf wartet, den anderen verpetzen zu können, weil man ihn nicht mag. Oder wenn man einfach weiter Blödsinn macht, weil die Erzieherin dem Kind nicht glaubt, was einen da gerade verpetzt hat.

Der Unterschied ist nur, dass wir im Kindergarten nicht leben müssen und dort auch nur teilweise übernachten. In seinem Zuhause sollte man das schon können, oder gleich ausziehen. Aber wie sorgt man also dafür, dass sich nachbarschaftliche Verhältnisse wieder bessern?

Ein Anfang wäre es, sich an die Regeln zu halten. Ja, man verdreht leicht die Augen, wenn man sich das Regelwerk des frischbezogenen Wohnhauses durchliest. Regeln findet man in jungen Jahren nun einmal nicht cool. Aber zu sagen, dass es einem ja egal sein kann, wer die Nachbarn sind und man deswegen nur auf sich selbst Rücksicht nimmt, wird auf langfristige Sicht auch nicht helfen—außer man steht auf das Drama und den Kontakt zu Rechtsanwälten. Eigentlich kann man die Nachbarschaft nämlich auch als ein positives Gut betrachten, als weiteren Teil des menschlichen Zusammenlebens.

"Wenn man sich im Klaren darüber ist, dass die Nähe aufgrund der örtlichen Gegebenheit nicht auch automatisch eine emotionale Nähe ist, dann kann eine Nachbarschaft auch jahrzehntelang gut funktionieren", meint der Kriminalpsychologe Müller.

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Nachbarschaftskonflikte sind schwierig, weil die wahren Konflikte gar nicht an der symbolisch überwuchernden Hecke liegen.

Die Stadtgeografin Yvonne Franz rät dazu, auch mal außerhalb der eigenen vier Wände die Kuriosität "Nachbar" zu erkunden. Dass in der Stadt "gewisse Orte zur Verfügung gestellt werden, wo man ein nachbarschaftliches Verhältnis pflegen kann—auch außerhalb der eigenen vier Wände. Orte des sozialen Miteinanders, die sich außerhalb der vier Wände des Wohnraumes abspielen." Es ist also alles eine Frage der Interaktion.

Zu Lernen, sich seinem Nachbarn gegenüber wohlzufühlen ist so ähnlich, wie mit fremden Leuten nackt Baden zu gehen. Man muss sich zumindest teilweise entblößen und die eigene Komfortzone verlassen. Nachbarschaftskonflikte sind schwierig, weil die wahren Konflikte gar nicht an der symbolisch überwuchernden Hecke liegen. Vielmehr liegt es am Wesen der Nachbarschaft, dass wir zusammengewürfelt mit fremden Menschen unsere Privatsphäre ausleben wollen.

Das heißt aber nicht, dass das Zusammenleben nicht funktionieren kann. Man muss seinen Nachbar nur ähnlich sehen wie einen Mitbewohner. Den liebst du auch nicht durchgängig gleich stark—aber immerhin zahlt er einen Teil der Miete und putzt manchmal. Dein Nachbar wird nicht immer nach deinem persönlichen Tagesrhythmus handeln, aber immerhin deine Pakete annehmen und dir vielleicht mal Zucker leihen, wenn du keinen mehr hast.


Titelbild: Leonid Mamchenkov | flickr | CC BY 2.0