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Was an Einbrüchen mit Betäubungsgas wirklich dran ist

Angeblich soll auch der Formel-1-Fahrer Jenson Button von einem solchen Vorfall betroffen gewesen sein. Wir sind dem Mythos vom Schlafgas nachgegangen.
Menschenwerden angeblich in kleinen Räumen mit Narkosegas betäubt (Symbolbild)

Jedes Jahr zu Ferienbeginn, wenn die ersten Wohnmobile Richtung Süden rollen, häufen sich Berichte über mysteriöse Überfälle und Einbrüche in die fahrenden Wohnungen. Die Täter kommen in der Nacht, wenn die Reisenden bereits schlafen. Besonders abgesehen haben sie es auf Wohnmobile, die an Tankstellen, Raststationen und Campingplätzen in dunklen Ecken parken.

Manche Urlauber müssen sich daher noch vor dem ersten italienischen Morgenkaffee damit beschäftigen, dass Bargeld und andere Wertsachen aus dem Wohnmobil gestohlen wurden, während sie darin schliefen.

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Immer wieder meinen Betroffene, dass sie betäubt wurden, weil sie sich nicht anders erklären können, wie sie den Einbruch nicht mitbekommen haben können. Irgendwie muss es den Tätern gelungen sein, Narkosegas einzuleiten—vielleicht über ein gekipptes Fenster, die Klimaanlage, oder das Belüftungssystem.

In vielen Campingforen wird vor Überfällen mit Narkosegas gewarnt. Screenshot via tx-board.de

Mittlerweile scheint sich der Einsatz von Betäubungsgas bei nächtlichen Einbrüchen aber nicht mehr nur auf abgestellte Wohnmobile zu beschränken. Zum Beispiel berichteten im August 2015 mehrere Medien, dass bei einem Einbruch in die Ferienvilla von Formel-1-Pilot Jenson Button ebenfalls Narkosegas gegen den Rennfahrer und seine Frau eingesetzt worden sein soll.

Bis vor Kurzem stand ich diesen Berichten sehr skeptisch gegenüber, habe mich aber auch nie weiter damit beschäftigt. Dann bin ich vor knapp zwei Wochen mit Freunden in die Toscana auf Urlaub gefahren und wir wurden schon in der ersten Nacht ausgeraubt.

Weil die Klimaanlage in manchen Zimmern des ziemlich im Nirgendwo gelegenen Hotels nicht funktionierte, ließen mehrere Gäste die Balkontüren offen. Darunter auch drei Freunde. Am nächsten Tag fehlten meinen Freunden insgesamt 800 Euro, aus zwei anderen Zimmern wurden eine Uhr und ebenfalls Bargeld entwendet. Insgesamt waren acht Personen betroffen. Alle hatten während des Diebstahls im Zimmer geschlafen. Bemerkt hat niemand etwas. Keiner ist aufgewacht, als die Diebe das Zimmer ausräumten. Wie kann das sein?

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In diversen Onlineshops wie Amazon oder ebay werden sogar "Narkosegasmelder" angeboten.

Doktor Harald Andel ist Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeine Intensivmedizin, sowie Professor an der MedUni Wien. Er erklärt mir, dass Einbrüche mit Narkosegas theoretisch tatsächlich möglich sind. "Zum Beispiel mit Kohlenmonoxid. Das ist geruchlos, billig herzustellen und blockiert den Sauerstofftransport. Dadurch kommt es zur Bewusstlosigkeit. Wird die Zufuhr dann aber nicht sofort gestoppt kommt es zum irreversiblen Hirn- und Organschaden", so der Experte.

Jemanden mit Kohlenmonoxid zu betäuben, um ihn dann auszurauben, ist also theoretisch möglich, aber extrem gefährlich und laut Doktor Andel eher unwahrscheinlich. Hinzu kommt die Frage des Raumvolumens. Während die Betäubung mit Gas in einem Auto oder Wohnmobil vorstellbar ist, wird es in einem Hotelzimmer oder einer Wohnung schon schwieriger. "Das wäre nur mit entsprechend dimensionierter Klimaanlage denkbar", erklärt Andel. Die war ja aber im Zimmer meiner Freunde kaputt.

Während für Harald Andel die Verwendung von echten Narkosegasen wie Sevofluran oder Isofluran aufgrund ihres Preises und des stechenden Geruchs nicht in Frage kommen, wäre für den Mediziner alternativ die Verwendung von Aerosolen möglich. "Allerdings sind auch Aerosole teuer und nicht ohne weiteres zu bekommen", so Andel.

Foto: Unsplash | pixabay | CC0 Public Domain

Ein solches Aerosol-Gas-Gemisch kam etwa bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002 zum Einsatz. Nachdem die Geiselnahme durch tschetschenische Seperatisten bereits zweieinhalb Tage andauerte, starteten russische Spezialeinheiten einen Befreiungsversuch, indem sie vermutlich ein Halothan-Gemisch in das Ventilationssystem des Theaters pumpten, das Gebäude Minuten später stürmten und die betäubten Geiselnehmer erschossen. Allerdings starben bei dem Befreiungsversuch auch mindestens 129 Geiseln, die meisten von ihnen durch Vergiftungen aufgrund des eingeleiteten Gases.

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Tatsächlich lässt sich Halothan mit Hilfe von Bitcoins und einem leicht dubios wirkenden indischen Onlineshop relativ einfach auch nach Österreich bestellen. Allerdings kosten bereits 10 Injektionsfläschchen des inhalativen Anästhetikums umgerechnet knapp 700 Euro. Ob sich das für einen Einbruch, bei dem sich hauptsächlich Bargeld in unbekannter Höhe erbeuten lässt lohnt, ist zumindest fraglich.

Screenshot des dubiosen Onlineshops

Abgesehen von der medizinischen und finanziellen Seite gibt es auch noch einige weitere simple Argumente, die gegen den Einsatz von Narkosegasen bei Einbrüchen sprechen. So wäre etwa die Dosierung dann sehr schwierig, wenn sich im Raum sowohl Erwachsene als auch Kinder befänden. Ist die Dosis zu hoch, ergibt sich ein tödliches Risiko für die Kinder. Ist sie zu niedrig, besteht die Gefahr, dass die Erwachsenen noch nicht richtig betäubt sind.

Der Einbrecher müsste sich außerdem auch selbst vor dem Gas schützen und der Raum geschlossen sein. Des weiteren haben die meisten Narkosegase Nach- und Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Herz-Kreislauf-Störungen oder Muskelzittern. Gerade wenn eine medizinische Betreuung nach einer Betäubung also ausbleibt, würde man nach dem Aufwachen nicht nur den Diebstahl bemerken, sondern auch feststellen, dass mit dem eigenen Körper etwas nicht in Ordnung ist.

Es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall, in dem der Einsatz von Narkosegas nachgewiesen werden konnte.

Auch unter Kriminalisten gilt der Einsatz von narkotisierenden Substanzen bei Einbrüchen oder Raubüberfällen als sehr unwahrscheinlich. "Wir haben etwa ein bis zwei solcher Fälle im Jahr", erklärt die Sprecherin des Bundeskriminalamtes Silvia Strasser gegenüber VICE. "Allerdings handelt es sich bei diesen Fällen auch nur um die subjektiven Aussagen der Opfer. Es ist uns kein Fall bekannt, wo der Einsatz von irgendwelchen Betäubungsgasen nachgewiesen werden konnte", so Strasser.

Auch in Kärnten, wo es laut Kleine Zeitung zumindest 2012 zu mehreren Überfällen mit Narkosegas gekommen sein soll, weiß man bei der Polizei nichts davon. "Es gab in den vergangenen Jahren einige wenige Verdachtsfälle. Allerdings hat sich bei den nachfolgenden Ermittlungen die Verwendung solcher Mittel nicht bestätigt", sagt Polizeisprecher Thomas Payer gegenüber VICE.

Bei den Narkosegas-Geschichten handelt es sich vermutlich eher um eine Urban Legend unter Wohnmobilfahrern, die irgendwann den Weg in die Medien fand und sich seither von Pool-Liege zu Pool-Liege weiterverbreitet, als um reale Vorfälle. Warum es trotzdem immer wieder zu Einbrüchen kommt, die von den Schlafenden unbemerkt bleiben, kann nicht allgemeingültig erklärt werden. Manchmal spielt dabei das chemische Gemisch Ethanol eine bedeutsame Rolle. Aber auch die Müdigkeit nach langen Autofahrten oder das ungewohnt heiße Klima können ausschlaggebend sein. Am wahrscheinlichsten ist aber ein gesunder, tiefer Schlaf und ein äußerst dreistes, professionelles Vorgehen der Täter. Myth busted oder so.

Scheibt Paul auf Twitter, was ihr so im Urlaub erlebt habt: @gewitterland